Carl Hilty

Schlaflose Nächte


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Schrift, solche einzelnen Gedanken zu veranlassen und eine Anregung zu geben, die man nicht immer selber finden kann. Daher sind nur Gedanken aufgenommen, die für schlaflose Nächte passen und meistens sogar selbst die Frucht solcher Nächte sind. Es ist das Zweckmäßigste, einen einzigen guten Gedanken zu erfassen und darüber möglichst ruhig nachzudenken. Es dürfen aber solche Gedanken bei aller Anregungsfähigkeit dennoch nichts Fantastisches enthalten, das nicht am Tag auf seine Realität und Nüchternheit nachgeprüft werden könnte. Leider haben wir sehr wenige Bücher dieser Art, und selbst die bekanntesten Gebete, die sie einigermaßen vertreten sollten, sind nicht immer ganz der Situation entsprechend. Sogar das »Vaterunser« hat nicht in allen Fällen des Leidens die unmittelbare Kraft wie ein anderes Gebet, das ebenso gut ein »Gebet des Herrn« ist und das mitunter besser zu dem Moment passt und immer Wirkung hat.

      Das alles müssen natürlich auch diejenigen beachten, die Kranke pflegen oder mit ihnen wachen, wobei sie oft keinen rechten Begriff von ihrer ganzen Aufgabe besitzen. Sie müssten den schlaflos Liegenden aus seinen Gedanken herausbringen, sachte ablenken von unnützen Erinnerungen an die Vergangenheit oder von quälenden Zukunftssorgen, und sie müssten seinem Geist möglichst helfen, sich zu großen und freudigen Ideen aufzuschwingen, bei denen man gerne wacht.

      Die Freudigkeit ist es ja vornehmlich, die der jetzigen Generation fehlt, selbst ansonsten vortrefflichen Leuten. Doch es ist schwer, ihnen den wirklichen Grund mit dem richtigen Namen zu bezeichnen, weil sie es immer übel aufzunehmen pflegen. Es ist stets ein Stück Eigenliebe und Eigenwillen, das sie daran hindert, oder Müßiggang, sei er vornehmer oder geringer Art. Vollendeter Gottesgehorsam ist die Bedingung der Freudigkeit, und an dieser Freudigkeit lässt sich jener Gehorsam untrüglich von jedermann erkennen.

      Eine solche Freudigkeit, die mit dem deutlichen Gefühl der Gnade und Nähe Gottes verbunden ist, kann auch ein schwer leidender und schlafloser Mensch oft plötzlich empfinden, und zwar in so hohem Maße, dass ihm darüber alles Leiden und namentlich alle Schlaflosigkeit gleichgültig wird und er ein ganz anderes Leben in sich spürt, das mit dem gewöhnlichen, erkrankten, kaum noch im Zusammenhang steht. Wer es nie erfahren hat, wird es kaum glauben, aber viele Zeugen leben dafür. Und selbst die Medizin der Zukunft wird es nicht vermeiden können, diese freudigen Stimmungen für ihre Zwecke zu Hilfe zu rufen und dem »psychologischen Moment« in der Krankheit eine mindestens ebenso große Mitwirkung bei der Heilung beizumessen wie den mechanischen Heilmitteln, die bloß auf das Körperliche im Menschen berechnet sind.

      Bereits heute ist die Medizin dahin gelangt, dass sie in der Kräftigung des gesamten Organismus, in der Erhöhung seiner Lebenskraft, die Voraussetzung erblickt zur Wiederherstellung einzelner angegriffener Organe, zum Beispiel der Lungen. Sie muss nun auch die Stärkung des inneren Menschen zu Hilfe nehmen und kommt dann vielleicht noch dazu, an die Möglichkeit dessen zu glauben, was ein moderner Arzt die »Begnadigung« nennt, nämlich das Eingreifen einer höheren Macht in den Verlauf der Krankheit. Dann wäre die edle Heilkunst dem geisttötenden Materialismus entronnen, der ihr seit einem halben Jahrhundert das Vertrauen der leidenden Menschheit in zunehmendem Maße entzogen hat.

      II.

      Daraus ergibt sich (wenigstens für mich), dass die Schlaflosigkeit nicht immer ein Unglück ist, ebenso wenig wie die Krankheit, die sie gewöhnlich verursacht.

      Dies vorausgeschickt, darf man sich aber dennoch mit der Frage beschäftigen, wie sie abzuhalten sei. Denn, wie ein deutscher Dichter sagt: »Die Nacht ist himmlisch und ein göttlich Wunder, die schönste aber ist, die man verschläft.« Als Regel und für gewöhnliche Zeiten bleibt das richtig.

      Um Schlaflosigkeit zu vermeiden, ist es zunächst wichtig, die Nachtruhe nicht mit aufregenden und unruhigen Gedanken zu beginnen, sondern mit möglichst stillen und guten sowie mit Frieden im Herzen. Das ist das beste aller Schlafmittel. Wie das nun zu erzielen sei, ob mit einer leichten Arbeit, einer freundlichen Unterhaltung oder einer guten Lektüre (die aber etwas mehr als Zeitungslektüre ist) das wird sehr auf die Individualität ankommen. Sicher ist nur, dass eine sehr ernsthafte Arbeit, die viel Nachdenken erfordert, oder überhaupt Arbeit bis tief in die Nacht hinein nicht unmittelbar vor dem Schlafengehen vorgenommen werden sollte. Gleiches gilt für jede sorgenvolle Beschäftigung, ganz besonders etwa Rechnerei und dergleichen. Dem Schlafe ebenso wenig förderlich ist die gewöhnliche Geselligkeit, die mit viel Essen und Trinken oder vielem und dabei ziemlich leerem Gerede verbunden ist, sowie das Theater, das auch leicht eine Überreizung des Gehirns herbeiführt.

      Die künstlichen Schlafmittel sind alle, ohne Ausnahme mehr oder weniger schädlich und nur im Notfall und nach ärztlicher Konsultation zu gebrauchen. Ich rechne zu diesen Mitteln auch die alkoholischen Getränke. Dagegen kann nicht bloß ein zu voller, sondern auch ein zu leerer Magen die nächste Ursache der Schlaflosigkeit sein. Wenn man gar keinen Schlaf finden kann, ist es überhaupt viel besser, Licht zu machen, sogar ein wenig aufzustehen, möglicherweise etwas zu essen, was leicht verdaulich ist, und sich erst nach einer gewissen Beruhigung wieder hinzulegen.

      Natürlich gilt alles Vorstehende zunächst nur für diejenige Schlaflosigkeit, deren Ursache nicht eine bestimmte Krankheit ist. Aber es wird sich in der Zukunft sicherlich als wahr erweisen, dass man selbst die Heilung von Krankheiten durch eine gehobene, kräftige Stimmung des Geistes sehr erleichtern kann und darauf größere Rücksicht nehmen sollte als bisher. Diese geistige Nachhilfe ist unentbehrlich; in den Kranken selbst muss eine Kraft der Gesundung der äußeren medizinischen Hilfe entgegenkommen.

      Diese Kraft lässt sich, wo sie nicht vorhanden ist, durch keine Ratschläge oder Aufforderungen »sich zusammenzunehmen« herbeiführen und, wie die tägliche Erfahrung zeigt, auch durch keine Philosophie oder geistige Kultur. Letzteres versagt gerade bei Gebildeten oft gänzlich, sobald sie völlige Kraftlosigkeit in sich empfinden. Diese innere Kraft lässt sich nur herbeiführen durch den freien Zugang und starken Anhalt an eine Kraft außer uns, die unerschöpflich vorhanden und jeden Augenblick zu haben ist. Sie »gibt Stärke genug den Unvermögenden« und kann dem menschlichen Geist diejenige Elastizität und sogar Freudigkeit verleihen, die selbst körperliche Gebrechen erleichtert, wenn nicht gar überwindet.

      Um so mehr ist dies der Fall, als diese Gebrechen oft genug die direkte Folge von Schäden sind, die dem geistigen und moralischen Gebiet angehören. Besonders auf dem vielseitigen und trotz allen Fortschritts der Wissenschaft noch sehr dunklen Gebiet der Nervenleiden und des beginnenden Irrsinns ist die Aufgabe der Heilung nicht bei der körperlichen Wirkung, sondern stets bei der geistigen Ursache anzufassen. Dies ist auch die Erklärung vieler sogenannter »wunderbaren« Heilungen, die noch in der heutigen Zeit vorkommen und nicht einfach in das Gebiet der Täuschung oder Selbsttäuschung zu verweisen sind. Eine große Hilfe auf dem richtigen Lebensweg ist es überhaupt, wenn der Geist im Menschen so mächtig geworden ist, dass er den Körper völlig beherrscht, dergestalt, dass man das sittlich Unrichtige als körperliches Unwohlsein, widerliches Gefühl, Schwäche der Nerven empfindet, das Gute und Wahre aber als Kraft, Frische, Klarheit des Kopfes, ruhigen Schlag des Herzens. Dann ist der Körper der richtige Diener und Träger des Geistes geworden, der ihm in seiner Tätigkeit hilft, statt ihn zu hindern. Für manche Schwächen sollte daher der Mensch Gott danken und ihre Heilung auf dem rechten Wege suchen, statt die Warnung und Aufforderung, die in ihnen liegt, in grobem Missverstand ihrer höheren Absicht durch äußerliche Mittel beseitigen zu wollen.

      Dieser Gedanke liegt den sogenannten »Gebetsheilanstalten« zu Grunde, wird aber oft unrichtig ausgeführt, und überhaupt braucht es hierfür gar keine besonderen Orte. Jedes Haus ist dafür geeignet, in dem Gott wohnen kann. Stets in Gott wie in einer Festung leben, aus der man nie mehr herausgeht; immer am Tage,