Carl Hilty

Schlaflose Nächte


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Gottes«, der nur durch Christus' Leiden und Sterben, gewissermaßen mit Blut, hätte gestillt werden können, habe ich nie ganz begriffen. Wäre Gott derart zornig über uns gewesen, hätte er uns diesen Erlöser gar nicht gesendet — darin liegt ja schon die Vergebung. Und Christus hatte doch nicht bloß rasch zu leiden und zu sterben, sondern er musste vorher leben und zeigen, dass und wie ein besseres Leben als mit einer sadduzäischen Weltfrömmigkeit oder pharisäischen Kirchlichkeit möglich sei. Darin, in diesem Leben, sollen wir ihm nachfolgen, dabei auch unseren Teil Leiden und Glaubensprüfungen geduldig annehmen und sie dadurch überwinden, dass wir uns ihm anschließen.

      Ein so vorbildliches Leben, wie es das von Christus war und für alle Zeiten und Fälle des menschlichen Daseins sein sollte, wäre allerdings nicht ganz vollständig gewesen ohne den Schlussakt, den sein Tod und seine Auferstehung bilden. Das sagen schon der gesunde Menschenverstand und die Psychologie, ohne alle Dogmatik. Er hat das Größte tun und das Schwerste leiden müssen, damit wir das viel Geringere, das uns betreffen mag, auch für möglich halten und tun. Möglich ist es umso mehr, als wir jetzt außer unserer eigenen auch seine Kraft und seine Verheißungen besitzen, die schon vielen über Not und Tod hinweggeholfen haben. Das Blut dieses Opfers macht uns jedoch nicht von selber rein, so wenig wie das Wasser der Taufe. Rein werden wir nur durch die dankbare Annahme des Opfers für uns und durch die Liebe zu ihm und zu Gott, die daraus folgt.

      3. Februar

      Christus selber hat Gott niemals als einen zornigen Vater dargestellt, selbst nicht in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, wo dies am nächsten gelegen hätte. Und auch das Alte Testament hat diese Auffassung in seinen schönsten Stellen nicht.

      Jes 43 18–25 Jes 48 9–11.

      Die Menschen aber haben es später zustande gebracht, mit dieser Art von »Gottesfurcht« vielen Millionen den Gottesglauben verhasst zu machen. Der »Zorn« Gottes besteht wesentlich darin, dass er sich aus unserem Leben entfernt, wodurch das Dasein, trotz aller irdischen Schätze und aller Fortschritte in Wissenschaft, Kunst und Verkehr, innerlich so öde und trostlos wird, wie es jetzt ist. Die Landschaft ist die gleiche, sie hat sich vielleicht sogar mehr kultiviert. Aber die Sonne fehlt, und der Segen, der in dem menschlichen Tun liegen sollte und könnte, ist nicht vorhanden.

      Diese Strafe tritt ganz von selbst ein; sie liegt in der göttlichen unabänderlichen Weltordnung, die frevelhaft missachtet wird. Aber auch die Versöhnung ist gewiss, wenn der Mensch sich aufrichtig und reuevoll zu ihr zurückwendet.

      Gottes Segen

       Morgens Tau und abends Regen

       Hast du deinem Volk verheißen;

       Unaufhörlich quillt dein Segen

       Über uns in tausend Weisen.

       Millionen sind gestorben,

       Und kein Tag war ohne Bangen;

       Aber keiner ist verdorben,

       Welcher treu an dir gehangen.

       Niemand könnt' es noch ergründen,

       Was er ist, der Gottessegen;

       Eines bloß kann jeder finden:

       Alles ist an ihm gelegen.

       Schlafenszeit mit leisem Tritte

       Kommt dem einen er gegangen,

       Während um des Nachbars Hütte

       Stete Donnerwolken hangen.

       Einen fliehen alle Freuden

       Im Besitz der besten Gaben,

       Während andre in dem Leiden

       Vollgefühl des Glückes haben.

       Darf der Enkel, Herr, der Deinen,

       Ihrer Treue Frucht genießen,

       muss ein andrer, zu der seinen,

       Auch die Schuld der Eltern büßen?

       Gönnst du nimmer, Herr, uns Sündern,

       Dies Geheimnis auszurechnen,

       Wolle dennoch unsern Kindern

       Leid und Freude immer segnen.

      4. Februar

      Es ist ja doch zu wenig Liebe und zu viel Egoismus in der Welt, sagen die Pessimisten, darum wollen wir diese erbärmliche Menschheit aufgeben und verachten.

      Der Vordersatz ist unbestreitbar richtig, aber die Schlussfolgerung nicht. Richtig wäre: Darum wollen wir wenigstens noch so viel Liebe und so wenig Egoismus wie möglich hinzutun.

      Dessen sei aber gewiss: Du musst ein anderes Herz bekommen, das Gott über alles liebt und allen Geschöpfen selbstverständlich wohlwollend zugeneigt ist. Sonst ist alles, was du von Religion, Humanität oder Menschenliebe sprichst, noch ein ziemlich leeres Geschwätz. Und der Materialismus, der das menschliche Wesen auf den natürlichen Egoismus begründet, ist dann auch für dich das wahrheitsgetreuere System, ganz gleich, ob du kirchlich gesinnt bist, oder nicht. Nur dieses »andere« Herz ist dem Egoismus überlegen. Aber kein Mensch hat es von Natur aus und kann es sich erfahrungsgemäß auch durch keinerlei Anstrengung des Denkens oder Wollens verschaffen. Das ist der Grund, weshalb man bei einiger Menschenkenntnis und Lebenserfahrung eine Befreiung oder »Erlösung« durch eine außerhalb des Menschen stehende Macht annehmen muss, eine Macht, die im Übrigen schon im Alten Testament vielfach zugesagt ist.

      Jes 43 10 Jes 65 17–24 Jes 66 12–14 Jer 24 7 Jer 31 1–14 Jer 31 33 Hes 11 19–20 Hes 36 26.

      Erklären kann man's dir nicht, wenn du es nicht erfahren hast. Aber erfahren kann es jeder.

      Ein indisches weises Wort sagt zwar:

      Nichtwissen wird zur Hälfte zerstört durch freien Gedankenaustausch, die Hälfte des Verbliebenen wird beseitigt durch die Hinwendung zur Philosophie, das Übrige verschwindet im Licht der Selbstbetrachtung.

      Versuche es meinethalben; aber ich sage dir im Voraus: Es wird dir noch immer ein starker Rest von Unbefriedigung übrig bleiben auf diesem Weg.

      5. Februar

      Lass einmal versuchsweise für eine Weile das Kritisieren ganz. Ermutige und unterstütze überall nach Kräften alles Gute, und ignoriere das Gewöhnliche und Schlechte als etwas Nichtiges und Vorübergehendes. Vielleicht gelangst du damit zu einem befriedigenderen Leben. Sehr oft liegt alles gerade daran.

      6. Februar

      Das Leben jedes Menschen trägt so viel Mysteriöses in sich, dass man in gewisser Hinsicht behaupten kann, es gebe keine ganz wahren Biographien und könne keine geben. Ich wenigstens wüsste nicht, wie ich manche wahre und wesentliche Erlebnisse der vollen Wahrheit gemäß und dennoch für andere verständlich darstellen sollte.

      Ein einziges Mal, in einer schlaflosen Krankheitsnacht, ist es mir in Gedanken möglich gewesen. Es war aber so, als ob ein ganz anderer Geist die Worte bildet. Und ich wäre am Morgen nicht mehr imstande gewesen, es niederzuschreiben.

      7. Februar

      Ein Schriftsteller