A.B. Exner

Traurige Strände


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nur, dass der große türkische Unbekannte rasend sauer auf mich war. Es ginge um einen Haufen Geld. Wie viel Geld genau oder wie ich das angestellt hatte, war ihr egal. Sie wusste also nur, dass da was geschehen war, nicht aber wie ich in das Geld gekommen war. Sie wollte zwei Zusicherungen von mir. Erstens: sie wollte in die Hand die Zusage, dass ich keinen Menschen getötet hatte. Die erhielt sie. Lange blickte sie mir tief in die Augen. Sie nahm es sehr ernst. Sie glaubte mir. Offensichtlich. Zweitens, ebenfalls in die Hand: Ich würde die Erkenntnisse aus meinen Recherchen nur ihr persönlich zur Verfügung stellen. Ich überlegte. Lange. Elenea saß in ihrem gerafften Abendkleid neben mir auf von Flechten überzogenen Felsen und ließ mich in Ruhe. Langsam neigte sie sich nach hinten und legte sich einfach hin. Ihre Pumps als Kopfkissen nutzend. Die zweite Zusage erhielt sie nicht. Weshalb nicht? Ich erzählte ihr - ich weiß nicht weshalb - von Metin. Vieles erzählte ich, nicht alles. Fast alles. Sie rührte sich nicht, hörte nur zu. Das tat gut. Neben dem Heultelefonat mit Heidi war sie, Elenea, die erste Frau der ich von Metin erzählte. Der erste Mensch überhaupt. Wie gern hätte ich jetzt geheult. Die Sonne brüllte auf uns herab und der denkbar langweiligste Himmel lag in sanftem, unechtem Blau über uns. Keine Wolke war zu sehen. Wie gesagt, langweilig. Touristenhimmel. Das Schönste an einem Himmel waren für mich immer die Wolken. Keine Seele konnte Wolken fangen. Nicht einmal malen konnte man Wolken. Diese stete Veränderung regte mich schon immer an. Mein Zugang zur Hausdachterrasse in Berlin war mein Bett an Tagen der Wolkenwanderungen über Berlin. An solchen Tagen pustete ich meine Seele frei. Wie lange musste ich wohl noch warten, bevor ich einen solchen Tag wieder geschenkt bekam? Meine Gedanken waren weg. Elenea. Sie bat mich darum, mir helfen zu dürfen. Wobei? Es dauerte mehrere zehn Sekunden bis die Antwort kam. Sie richtete sich langsam wieder auf und blickte weiterhin in die Ferne. Ihr Kleid war vom Wind hochgerutscht. Die Frau hatte tiefdunkle Krampfadern an beiden Beinen. Die aufwendige Frisur war im Liegen verrutscht. Ich erblickte die schönsten Ohrmuscheln die ich je gesehen hatte. Sie wolle mir beim Erreichen meiner Ziele helfen. Ich müsse nur definieren, was meine Ziele seien. Sie vertraue mir. Was waren meine Ziele? Erst einmal wollte ich durch die Türkei reisen und mir einen möglichst kompletten Eindruck von der Richtigkeit meiner Forschungsergebnisse machen. Wenn meine Forschungsergebnisse nicht stimmten, dann hätte ich eine neue Aufgabe. Das sagte ich ihr. Sie griff meine Hand. Unsere erste Berührung. Ein warmes, ehrliches Gefühl durchströmte mich. Sie bestätigte meine Ziele und setzte ein Ziel obenauf. Leben. Ich solle auf mein Leben achten, denn ich übersähe einen Aspekt. Ihr sei komplett egal, wie viel Geld ich dem Fremden mit welcher Methode abgenommen habe. Der jedoch wolle das Geld zurück. Sie wolle nur meine fachliche Kompetenz. Er wolle eventuell mein Leben. Der Mann hatte vermutlich schon getötet. Eventuell bewusst, absichtlich getötet. Ich wusste, dass Elenea mich zu finden wusste. Sie strahlte eine Macht aus, die widerstandlos machte. Hatte ich Angst? Verdammt, selbstverständlich hatte ich Angst. Ich war nicht cool, ich war vielleicht abgeklärter als manch anderer Mensch – kaltblütiger auch nicht, nein, stoischer eher. Ja, stoischer und dickköpfiger. Das würde mein Vater sofort unterschreiben. Liska = Dickkopf. Und noch etwas hätte der Alte unterschrieben. Dass ich kein Selbstbewusstsein hätte. Ich wusste genau, worin ich wirklich gut war. Allerdings hatte mein Vater genau diesen Asp

      ekt derartig intensiv von der gegenüberliegenden Seite beleuchtet, dass mir mit Schmerzen gründlicher bewusst war, was ich alles nicht konnte. Er lobte nicht die guten, förderungswürdigen Leistungen, sondern zeigte mir immer nur meine Makel auf.

       Weshalb hast du denn im Hochsprung nur eine 3 bekommen? - Weil ich nur zweimal im Schulsport trainieren durfte und mit meinen vierzehn Jahren lediglich 1,46 groß bin. Woran liegt es denn nur, dass deine Leistungen in Mathe und Physik nie über eine knappe 2 hinaus kommen, du aber in Geschichte und Literatur auf einer 1,0 stehst? - Weil mir das in den Schoß fällt, mich interessiert, mein Leben sein wird. Was ist nur mit Dir los? Du bringst eine 3 in Bio mit, obwohl du mir versprochen hast, gelernt zu haben. - Weil Biologie mich einfach nicht interessiert. Mir fehlte ein halber Punkt an der 2. Und ich habe gelernt. Allein gelernt, weil du mich ja nicht mal abhören willst. Diese ewigen Vorwürfe gingen genau eine Woche nach meiner Kommunion los. Neun Tage nach dem Tod meiner Mutter. Als mein Vater mit der Nachricht aus der Klinik kam, nahm er mich in den Arm. Liebevoll. Auch ich nahm ihn liebevoll in den Arm. Zum letzten Mal in meinem Leben. Mein Vater war eine Woche lang betrunken. Die Briefe mit den Sterbeurkunden an die Versicherungen und das Sozialamt hatte ich geschrieben. Unter Mithilfe einer entfernt verwandten Tante abgesandt. Er wäre nicht dazu in der Lage gewesen. Bei der Kommunionsfeier, dem öffentlichen Teil, riss er sich zusammen. Im Kreis der Familie kotze er sich aus. Im Sinne des Wortes. Mutters Lebensversicherung zahlte eine Summe, die uns einen VW Käfer finanzierte. Unser erstes Familienauto. Das Auto gibt es heute noch. Es steht in der Garage am Althoffplatz in Berlin Steglitz. In der Gegend hatte ich meine erste Berliner Wohnung. Mittelstand. Straßen mit Bäumen. Eine Post, die wie ein Grafenschloss aussieht, vor allem im Winter, wenn so richtig Schnee liegt. Die Wohnung im Hochparterre hatte mehr als sechzig Quadratmeter. Mein Vater zahlte die Miete unter der Bedingung, dass ich arbeiten ging und untervermietete. Vierzig Quadratmeter der Wohnung davon brauchte ich nicht. Also gehorchte ich und vermietete das größte Zimmer, das mit dem separaten Hofeingang, an Studenten. Die sollten mir, das war Vaters Hoffnung, beim Lernen helfen. Bei jeder Mietzahlung folgte der obligatorische Anruf, immer gab es die identische Leier. Die Studenten verstanden mich und halfen mir beim Verschleiern meiner Lernerfolge und vor allem meiner Misserfolge. Ich verschwieg ihm irgendwann die Zensuren, weil ich eh kein Lob zu erwarten hatte. Die vier Jahre mit den Studenten unter meinem Dach lehrten mich viel. Die Hauptfächer waren koksen, kiffen, saufen, onanieren und vor allem debattieren. Darin war ich am besten. Ich konnte mich auf das Niveau meiner Gesprächspartner einstellen. Ohne herablassend zu sein, darin war ich spitze. Hatten die anderen weniger Ahnung, nahm ich sie mit zu meinen Erkenntnissen, zu meinen Fakten. Waren die Anderen mehr im Thema als ich, stand ich dazu. Ich bekannte offen, keine Ahnung zu haben. Diese Blöße zu zeigen sorgte sofort und immer dafür, dass jetzt ich an die Hand genommen wurde, um zu den Erleuchtungen der Anderen geführt zu werden. Das machte ich dann in der zehnten Klasse mal mit meinem Physiklehrer. Ich erklärte ihm frank und frei, dass ich nicht verstünde, was er mich jetzt gerade zu lehren gedenke. Seine Herangehensweise sei nicht der Weg, auf dem ich ihn verstünde. Meine Klassensprecherin war völlig fertig, der Lehrer musste sich setzen, mein Banknachbar starrte mich nur an. Ich hatte nicht die Variante Beschiss, also Abschreiben oder Menstruation vortäuschen, gewählt. Ich hatte mich nicht für Schauspielerei und Betrug entschieden. Ich stand einfach dazu, dass ich kein Wort verstand! Was niemand verstand. Meine Klassenleiterin war konsterniert, das hätte sie noch nie erlebt. Mein Vater musste zu einem Lehrergespräch. Aus dem wunderschönen, so verhassten Örtchen Brechen im Taunus, nach Berlin. Alle hatten mich falsch verstanden. Jeder Lehrer, auch mein Klassenlehrer. Jeder dachte, ich hätte den Lehrer angreifen wollen, weil dessen Lehrmethodik mir zu blöd war. Diese Betonschädel. Ich hielt es damals und halte es auch heute noch für völlig normal, meinem Ausbilder sagen zu dürfen, wenn er mich nicht erreicht. Es gibt immer mehrere methodische Ansätze wie man etwas erlernen kann. Ich wollte eben nicht über das Eintrichtern von Fakten gelehrt bekommen. Zumindest nicht in meinen miserableren Unterrichtsfächern. Mir schwebte ein gemeinsames Erarbeiten vor. Lernen mit Anfassen, mit Beispielen, mit Erfahren, mit Fragen stellen dürfen, mit beim Lernen auf die Fresse fallen und damit den besseren Weg zur Lösung zu finden. Dieser bessere Weg ist für den Einen das pure Pauken, für den Nächsten aber das Erfassen, Erfühlen - das Erkennen – das Begreifen durch das begreifen. Ich erfuhr es bei meinem ersten Erkennen meines Körpers. Berichte mal über einen Orgasmus, wenn du noch keinen hattest? Mach Dir einen und erkenne Dich selbst. Ist ein klasse Vergleich, allein die Lorbeeren gehören nicht mir, sondern einer Studentin aus Belgien die drei Monate bei uns wohnte. Dann zog sie aus, weil mein Vater ihr während eines längeren Besuches, er hatte Urlaub, nachstellte. Danke Papa. Was ich jetzt, hier auf einem Felsen in der Türkei, von Dr. Liska Wollke, von mir selbst erwartete? Tja, was wollte ich? Mein Leben wollte ich zurück, meine Forschung, meine Freiheit, mein egoistisches, eingeigeltes Ich. Und das Geld behalten wollte ich. War das Alles? Ja! Was erwartete ich jetzt von ihr, von Elenea Plitechna? Nur Bedenkzeit wollte ich. Mehr nicht. Sie schwieg. Ich schwieg und dachte an nichts. Die Denkschwaden aus Verwirrung und Egozentrik in meinem Schädel lichteten sich. Ich schloss die Augen – wollte nur denken. Es hatte