Piedro Vargas Koana

Obsession


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des Tages noch trauriger. Am Abend fing sie dann an zu weinen. Ich kämpfte mit mir. Schließlich sagte ich diesen Satz. Warum ich die deutsche Sprache wählte, weiß ich nicht.

      Ich behielt Recht. Er holte uns beide nach Deutschland.

       2

      Deutschland, 2001

      Ich sitze in der Brotfabrik, einer Kultstätte in Frankfurt und lausche den sphärischen Klängen eines Saxofons. Plötzlich erstarre ich. Drei Reihen vor mir sitzt meine Mutter, 26 Jahre jünger. Lange brünette Haare, im dunklen Konzertraum mystisch schillernd. Dieselben Haare! Ich kann es nicht fassen. Auch im Halbprofil sieht sie meiner Mutter zum Verwechseln ähnlich. Alte Erinnerungen kommen mir bildhaft in den Sinn. Die Lehmhütte an der Mülldeponie. Ich rieche plötzlich wieder das Meer, die Haare meiner Mutter, den Duft ihres Busens. Gestank, wenn der Wind schlecht stand. Feuchter, modriger Meeresgeruch an anderen Tagen. Die letzte Liebesnacht mit Herrmann kommt mir in den Sinn, die ich damals als achtjähriger Junge nicht verstehen konnte.

      Jetzt wendet sie den Kopf. Spürt sie, dass ich sie betrachte? Kribbelt ihr Hinterkopf von meinen bohrenden Blicken? Auch ihre Nase gleicht der meiner Mutter. Unglaublich. Ich werde unruhig. Es ist nicht die Musik, sondern eine andere Schwingung, die mich vibrieren lässt.

      Die Band kündigt eine Pause an. Ich stehe auf und schaue aus den Augenwinkeln zu der Frau hinüber. Sie redet nun mit dem jungen Mann, der neben ihr saß. Ihr Freund? Wohl nicht. Es gibt keinen Körperkontakt und kein Lächeln. Beide gehen an die Bar. Ich folge mit einigen Schritten Abstand und beobachte sie. Nein, definitiv kein fester Freund. Sie bleiben auf Distanz.

      Warum frage ich mich das? Noch etwas atemlos und verwirrt in meinen Gedanken spüre ich sofort, dass ich diese Frau begehre. Sie gleicht meiner Mutter sehr. Aber von vorne und aus der Nähe betrachtet gibt es doch deutliche Unterschiede. Die europäische Variante der brasilianischen Urform. Natürlich jünger, aber auch schlanker, sehniger, ernster. Magisch zieht mich diese Frau an.

      Darf ich zu ihr hingehen? Ein Gespräch mit ihr beginnen, obwohl sie in Begleitung eines anderen Mannes ist? Mich neben beide an die Bar stellen und versuchen, mit beiden ins Gespräch zu kommen, um so an sie heranzukommen? Ihr kühler Blick streift mich in diesem Moment wie der Strahl eines Leuchtturms und hält mich auf Distanz. Nein, es wäre falsch, spüre ich sofort.

      Nervös wähle ich ein Glas Wein, nachdem die Kellnerin hinter der Bar mich endlich angesehen und meine Bestellung aufgenommen hat. Das Gedränge ist groß. Jeder möchte in der Pause schnell ein Getränk ordern. Ich nippe an dem Riesling aus dem Rheingau, nehme den feinen säuerlichen Geschmack aber nicht wahr. Meine Gedanken suchen fieberhaft nach einer Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu kommen, ohne plump die erste und vielleicht einzige Möglichkeit zu versauen. Nichts fällt mir ein.

      Die zweite Hälfte des Konzerts geht an mir vorbei. Die Töne erreichen mein Ohr, bleiben aber irgendwo stecken, weil meine Gedanken nach einem Weg suchen, den ich nicht finden kann. Sackgasse. Tonstörung. Blackout. Im Schlussapplaus löst sich die Schar der Konzertbesucher auf. Einige gehen erneut an die Bar, die Mehrheit wälzt sich die schmale Treppe hinab nach draußen. Auch die Frau und ihr Begleiter. Ich verliere sie im Gedränge.

      Chance vertan. Ich atme tief durch und resigniere. Auf dem Weg zu meinem Auto sehe ich sie wieder. Sie und ihr Begleiter sind auf der anderen Straßenseite und verschwinden in einer Querstraße. Soll ich ihnen folgen? Schnell trete ich auf die Straße und höre ein lautes Quietschen. Das Auto habe ich nicht kommen sehen. Die Fahrerin hat schnell reagiert und schüttelt hinter der Windschutzscheibe ihren Kopf. Nichts ist passiert. Ich entschuldige mich mit einer Geste.

      In der Seitenstraße sehe ich die beiden nicht mehr. Und wenn ich sie gesehen hätte? Was dann? Wie blöd von mir.

      Wenig später steige ich in mein Auto und fahre die verwinkelten Straßen entlang. Die Nebenstraße mündet in die vierspurige Hauptstraße. Einige hundert Meter weiter schaltet die Ampel von gelb auf rot. Ich halte auf der rechten Spur. Links nähert sich ein Fahrzeug und bleibt neben mir stehen. Ich wende den Blick. Ein schmutzig grüner Polo. Der junge Mann sitzt auf dem Beifahrersitz, und sie fährt. Es ist eindeutig: Sie sind kein Paar, schießt es mir in den Sinn!

      Meine dritte Chance! Werde ich mir diese auch noch entgehen lassen? Nein, entscheide ich. Soll ich sie verfolgen? Das wird vermutlich schiefgehen. Also lasse ich sie fahren, als die Ampel auf grün wechselt.

      Ich notiere mir das Autokennzeichen.

       3

      „Eine gut ausgeführte Fellatio blieb, so nutzlos sie auch auf lange Sicht war, ein wahres Vergnügen; und das zu leugnen, dachte Michel, während er in seinem Katalog die Seiten mit der Damenunterwäsche durchblätterte, wäre unvernünftig gewesen.“

      Michel Houellebecq, Elementarteilchen.

      Irgendwie bin ich konfus. Ich höre Musik, obwohl kein Gerät eingeschaltet ist. Mal ist es dunkel, dann wieder hell. Sind es die Straßenlampen? Autos mit aufgeblendeten Scheinwerfern? Ich schüttle den Kopf, um wieder klar denken zu können. Habe ich zu viel Wein getrunken?

      Mein Weg führt mich über enge Landstraßen nach Bad Homburg. Die Musik des Konzerts hallt in meinem Kopf nach. Ich sehe den Saxofon-Spieler. Er schwingt sein Instrument wie ein Fallbeil im Rhythmus der Musik.

      Ich biege nach links in eine Straße ein und sehe auf einmal diesen olivgrünen Polo vor mir fahren. Er wirkt auf merkwürdig groß, aufgebläht. Der Beifahrersitz ist leer. Sie hat ihren Bekannten wohl nach Hause gebracht. Ich hefte mich an die Fersen des Autos und lasse es nicht mehr aus den Augen.

      Durst stellt sich ein. Wo ist meine Trinkflasche? Sie kullert im Fußraum vor dem Beifahrersitz hin und her. Klack, klack. Die Töne passen nicht zur Musik, die sich in meinem Kopf festgesetzt hat und stören. Die Flasche ist ganz nach vorne gekullert beim letzten Bremsen. Also gebe ich kurz und heftig Gas, damit sie nach hinten rollt. Ich nähere mich dem Polo. Schnell bücke ich mich nach unten, um die Flasche aufzuheben und richte mich wieder auf. Der Polo bremst urplötzlich. Ich bin zu nah!

      Es kracht. Meine Reaktion hat nicht ausgereicht, um den Zusammenstoß zu vermeiden.

      Gelähmt sitze ich in meinem Auto. Ihr Gesicht starrt durch die Seitenscheibe. Wie kann eine Frau so schön sein? Sie wirkt gar nicht aggressiv, sondern besorgt. Leise höre ich ihre Stimme. „Was ist mit Ihnen?“ Ich kann mich nicht bewegen. Sie rüttelt an der Fahrertür, die aber klemmt. Dann rennt sie um das Auto herum und öffnet die Beifahrertür. Nun höre ich sie lauter. „Alles o.k.?“

      Sie streckt ihren Kopf ins Auto. Ich kann ihren Atem riechen. Apfelsaftschorle. Ich nicke, weil mir der Duft gefällt. Sie setzt sich auf den Beifahrersitz.

      Warum kann ich mich nicht bewegen? Der Airbag hat sich aufgepustet, stelle ich nun fest. „Der Airbag“, sage ich.

      Sie greift an meine Seite und versucht, den Gurt zu lösen. Dabei stützt sie sich mit ihrem rechten Arm auf meinen Oberschenkel und kommt mir sehr nahe. Schon beim Apfelsaftgeruch hat sich bei mir eine Erektion gebildet. Die Gefahr. Der Duft. Die Frau meiner Träume.

      Ihr Gesicht kommt mir nahe. Das Gurtschloss klemmt. Sie rüttelt daran. Ich küsse sie.

      Sie schreckt zurück und gibt mir eine Ohrfeige. Versucht es zumindest. Es ist alles sehr eng. Ihr Schwung lässt sie leicht nach vorne kippen. Sie stützt sich auf meinem Oberschenkel ab und spürt meine Erektion. Nun hält sie inne. Auch ich halte den Atem an.

      „Was geschieht hier?“

      Wie viele Chancen würde ich noch brauchen?

      „Ich liebe dich.“

      Sie lacht hysterisch.

      „Spinnst du?“

      „Nein!“

      Ihre rechte Hand liegt immer noch an meinem Oberschenkel, direkt im Kontakt mit meinem Penis. Sie zögert.

      “Du fährst auf mein Auto. Rammst es. Im Konzert hast du mich an der Bar beobachtet. Warum