Piedro Vargas Koana

Obsession


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Gefühle empfinde ich . Trotz des aufgeschriebenen Stichworts weiß ich allerdings kaum noch etwas über die Inhalte des Gesehenen. Wie gesagt, es hat etwas mit der aktuellen Grenze meines Wissens und Erkennens zu tun. Indem ich diesen Brief schreibe (der diesmal sehr autobiographisch ist), versuche ich, die Inhalte wieder hervorzulocken. Der Gedanke betraf das Leben, den Sinn des Lebens, den Ablauf des Lebens in zyklischen Strukturen, die Abfolge von Hochs und Tiefs, das Verständnis für das Handeln des Menschen, die Anwendung dieser allgemeinen Erkenntnisse auf mein persönliches Handeln, die Integration von Kopf (Verstand) und Selbst...

      Von Paul Watzlawick stammt der wichtige Satz (die Weisheit?), dass die Erkenntnis der eigenen Unkenntnis wahrscheinlich (!) die Grundlage für die Toleranz darstelle. Ich finde diesen Gedanken faszinierend. Er bestimmt seit langem schon mein Handeln.

      Ich glaube, dass ich fast jeden Mensch mit diesem Brief überfordere - verstehe ich den Inhalt doch selbst kaum. Vielleicht besteht aber einmal die Gelegenheit, sich darüber auszutauschen - es müsste wieder ein so kreativ offen meditativer Moment sein, in dem Zusammenhänge sich langsam finden, die sonst verborgen bleiben.

      8

      Was ist passiert? Nichts. Zum Glück. Kein Brief von ihr. Weiterlaufen.

      Liebe Anja,

      rein theoretisch gibt es vier Möglichkeiten: Du antwortest oder du tust es nicht. Wenn du es nicht tust, dann entweder absichtlich oder unbeabsichtigt (du wohnst dort gar nicht, die Briefe haben dich nicht erreicht, du machst einen Dauerurlaub, dich gibt es gar nicht...). Wenn du antwortest, dann kann deine Reaktion negativ sein (Lass´ mich in Ruhe! Was fällt dir ein? Ganz schön unverschämt!) oder vielleicht auch positiv. Weil du neugierig bist, ganz im positiven Sinn des Wortes? Weil du offen bist? So wie dein klarer und leuchtender Blick, der mich bis heute nicht loslässt und gefangen nimmt?

      Von allen vier Varianten hielt ich diejenige, dass gar kein Response eintritt, für die Unwahrscheinlichste. Da bislang diese Variante vorherrscht, hat sie paradoxerweise die höchste Wahrscheinlichkeit.

      Liebst du Paradoxa? Mich faszinieren diese unlösbaren Gedanken. Die fernöstliche Philosophie bezeichnet sie als Koan und benutzt sie in der Meditation, um sich von den Grenzen des Denkens und Fühlens zu befreien und die Erleuchtung zu erlangen.

      Stell´ dir z.B. "the noise of a one clapping hand" vor.

      Und:

      Lies´ bitte diesen Satz nicht!

      Schon geschehen? Was geschieht wirklich? Was sind nur unsere Gedanken über ein (vermeintliches) Geschehen?

      Meine Briefe hören sofort auf, wenn du es wünschst. Anruf oder Brief genügt.

      Aber ich hoffe immer noch darauf, diesen Hauch von einem Duft noch einmal zu spüren und diesen Blick, der nach den Regeln der Kommunikation einige Millisekunden zu lange dauerte, noch einmal in aller Ruhe und für viele Tausend Millisekunden erforschen zu dürfen.

      Mit lieben Grüßen

      Piedro

      9

      Wieder einige Tage später. Neue Zweifel melden sich bei mir. So weiterzumachen geht nicht. Was soll ich tun? Sie meldet sich nicht. Trotz meiner Verzweiflung spüre ich: Das ist gut.

      Wer hat es gesagt? Frauen wollen umworben werden. Also muss ich etwas tun. Seit Stunden schaue ich das Telefon an. Aber ich wage es noch nicht. Meine deutsche Seele bremst mich. Ohne nachzudenken, aus einem Impuls heraus, ergreift der Brasilianer das Telefon.

      Ich wähle ihre Nummer, die ich inzwischen auswendig kenne, obwohl ich sie noch nie verwendet habe. Alles von ihr ist in mir. Jede Information hat sich in jeder Körperzelle ausgebreitet. So dürfte vermutlich Homöopathie funktionieren. Winzige Mengen an Information, unterhalb der Ebene von Molekülen, bringen Schwingungen in Gang und verändern auf einmal alles.

      „Ja?“

      Eine kühle metallische Stimme ist zu hören. Sie ist es. Tief hole ich Atem. Meine Stimme versagt. Ich habe Angst, dass jedes Wort, jeder Hauch meines Atems meinen Schmetterling vertreibt.

      Nun noch schärfer. „Ja?“

      Ich bekomme eine Gänsehaut. Mein Puls jagt dahin. Aber ich weiß, dass ich etwas sagen muss. Sonst legt sie auf.

      „Piedro.“ Sehr leise. Geflüstert.

      Sie hat mich dennoch gehört.

      „Was fällt dir ein?“

      Ihre Stimme ist nicht einmal laut. Das Zischen einer Schlange hätte nicht heftiger sein können. Ich falle in einen Mausmodus zurück.

      „Du spinnst doch!“

      Nun ist sie wirklich laut.

      „Nein“, halte ich immer noch leise dagegen.

      Wir schweigen nun beide. Ich wage den nächsten Schritt nicht.

      „Was fällt dir ein, mir solche Briefe zu schreiben“, verlängert sie ihren früheren Satz.

      Das bietet mir eine Chance! Die Tür ist einen Millimeter weit geöffnet. Die Erkenntnis durchzuckt mich, paralysiert mich aber zugleich.

      Was soll ich sagen? Sie scheint mir so intelligent zu sein, dass mir klar ist: Wiederholungen sind bei ihr zwecklos.

      „Du bist etwas ganz Besonderes. Ich kann dir nicht sagen, warum. Ich weiß aber, dass ich dich kennenlernen möchte.“

      Gespanntes Warten. Sie schweigt. Noch immer. Hat sie aufgelegt? Nein, ich höre ihren Atem. Muss ich nachlegen? Braucht sie noch weitere Worte? Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Sie sagt irgendetwas. Ich höre ihr zu. Irgendwie antworte ich ihr. Das Gespräch fängt an zu fließen. Ich bekomme nichts mehr mit. Antworte, was mir in den Sinn kommt. Reagiere auf ihre Impulse. Lasse meine Gefühle laufen und versuche, Worte hierfür zu finden. Es ist anstrengend. Wie ein langer Lauf. Der schmerztreibende Endspurt in der Schlussphase eines Marathons. Ich weiß genau, ich muss weiterlaufen, sonst verliere ich sie. Viele Minuten später gehen mir die Ideen und die Worte aus. Mein Schweigen rettet mich.

      „Na gut. Wir treffen uns auf einen Kaffee.“

      Wie in Trance notiere ich das Café, dessen Adresse sie mir nennt. Wir einigen uns auf einen Termin am nächsten Dienstag.

      10

      Liebe Anja,

      ich weiß noch nicht, was ich von unserem Telefonat halten soll. Es war eine so ungewöhnlich neue, gleichwohl aber sehr schöne Erfahrung. Zwei Menschen, die sich bis dahin nicht kannten, sprechen miteinander und tauschen Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke miteinander aus.

      Es gab viele Stichworte, die mich neugierig gemacht haben. So beneide ich dich regelrecht um dein Erlebnis mit den meditierenden Mönchen. Ich befasse mich nicht nur theoretisch mit der Meditation, sondern meditiere auch.

      Ich war vorher schon neugierig auf dich, sonst hätte ich dir nicht geschrieben. Meine Neugierde hat zugenommen.

      Die Situation erinnert mich ein wenig an den Film "Cyrano de Bergerac". Meine Vermutungen: Du kennst ihn und du liebst ihn. Stimmt´s?

      Ich wünsche dir, dass du einen angenehmen Flug nach Tokio haben wirst und vielleicht weitere neue und schöne Erfahrungen machen kannst.

      Hoffentlich gefällt dir das Buch über Zen in der Kunst des Bogenschießens.

      Mit lieben Grüßen

      Piedro

      Das soll ich geschrieben haben? Einige Tage später nach diesem Telefonat nehme ich den bereits weggeschickten Brief, von dem ich eine Kopie auf dem Schreibtisch liegen habe, erneut in die Hand. Ich habe einen Blackout. Offensichtlich müssen das meine Zeilen sein. Aber ich habe fast keine Erinnerungen mehr an das Telefongespräch mit Anja. Ich muss wohl in einer ganz besonderen Trance gewesen sein.