Carl Hilty

Schlaflose Nächte


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18 18, Joh 20 23) oder der Weissagung, genauer gesagt, des richtigen Blickes für die Gegenwart und Zukunft oder des Geistes der Wahrheit (Joh 17 17, 1 Joh 5 20). Vertraue dich keiner Art von geistlicher Führung an, bei der nicht wenigstens etwas davon bemerkbar ist.

      Alles Übrige, theologische Gelehrsamkeit, kirchlicher Eifer, Talent zur Predigt oder was immer sonst, kommt nur in zweiter Linie in Betracht, ist sogar mitunter ein Hindernis für den Empfang der genannten Gaben. Diese können auch nicht erlernt und noch viel weniger durch irgendeine Ordination übertragen werden, sondern sind eine direkte göttliche Legitimation und heute noch so gut wie jemals in allen kirchlichen Genossenschaften möglich.

      Es liegt an dem geistlichen Stand selber, wenn diese Gaben in ihm nicht immer hinreichend vorhanden sind. Dieser Mangel, nichts sonst, ist der wahre Grund, wenn der geistliche Stand zeitweise an Bedeutung und berechtigtem Einfluss auf die Menschheit verliert.

      Lk 10 21 Lk 11 52

      Zu 4 Mos 26 61, 3 Mos 10 1–3, 1 Petr 4 17. Das kommt auch heute noch vor bei geistlichen Personen, die das Wort Gottes, das ihnen anvertraut ist, bloß geschäftsmäßig oder zu politischen oder kirchlichen Zwecken verkünden und nicht so, wie sie es schuldig wären. Der Untergang ihres eigenen geistigen Lebens ist die unmittelbare Folge davon.

      Es muss ja zu allen Zeiten und in jedem Volk eine Anzahl von Leuten geben, die mit sich und der Welt abgeschlossen haben, die für sich selbst keine Wünsche mehr haben und nur in richtiger Weise zur Hilfe für andere da sind. Das ist der wahre »Klerus«; wenn er diese Eigenschaften nicht besitzt, hat er wenig Wert. Wenn du dich imstande fühlst dazuzugehören, dann nimm keine Königskrone mehr dafür. Eine solche ist heutzutage auch nur noch etwas wert, wenn sie mit dieser Gesinnung getragen wird.

      16. Januar

      Dass man in der Gnade Gottes steht, wird gewöhnlich an zwei Dingen deutlich bemerkt werden: zunächst an einer oft ganz plötzlich und ohne äußere Veranlassung eintretenden ganz überirdischen Freudigkeit; sicherer aber noch daran, dass diesen Menschen nie etwas gelingt, was mit Egoismus verknüpft ist (was bei tausend anderen der Fall ist), dagegen Schweres und Ungewöhnliches merkwürdig wohl und leicht.

      Im Übrigen ist es müßig, darüber nachzudenken, ob man diese Gnade besitzt, oder nicht. Wer sie aufrichtig wünscht und bereit ist, sie allen anderen Lebensgütern vorzuziehen, der bekommt sie, ohne alle sonstigen Opfer oder Veranstaltungen; ja er hat sie vielmehr schon, und die oben genannten Zeichen werden auch folgen, so dass er bald nicht mehr daran zweifeln kann.

      17. Januar

      Der Werdegang, den die einzelne Seele in sich erfährt, wenn sie zu einem wirklichen inneren Leben kommt, ist gewöhnlich der folgende:

      Zuerst »wendet euch« — von den unbefriedigenden Weltbestrebungen zu Gott; vom Bösen oder von der Gleichgültigkeit zum Guten. Jes 45 22

      Sodann »trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes«, das heißt vorzugsweise: nicht nebenher oder koordiniert mit anderem Streben. Mt 6 33

      Hierauf folgt die Zuversicht, alles wirklich Nötige und Wohltätige stets haben zu können. Joh 15 7, Joh 16 24

      Daraus entstehen am Ende zwangsläufig der beständige innere Friede und die Überwindung der Welt, in der nichts als Angst und Sorge ist, selbst in den besten Schicksalen. Joh 16 33

      Das Leben ist ein beständiges Überwinden oder Überwundenwerden; einen anderen Weg gibt es nicht, für keinen auf Erden.

      Am Jordan

       (5 Mos 10, 5 Mos 11) O Mensch, der recht gesunden will, Halt ohne Arbeit endlich still Und sprich: O Herr, nun nimm mich hin, Obschon ich nicht gebessert bin. Vertilg die stolze Frömmigkeit, Des eignen Willens Trieb und Streit, Und lass die falsche Lust der Welt Mir werden ganz und gar vergällt. Durch eigne Kraft werd ich nicht rein, Ich muss zuvor erst selig sein; Dann schenkest du mir voll Geduld Für Liebe freundlich alle Schuld. Ich stell mein' Sach auf deine Wahl Und werf das Netz zum andern Mal; Die Liebe sei mein letztes Ziel, Nun, Herr, beginn dein Liebesspiel. (Nach Woltersdorf, GBG 233)

      18. Januar

      Schlechte Lektüre ist noch gefährlicher als schlechter Umgang. Nur ein Gebilde der Fantasie, aber kein wirklicher Mensch kann das ausschließlich Schlechte und Verkehrte in sich verkörpern und dabei noch schön erscheinen. Außerdem ist man von schlechten Menschen auf natürliche Weise getrennt und vor ihnen auf der Hut, während es beinahe unglaublich ist, was für Bücher, Feuilletons und Theaterstücke selbst in den Gesichtskreis gesitteter Frauen und Kinder gelangen. Ein Buch kann oft das Unglück (aber auch das Glück) eines ganzen Lebens herbeiführen.

      19. Januar

      Lass den Glauben, dass der Mensch in Naturanlage und Lebensbestimmung dem Tier ähnelt, nicht zu einer Überzeugung werden. Wehre dich mit aller Kraft gegen diese moderne Anschauung, die doch im günstigsten Falle nicht mehr ist als eine wissenschaftliche Hypothese, deren Beweis aussteht und immer ausstehen wird.

      Mit einer solchen Anschauung geht das Bedeutendste verloren, was uns vom Tier unterscheidet — soweit ist die Hypothese vielleicht richtig —, und der Rest ist nicht mehr viel wert. An dieser Klippe scheitert jetzt das Glück vieler Menschen, zeitweise ganzer Völker. Bloße Kirchlichkeit kann nicht dagegen helfen, wenn sie ganz unvermittelt neben jener Anschauung gepflegt wird. Es muss vielmehr eine feste, das Leben beherrschende Überzeugung dem Darwinismus entgegenstehen.

      Ich konnte nie bemerken, dass die Menschen unserer Zeit auf dem Weg des bloßen philosophischen Nachdenkens zu einem festen Gottesglauben gelangten, oder dadurch, dass sie die moderne Naturwissenschaft mit der Religion zu verbinden versuchten. Weitaus öfter geschieht dies auf dem Weg des praktischen Bedürfnisses, weil ein anderer Weg zum äußeren Glück und vor allem zur konstanten inneren Befriedigung gar nicht zu finden ist. Für einzelne hochstrebende Seelen ist der Glaube an ein solches Geisteswesen, das dem weitestgehenden Idealismus entspricht, und an eine Welt, die durch die höchsten Ideen (und nicht durch die schlechtesten Instinkte der menschlichen Natur) regiert wird, ein dringendes Lebensbedürfnis. Ohne diesen Glauben könnten sie ihre eigene Existenz nicht verstehen und angesichts alles Schweren, das ihnen das Leben bringt, frohen Mutes fortführen. Ihnen sagt eine englische Schriftstellerin unserer Zeit:

      Nay, falter not — 'tis an assured good

       To seek the noblest — 'tis your only good,

       Now you have seen it: for that higher vision

       Poisons all meaner choice for evermore.

       (George Eliot)

      20. Januar

      Du sagst aber vielleicht noch, du könnest nicht an Gott und an Christus glauben, dein Verstand stelle