Carl Hilty

Schlaflose Nächte


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geschehen. Manches muss vorher noch wachsen und erstarken, in dir und anderen. Es muss gewissermaßen auf natürlichem Weg vor sich gehen, selbst wenn es ein Wunder der Gnade ist. Dass man etwas hat, ist auch nicht die alleinige Hauptsache für das eigene Gefühl — die Überzeugung, der feste Glauben, etwas zu bekommen, ist fast ebenso gut wie der vollendete Besitz.

      Glaub nur feste, dass das Beste

       Über dich beschlossen sei; Wird dein Wille nur fein stille, Wirst du allen Kummers frei. Wenn die Stunden sich gefunden, Bricht die Hilf' mit Macht herein, Und dein Grämen zu beschämen, Wird es unversehens sein. GBG 636

      9. Januar

      Amos 3 2 enthält eine sehr gute Erklärung für sehr viele Leiden der Guten, die sonst unerklärlich wären und die manche Leute das Vertrauen in die Gerechtigkeit Gottes verlieren lassen.

      »Der Gerechte muss viel leiden, aber der Herr hilft ihm aus allem.« Das ist ein Wort, das schon vor Tausenden von Jahren gesprochen wurde und in aller Kürze beschreibt, auf was sich die Guten dieser Welt einzustellen haben. Sie müssen viel leiden; anders gelangen sie nicht zu der wirklichen Güte, die sie erreichen sollen. Daraus entstehen alle Irrtümer, falschen Wege und wirklich schweren Schicksale der Guten, dass sie diesem Leiden ständig ausweichen und es ebenso gut und leicht haben wollen, wie sie es an manchen Kindern der Welt sehen — oder wenigstens zu sehen meinen. Es ist ein Irrtum, von dem sie sich gänzlich befreien lassen müssen. Viel Leiden, das ist unausweichlich; ergib dich also in dieses Schicksal und fasse dich, so bald und so vollständig als möglich; erst dann bist du auf dem geraden Weg des Fortschritts zum Vollkommenen.

      Offb 3 19 Hebr 12 6 Spr 3 12 1 Kor 11 32 Ps 71 20 Ps 73 26 Ps 97 11 Ps 112 7

      Der Trost, der unmittelbar danebensteht, ist der, dass Gott solchen willig Leidenden näher ist als allen andern, so dass ihnen nicht nur das Leiden selbst sehr versüßt und erträglich gemacht wird, sondern auch alles einen guten Ausgang nimmt. Ohne diesen Trost würde niemand den »schmalen Weg« gehen können; mit ihm aber sind schon viele in großen Leiden glücklich gewesen.

      10. Januar

      »Mit Schweigen niemand fehlen tut.« Dieses etwas sonderbare Wort pflegte einer meiner liebsten Freunde, der sich durch ein sehr erfolgreiches Leben in den verschiedensten Lebensstellungen auszeichnete, stets im Mund zu führen. In der Tat gehen schwierige und unangenehme Lebenskomplikationen damit oft am leichtesten vorüber, während das sogenannte »Sich-Aussprechen«, das manche Leute lieben, die Differenzen meist nur sichtbarer und mitunter unheilbar macht.

      Auch das Wort »wir wollen es überlegen« tut oft Wunder gegenüber sehr lebhaft empfindenden oder in ihren Neigungen und Vorsätzen leicht veränderlichen Personen.

      Ein geeignetes Mittel, um im schriftlichen Verkehr unangenehme Erörterungen zu vermeiden, besteht darin, auf das, was man nicht will, gar nicht zu antworten und sich auch durch keine Wiederholungen dazu bewegen zu lassen. Die weitaus größte Zahl der Menschen gibt den Versuch schon nach dem zweiten Mal auf.

      Man darf aber nicht zu offenbarem Unrecht schweigen, das man ändern könnte und sollte, und auch nicht mit innerem Hass.

      11. Januar

      Ein schönes Wort eines ganz materialistischen Philosophen geht dahin, dass man sich jedes Elends, das man sieht, schämen sollte. Dies ist auch das natürliche Gefühl unverdorbener und nicht in Reichtum oder Armut hartgewordener Herzen. Dieser unangenehmen Empfindung wegen vermeiden aber viele den Anblick des Elends, und es ist eines der größten Verdienste des heutigen Sozialismus, dass er dies beinahe unmöglich gemacht hat.

      12. Januar

      Solange der Mensch nicht verstandesmäßig begreift, dass der Egoismus stets üble Folgen für ihn selber hat, bleibt der Glaube, der ihm dies auch sagt, meistens ein recht schwächliches Ding von wenig wirklichem Einfluss auf das Leben. Wem aber diese Einsicht kommt, der macht einen Riesenschritt vorwärts.

      Zwiegespräch

       I

       Mit dir, mein lieber alter Freund,

       Kann ich nicht länger leben;

       Ich bin dir nunmehr herzlich feind;

       Du musst dich jetzt ergeben.

       Ergib dich freundlich in den Tod

       Und sieh, dich drein zu schicken;

       Sonst wirst du sicherlich noch Not

       Und Elend g'nug erblicken.

       II

       Ich räsonniere mit dir nicht;

       Ich halt' mich ganz im Stillen;

       Ich lass dir gern das höh're Licht,

       Behalt' ich nur den Willen.

       III

       So kenn' ich dich, so fand ich dich

       In tausend Niederlagen;

       Kein Mensch bezwingt dich, eig'nes Ich;

       Ein neuer Tag muss tagen.

       Ein andrer Geist, ein andres Herz

       Aus unbekannten Höhen,

       Um jeden Preis, um jeden Schmerz,

       Ich will's, du musst nun gehen!

      13. Januar

      Das Himmelreich auf Erden beginnt dann, wenn der Mensch außer der beständigen Gedankeneinheit mit Gott nichts mehr lebhaft wünscht. Etwas anderes kann auch kein künftiger Himmel sein, und ebenso kann vernünftigerweise nicht angenommen werden, dass ein Mensch ohne diese Gemütsstimmung in einen solchen passen und sich darin wohlfühlen würde.

      14. Januar

      Nur nicht rückwärtsschauen, sondern immer vorwärts, zuletzt sogar über dieses Leben hinaus. Rückwärtsschauen nützt gar nichts, außer: um etwas gutzumachen, was noch zu verbessern ist; sich vor begangenen Fehlern künftig zu hüten; und um empfangene Wohltaten dankbar zu vergelten.

      15. Januar

      Mit der Theologie als Wissenschaft halte dich auf friedlichen Fuße, und achte sie. Sie ist so viel wert wie andere Wissenschaften, aber auch nicht mehr, und für dein inneres Lebenswerk sind solche Kenntnisse nicht erforderlich. Das sagt uns Christus selber: Joh 3 3–12, Lk 10 21–23.

      Bei der Beurteilung geistlicher Personen — von den höchsten Würdenträgern der Kirchen bis zum Missionar oder der Diakonissin und barmherzigen Schwester — kommt es für uns Laien wesentlich darauf an, ob sie eine der großen geistlichen Gaben besitzen: die Gabe des Trostes, des wirksamen Bittens (Joh 15 7), der Krankenheilung (Mk 3 15, Mk