Carl Hilty

Schlaflose Nächte


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Linie eine Neigung anderer Art, die zwischen dir und einer solchen übersinnlichen Gedankenwelt steht. Der Verstand muss bloß rechtfertigen, was der Wille schon beschlossen hat. Im umgekehrten Falle wird man über die Verstandesbedenken immer hinwegkommen.

      Daher sagt die Bibel, die Sünde sei der Menschen Verderben. Sünde ist aber jede Neigung, neben der ein Gedanke an Gott nicht bestehen kann.

      Das steht zwischen dir und deinem Lebensglück; glaube es nur, suche es auf und beseitige es, dann kommt der Glaube ziemlich leicht und ganz von selber.

      21. Januar

      Es bedarf keiner besonderen Stunden, Zeiten, Stellungen oder Gebärden zum Verkehren mit Gott. Im Gegenteil: Die einfachste Art des Sprechens, oder auch bloß des Denkens, ist dazu vollkommen genügend, und viele äußere Veranstaltungen sind oft eher hinderlich. Das Beste ist der beständige Gedankenzusammenhang mit unserem Herrn, den der Apostel Paulus das »Beten ohne Unterlass« nennt, den manche »Beter« aber gar nicht kennen. 1 Thes 5 17

      Man muss nicht bloß einfach, aufrichtig und ohne jeden Formalismus bitten (was bei unserer religiösen Erziehung schon eine recht seltene Kunst geworden ist), sondern auch die Antwort hören können. Dazu gehört ein feines, vom Geräusch des Tages und der Eigenliebe ganz unbehindertes inneres Ohr.

      Viele sogenannte »Beter« dagegen sagen nur ihren Spruch her und gehen nachher davon oder tauchen den Löffel in die Suppe, als wenn gar nichts Wirkliches geschehen oder eine Antwort überhaupt zu erwarten wäre.

      22. Januar

      Viel hängt davon ab, welches morgens beim Erwachen deine ersten bewussten Gedanken sind. Überlässt du dich der augenblicklichen »Stimmung«, die allerlei zufällige Ursachen haben kann, oder willst du dein Leben selber fest in die Hand nehmen? Willst du gleich wieder mit den Sorgen und Nöten des Augenblicks beginnen oder mit Dank für den neuen Lebensmorgen? Willst du den Bund mit Gott erneuern oder selbstherrlich den »Kampf ums Dasein« wieder aufnehmen? Danach entscheidet sich das Schicksal des Tages.

      23. Januar

      Die wahrhaft hilfreichen Menschen in der Welt sind jene, die »bei der ewigen Glut wohnen können«; die anderen helfen uns nicht mehr, als wir uns selbst helfen können.

       Jes 33 14

      24. Januar

      »Sorget nicht für den morgigen Tag; ein jeder Tag hat genug seiner eigenen Plage.« In diesem berühmten Wort ist der Nachsatz so offenkundig, dass die meisten auch gern dem Vordersatz zustimmen würden, wenn sie ihn nur für ausführbar hielten; das Leben würde dadurch ja um vieles leichter. Er ist ausführbar, aber nur in Gottes Führung, die viel klüger ist und Dinge rechtzeitiger ausführt als die größte menschliche Klugheit. Der Mensch verkennt meist die Umstände und die eigene Kraft, und oft stellt er »seinen Fuß in einen noch zu großen Schuh.«

      Das größte Hindernis, das dem Christentum in der Welt entgegensteht, ist, dass sich Außenstehende die Möglichkeit, nach seinen Vorschriften zu leben, gar nicht vorstellen können. Dies ist ganz natürlich, da der Mensch selber verändert wird. Nicht der gleiche, sondern ein anderer denkt und handelt später, und darum denkt und handelt er anders als bisher. Vorläufig muss aber noch der gleiche Mensch den ersten »Sprung ins Dunkle« wagen. Dazu gehört freilich etwas, was Augustin und Calvin »Gnadenwahl« nennen. Dies tritt aber allen Menschen das eine oder andere Mal in ihrem Leben nahe und muss dann ergriffen und benutzt werden.

      25. Januar

      Furcht ist immer das Anzeichen von etwas Unrichtigem. Suche das auf und überwinde es gründlich, so wird sie dir statt einer Plage ein Wegweiser zum richtigen Leben werden.

      Wir sind zum Vollkommenwerden verpflichtet, und wir können alles bekommen, was an Kraft und Einsicht dazugehört, wenn wir es recht wollen. Den meisten Menschen aber wäre eine gewisse Vollkommenheit gar nicht recht, selbst wenn sie ihnen aufgezwungen würde. Ihre Seele klebt zu sehr am Staube.

      Mt 5 48 3 Mos 59 2

      26. Januar

      Selbst den besten Menschen geht das Wort Christi in Mt 20 25–28 nur schwer und nach vielen schmerzlichen Erfahrungen ein. Sie möchten doch nicht immer nur dienen, sondern irgendwann auch zu einem ruhigen, bescheidenen Genuss ihres eigenen Daseins gelangen. Worte wie die des Propheten Jesajas »Der Gerechte kommt um und niemand nimmt es zu Herzen« (Jes 57 1) kommen ihnen fast wie eine Gotteslästerung vor. Sogar Christus, der sich dessen doch vollbewusst war, ist es mitunter offenbar schwer geworden, das Gewicht einer Sendung zu tragen, für welche die meisten Menschen nie viel Geschmack und Verständnis besitzen werden.

      Jedenfalls denke nicht, dass du besondere »Gaben« wie die des Tröstens, der Heilung oder der Vergebung (die heute noch wie früher möglich sind) empfangen wirst, wenn du sie nicht zum Dienen gebrauchen willst. Das ist das Geheimnis der zu geringen Macht mancher heutigen Vorsteher der Kirchen und religiösen Gemeinschaften. Die Kräfte sind immer bereit für Leute, die bereit sind, sie richtig zu gebrauchen.

      27. Januar

      Wenn man zunächst an der Lehre Christi festhält und an den Tatsachen, die seine Erscheinung auf Erden begleiteten, dann kommt man über diese modernen Zweifel (die sich überdies mehr an das Alte Testament richten) ziemlich leicht hinweg. Dann kann man es sogar billigen, wenn sich der Abstand zwischen den Menschen und den übrigen Gottesgeschöpfen zum Vorteil der Letzteren ein wenig vermindert und sie demgemäß etwas besser behandelt werden als bisher.

      Alle Versuche, die modernen Naturwissenschaften mit der Religion auszugleichen oder alle natürlichen Erscheinungen direkt religiös zu erklären, sind wenig fruchtbar und gegenüber dem Geist der jetzigen Generation auch ziemlich fruchtlos. Die Naturwissenschaft soll ihren ganzen Bereich möglichst aufzuklären versuchen und dabei von keinen Voraussetzungen ausgehen, die nicht wissenschaftlich erklärbar sind. Aber sie soll sich auch mit diesem Feld ihrer Tätigkeit begnügen und nicht behaupten, dass alles, was nicht erforschbar sei, nicht bloß für die Wissenschaft, sondern überhaupt nicht existiere. Hierin liegt der eigentliche Streitpunkt.

      Ich glaube auch an Naturgesetze; aber eben weil es »Gesetze« sind, können sie nicht von ungefähr oder von selbst entstanden sein, sondern bedingen einen die Natur beherrschenden Geist, der sie gegeben hat. Wäre die Welt ein reines Chaos, ohne alle Gesetze ihres Bestehens (sofern man sich überhaupt eine solche Möglichkeit, auch bloß für kurze Zeit, denken kann), dann bestünde sie wirklich ohne Gott, sonst nicht.

      Was aber Gott ist, das wird keine Theologie, Philosophie oder sonstige menschliche Wissenschaft jemals ergründen und definieren können; die Versuche dazu unterscheiden sich bloß graduell von den niedrigsten Vorstellungen und Formen der Anbetung. Selbst Christus hat sich darüber niemals ausführlicher ausgesprochen, als in Joh 4 24 zu lesen ist. Ansonsten hat er sich bloß an die Tatsache als solche gehalten oder etwa noch den sehr menschlichen Vergleich eines Vater-Kind-Verhältnisses zur Erläuterung herangezogen. Das ganze Alte Testament enthält ebenfalls nichts Eingehenderes als die sehr schöne Stelle 2