A.B. Exner

Traurige Strände


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machte es. Türken dürfen international selbstbewusst sein! Das gab es vor zwanzig Jahren noch nicht. Dieses türkische Selbstverständnis war neu. Ich war erstaunt und, ehrlich, angenehm überrascht. Jetzt fehlten nur noch die empirischen Fakten. Die Ergebnisse der Studien. Allerdings… Die Studien zu den Kriminalitätsraten hatte sie mir leider nicht mehr rechtzeitig besorgen können. Sie würde jedoch einer Freundin in Ankara Bescheid geben, ja genau die Freundin, die mir Hatice als dortige Ansprechpartnerin genannt hatte. Nezahat, so hieß die Freundin aus Ankara. Die arbeitete inzwischen in einem Ministerium. Innenministerium wohl. Wir verbrachten einen erfüllten, mich emotional stark in Anspruch nehmenden Abend. Es war ein Abend an dem ich in keiner Sekunde das Gesicht Metins vor mir sah. Die Spannung lenkte mich ab. Kein Gedanke an einen Haufen Geld. Oder an diese Verlagstante. Tülin und ich investierten jede Hirnwindung für die Arbeit. Diese Frau war Türkei pur. Nicht sonderlich tolerant, aber auch nicht demagogisch veranlagt. Nach einer verteufelt kurzen Nacht verabschiedeten wir uns. Ehrlich und herzlich. Vermutlich für immer. Genauso ehrlich bedankte ich mich, hatte aber nicht das Gefühl, dass wir Freundinnen geworden waren. Ich hatte schon alles eingekauft was ich brauchte. Auch, nein, gerade für das Treffen mit der Verlagstante. Wovor ich Bammel hatte. So ich es denn stattfinden lassen würde. Verabredet waren wir. Ich bräuchte nur nicht zu erscheinen. Oder mich vor Ort nicht zu zeigen. Ich hatte mir ein Diktiergerät und Pfefferspray gekauft. Soviel stand fest – ich hatte Respekt vor der Situation. Mit dem Diktiergerät wollte ich das Gespräch mitschneiden. Das mit dem Pfefferspray war ein Spontankauf. Ein nicht zu begründender. Ich sah während des Einkaufes auf dem Basar diese Frau vor meinem geistigen Auge und griff diese kleine Sprayflasche. Weshalb? Keine Ahnung. Jeder Kontakt zu der Plitechna war so bizarr. Der erste Kontakt war, hoffentlich, ein Zufall. Sie wirkte so blasiert. Bei den Telefonaten wiederum wurde es geradezu grotesk. Sie entschuldigte sich andauernd, wirkte so schüchtern. Sie drängte sich nicht auf. Als wenn sie auf mich angewiesen wäre. Die Plitechna war unwirklich. Das traf es. Wie ein Mensch der seine Rolle spielt – damals in Babelsberg beim Schminken der Künstler, wenn die noch mal schnell ihren Text durchgingen. Sie sprachen die Texte ohne sich in der Rolle zu befinden. Text ohne Mimik. Worte ohne das dazugehörige Spiel. War sie das, was sie vorgab zu sein? Kurz nach zehn Uhr klingelte es in meiner Tasche. Sie war dran. Sie könne wegen eines Unfalls, nein, ihr selbst sei nichts geschehen, erst gegen ein Uhr am Nachmittag am vereinbarten Ort sein. Na dann! Was mich verwirrte: Sie klang so lieb, so ungeschäftsmäßig. Welch interessantes Wort. Ich würde pünktlich sein. Ich sagte einfach zu. Ich reagierte, als wenn sie mich brauchte. Sie hörte sich an, als wenn sie mich brauchte. Sie nötigte mich nicht, sie bettelte nicht, sie bat – das war besser ausgedrückt, sie bat. Das war ihre Position. Die Position der Frau Plitechna. Weshalb aber, so fragte ich mich, wollte ich die Frau jetzt sehen? Hatte ich meine Meinung wirklich geändert? Das Diktiergerät hatte ich dabei. Die kleine Sprayflasche ließ ich im Auto. Früher gab es für mich nur eine Bezugsperson. Meinen Vater. Das war soweit okay und gleichsam scheiße Er war derjenige, der dafür sorgte, dass ich nie Zielstrebigkeit lernte, sondern nur – nein – nur wäre hier das verkehrte Wort, - lediglich ist besser - also ich lernte lediglich eine in einem tiefen Gerechtigkeitssinn verwurzelte Spontanität. Ich entschied spontan meine Wege und meine Abwege. Vor allem Letztere. Die Kurven und Abzweigungen in meinen Leben - war es mein Leben? Immer hatten doch Andere entschieden. Meine Mutter hatte bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr - bis zwei Tage vor meiner Kommunion nie wirklich in mein Leben eingegriffen. Sie erklärte mir unkompliziert und spielerisch das Wichtigste des Lebens. Wie lügt man? Wie macht man sich selbst einen Orgasmus? Wie geht man Problemen aus dem Weg? Das waren die Wahlpflichtfächer… Die Hauptfächer waren: Was sind Männer? Was macht einen wertvollen Menschen aus? Weshalb gibt es nur wenige wertvolle Männer? Was ist der richtige Weg um sich ein Umfeld zu schaffen, in dem Probleme verwässern? In dieser Disziplin war meine Mutter unschlagbar. Sie war immer nur auf Frieden aus. Niemals Konfrontation. Mein Physiklehrer hätte jetzt folgenden Einwurf: Meine Mutter ging den Weg des geringsten Widerstandes. Wie ein Blitz. Immer durch die dünnsten Luftschichten, dann verlor man am wenigsten Kraft. Ihr Lebensweg war wie ein Blitz. Ständige Richtungswechsel - immer den Schwanz einziehen - nie aufmucken - brav reagieren wie ein Thermometer - nie agieren wie ein Thermostat. Und dann, zwei Tage vor meiner Kommunion, starb meine Mutter. Und schon litt ich wieder. Litt auf des Messers Schneide zwischen Zielstrebigkeit und Spontanität. Dank meines Vaters. Sollte ich ihr, der Plitechna, eine Chance geben? Sollte ich mir eine Chance geben? Dreizehn Uhr und drei Minuten. Von meinem Platz aus konnte ich die Staubfahne einer schwarzen Limousine sehen. Irgendwas Großes. Mercedes, Bentley oder so. Am Fischrestaurant hielt sie an. Und stieg nicht aus. Sie stieg nicht aus? Stattdessen öffnete sich die Fahrertür und ein Mann schälte sich aus dem Sitz. Der ging ums Auto herum, öffnete den Fond und entließ eine bepelzte Dame mit einem roten Wagenrad auf dem Kopf aus dem Wagen. Der Hut war einmalig. Mit Fransen und purpurner Schärpe. Das Ding bot einer Kleinfamilie bei Bedarf Komplettschutz. Eigentlich wollte ich sie nach kurzer Zeit stehen lassen und dieses Kapitel damit hinter mich bringen. Verdammt. Ich konnte meinen Plan nicht umsetzen. Etwas aus dem behüteten, dem wohlig warmen Teil meiner Seele, meiner Vergangenheit, sagte mir, dass es wichtig sei, mich zu öffnen. Ich musste mit ihr reden. Erst einmal. Ich wurde ruhiger. Meine Transpiration regulierte sich… Frau Plitechna erwies sich als ungefährlicher, als ich dachte. Sie schickte den Fahrer weg. Samt ihrer Limousine. Wir waren allein. In dem Restaurant aßen wir lediglich eine Kleinigkeit. Salat mit frischem Fisch. Dann gingen wir am Fuße des Wohngebietes über karges Land. Ihren roten Hut und die, vermutlich echte, Pelzstola hatte sie achtlos in meinen Wagen geworfen. Statusgimmicks nannte sie diese Accessoires. Ich nahm mir vor, meinen Plan im Hinterkopf zu behalten. Den Plan des Rückzugs, so wie meine Mutter es gemacht hätte. Dennoch wollte ich extrem auf der Hut zu sein. Elenea Plitechna hatte ihre Pumps in der Hand und schritt barfuß neben mir über das steinige Plateau. Ohne zu Zucken. Die Frau war zäh. Ich auch. Sie war zwanzig Kilo schwerer und ebenso viele Jahre älter als ich. Meine Schätzung. Eigentlich war sie nicht die Assistenz der Verlagsleitung, sondern die Scouterin des Verlages. Sie hasste es wenn jemand sie „den Scout“ nannte. Sie war kein „den“, sie war eine DIE. Somit war das geklärt. Weshalb sie hier war, wolle sie mir erläutern. Es gab in der Berliner Redaktion einen Redakteur mit griechischen Wurzeln, der sich mit der Migration und dem Rechtsradikalismus beschäftigte. Dem hatte ich mit meiner Doktorarbeit den Rang abgelaufen. Ich war ihm zeitlich zuvorgekommen und fachlich einfach weiter voraus als das Raumschiff Enterprise einem Taschenrechner. Meine Promotion wäre ja gar nicht das Problem des Verlages gewesen, der Zeitpunkt der Veröffentlichung war das Problem. Sein Problem. Elenea, wir waren schon beim Du, hatte Erkundigungen eingezogen, die bestätigten, dass ich von der Veröffentlichung im STERN nichts wusste. Das war wichtig für sie. Dennoch wollte sie sich selbst überzeugen, welche Art von Rechercheurin ich sei. Daher sei sie das erste Mal in Ihrem Leben in solch einen Touristenflieger gestiegen. Ihre Limousine hatte sie extra weg geschickt, damit ich mir keine Sorgen machte. Sie vertraue mir und wolle mir einen Job anbieten. Ja, sie habe tatsächlich einen Termin in Istanbul gehabt, jedoch, nachdem sie mich schon in der Abflughalle des Flughafens in Berlin erkannt hatte, sofort entschieden, dass sie mit mir in Gespräch kommen musste. Also nahm sie nicht ihren eigentlichen Flug. Sie gelangte durch eine willkommene Spende am Counter zu einem Sitzplatz direkt neben mir und war somit zu einem ersten, zufällig-unauffälligen Kontakt zu mir gekommen. Das hatte funktioniert. Und verdammt, es hörte sich ehrlich an. Jetzt wiederholte sie das mit dem Job. Ich solle für die verschiedenen Tageszeitungen und Zeitschriften des Verlages genau zum Thema meiner Doktorarbeit die Fakten liefern. Sie würde mich gut bezahlen und gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass der Türke, den ich um eine gewisse Summe Geldes beschissen habe, nicht an mich ran käme. Das saß. Sie wusste es. Sie wusste von dem Sportwettenschein? Verdammt, wer war die Frau? Zwei Stunden später - ich durfte wirklich alle Fragen stellen - war ich schlauer. Die Polizeireporter des Verlages hatten den Zusammenhang hergestellt, zu dem die Polizei in Berlin nicht in der Lage war. Der Überfall in meinem Büro - der Einbruch in meine Wohnung - Metins Leiche. So einfach konnte Polizeiarbeit sein. Hätte sein können. Für die Berliner Polizei. Elenea Plitechna gehörten seit dem Tod ihres Vaters dreiunddreißig und ein halbes Prozent des gesamten Verlages. Sie sorgte nur für Nachschub an loyalen, fleißigen Mitarbeitern und eventuell zwang sie den einzelnen Zeitungen mal Themen auf. Ansonsten interessierte sie nur,