Stefan Zweig

Die Heilung durch den Geist: Sigmund Freud


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sei ja längst geleistet, und was noch ab und zu dem modernen, dem »gebildeten« Menschen im Blute flamme, das wären nichts als matte kraftlose Blitze eines abziehenden Gewitters, verendende Zuckungen der alten, schon im Absterben befindlichen Tierbestialität. Aber nur ein paar Jahre noch, ein paar Jahrzehnte, und eine Menschheit, die vom Kannibalismus bis zur Humanität und zum sozialen Gefühl sich so herrlich emporerzogen, werde auch noch diese letzten trüben Schlacken in ihren ethischen Feuern läutern und aufzehren: darum tue es gar nicht not, ihre Existenz überhaupt zu erwähnen. Nur nicht die Menschen auf das Geschlechtliche aufmerksam machen, und sie werden vergessen. Nur die uralte, hinter den Eisenstäben der Sitte eingekerkerte Bestie nicht mit Reden reizen, nicht mit Fragen füttern, und sie wird schon zahm werden. Nur rasch, mit abgewendetem Blick überall an allem Peinlichen vorübergehen, immer so tun, als ob nichts vorhanden wäre: das ist das ganze Sittlichkeitsgesetz des neunzehnten Jahrhunderts.

       Für diesen konzentrischen Feldzug gegen die Aufrichtigkeit rüstet der Staat alle von ihm abhängigen Mächte einheitlich aus. Alle, Kunst und Wissenschaft, Sitte, Familie, Kirche, Schule und Hochschule empfangen die gleiche Kriegsinstruktion: jeder Auseinandersetzung ausweichen, den Gegner nicht angehen, sondern in weitem Bogen umgehen, niemals sich in wirkliche Diskussion einlassen. Niemals mit Argumenten kämpfen, nur mit Schweigen, immer nur boykottieren und ignorieren. Und wunderbar folgsam dieser Taktik, haben sämtliche geistige Mächte und Knechte der Kultur sich wacker an dem Problem vorbeigeheuchelt. Ein Jahrhundert lang wird innerhalb Europas die sexuelle Frage unter Quarantäne gesetzt. Sie wird weder verneint noch bejaht, weder aufgeworfen noch gelöst, sondern ganz im stillen hinter eine spanische Wand geschoben. Eine ungeheure Armee von Wächtern, uniformiert als Lehrer, Erzieher, Pastoren, Zensoren und Gouvernanten, wird aufgestellt, um eine Jugend von ihrer Unbefangenheit und Körperfreude abzuzäunen. Kein freier Luftzug darf ihre Leiber, keine offene Rede und Aufklärung ihre keuschen Seelen berühren. Und während vordem und überall bei jedem gesunden Volk, in jeder normalen Epoche, der mannbar gewordene Knabe in die Erwachsenheit eintritt wie in ein Fest, während in der griechischen, der römischen, der jüdischen Kultur und sogar in jeder Unkultur der Dreizehnjährige, der Vierzehnjährige redlich aufgenommen wird in die Gemeinschaft der Wissenden, Mann unter Männern, Krieger unter Kriegern, sperrt ihn hier eine gottgeschlagene Pädagogie künstlich und widernatürlich von allen Offenheiten aus. Niemand spricht vor ihm frei und spricht ihn damit frei. Was er weiß, kann er nur in Hurengassen oder im Flüsterton von älteren Kameraden erfahren. Und da jeder diese Wissenschaft der natürlichsten Natürlichkeiten wieder nur flüsternd weiterzugeben wagt, so dient unbewußt jeder neu Heranwachsende der Kulturheuchelei als neuer Helfer.

       Konsequenz dieses hundert Jahre beharrlich fortgesetzten Sichverbergens und Sichnichtaussprechens aller gegen alle: ein beispielloser Tiefstand der Psychologie inmitten einer geistig überragenden Kultur. Denn wie könnte sich gründliche Seeleneinsicht entwickeln ohne Offenheit und Ehrlichkeit, wie Klarheit sich verbreiten, wenn gerade diejenigen, die berufen wären, Wissen zu vermitteln, wenn die Lehrer, die Pastoren, die Künstler, die Gelehrten selber Kulturheuchler oder Unbelehrte sind? Unwissenheit aber erzeugt immer Härte. So wird ein mitleidsloses, weil ahnungsloses Pädagogengeschlecht gegen die Jugend entsandt, das in den Kinderseelen durch die ewige Befehlshaberei, »moralisch« zu sein und »sich zu beherrschen«, unheilbaren Schaden anrichtet. Halbwüchsige Jungen, die unter dem Druck der Pubertät, ohne Kenntnis der Frau die dem Knabenkörper einzig mögliche Entlastung suchen, werden von diesen »aufgeklärten« Mentoren seelengefährlich mit der weisen Warnung verwundet, daß sie ein fürchterliches gesundheitszerstörendes »Laster« üben und so gewaltsam in ein Minderwertigkeitsgefühl, ein mystisches Schuldbewußtsein gedrängt. Studenten auf der Universität (ich habe es selbst noch erlebt) bekommen von jener Art Professoren, die man damals mit dem blümeranten Wort »gewiegte Pädagogen« zu bezeichnen liebte, Merkblätter zugeteilt, aus denen sie erfahren, daß jede sexuelle Erkrankung ausnahmslos »unheilbar« sei. Mit solchen Kanonen feuert der Moralkoller von damals rücksichtslos gegen die Nerven. Mit solchen eisenbeschlagenen Bauernstiefeln trampelt die pädagogische Ethik in der Welt der Halbwüchsigen herum. Kein Wunder, daß dank dieser planhaften Aufzüchtung von Angst in noch unsicheren Seelen jeden Augenblick ein Revolver kracht, kein Wunder, daß durch diese gewalttätigen Zurückdrängungen das innere Gleichgewicht Unzähliger erschüttert und jener Typus von Neurasthenikern serienweise erschaffen wird, die ihre Knabenängste als rückgestaute Hemmungen ein Leben lang mit sich herumtragen. Unberaten irren Tausende solcher von der Verheuchlungsmoral Verstümmelter von Arzt zu Arzt. Aber da damals die Mediziner diese Krankheiten nicht an der Wurzel aufzugraben wissen, nämlich im Geschlechtlichen, und die Seelenkunde der vorfreudischen Epoche sich aus ethischer Wohlerzogenheit nie in diese verschwiegenen, weil verschwiegenbleiben-sollenden Reviere wagt, stehen auch die Neurologen völlig ratlos vor solchen Grenzfällen. Aus Verlegenheit schicken sie alle Seelenverstörten als noch nicht reif für Klinik oder Narrenhaus in Wasserheilanstalten. Man füttert sie mit Brom und kämmt ihnen die Haut mit elektrischen Vibrationen, aber niemand wagt sich an die wirklichen Ursächlichkeiten heran.

       Noch ärger hetzt der Unverstand hinter den abnorm Veranlagten her. Von der Wissenschaft als ethisch Minderwertige, als erblich Belastete gebrandmarkt, vom Staatsgesetz als Verbrecher, schleppen sie, hinter sich die Erpresser, vor sich das Gefängnis, ihr mörderisches Geheimnis ein Leben lang als unsichtbares Joch mit sich herum. Bei niemandem können sie Rat, bei niemandem Hilfe finden. Denn würde sich in der vorfreudischen Zeit ein homosexuell Veranlagter an den Arzt wenden, so würde der Herr Medizinalrat entrüstet die Stirn runzeln, daß der Patient wage, ihn mit solchen »Schweinereien« zu belästigen. Derlei Privatissima gehörten nicht ins Ordinationszimmer. Aber wohin gehören sie? Wohin gehört der in seinem Gefühlsleben verstörte oder abwegige Mensch, welche Tür öffnet sich diesen Millionen zur Beratung, zur Befreiung? Die Universitäten weichen aus, die Richter klammern sich an die Paragraphen, die Philosophen (mit Ausnahme des einen tapfern Schopenhauer) ziehen vor, diese allen frühern Kulturwelten durchaus selbstverständlichen Abweichungsformen des Eros in ihrem Kosmos überhaupt nicht zu bemerken, die Öffentlichkeit drückt die Augen krampfhaft zu und erklärt alles Peinliche als indiskutabel. Nur kein Wort davon in die Zeitung, in die Literatur, nur keine Diskussion innerhalb der Wissenschaft: die Polizei ist informiert, das genügt. Daß dann in der raffinierten Gummizelle dieser Geheimtuerei hunderttausend Eingekerkerte toben, ist dem hochmoralischen und toleranten Jahrhundert ebenso bekannt wie gleichgültig – wichtig nur, daß kein Schrei nach außen dringt, daß jener selbstfabrizierte Heiligenschein der Kultur, der sittlichsten aller Welten, vor der Welt gewahrt bleibt. Denn der moralische Schein ist jener Epoche wichtiger als das menschliche Sein.

       Ein ganzes, ein entsetzlich langes Jahrhundert beherrscht diese feige Verschwörung des »sittlichen« Schweigens Europa. Da plötzlich durchbricht es eine einzelne Stimme. Ohne jede umstürzlerische Absicht erhebt sich eines Tages ein junger Arzt im Kreise seiner Kollegen und spricht, ausgehend von seinen Untersuchungen über das Wesen der Hysterie, von den Störungen und Stauungen der Triebwelt und ihrer möglichen Freilegung. Er gebraucht keine großen pathetischen Gesten, er verkündet nicht aufgeregt, es sei Zeit, die Moralanschauung auf eine neue Grundlage zu stellen, die Geschlechtsfrage frei zu erörtern, – nein, dieser junge, strengsachliche Arzt spielt keineswegs den Kulturprediger im akademischen Kreise. Er hält ausschließlich einen diagnostischen Vortrag über Psychosen und ihre Ursächlichkeiten. Aber gerade die unbefangene Selbstverständlichkeit, mit der er feststellt, daß viele, ja sogar eigentlich alle Neurosen von Unterdrückungen sexuellen Begehrens ihren Ausgang nehmen, erregt aschgraues Entsetzen im Kreise der Kollegen. Nicht etwa, daß sie diese Ätiologie für falsch erklärten – im Gegenteil, die meisten von ihnen haben derlei oft schon geahnt oder erfahren, ihnen allen ist privatim die Wichtigkeit des Sexus für die Gesamtkonstitution wohl bewußt. Aber doch, als Gefühlsangehörige ihrer Zeit, als Hörige der Zivilisationsmoral fühlen sie sich sofort von diesem offenen Hinweis auf eine wasserhelle Tatsache dermaßen verletzt, als wäre dieser diagnostische Fingerzeig selbst schon eine unanständige Geste. Verlegen blicken sie einander an – weiß denn dieser junge Dozent nicht um die ungeschriebene Vereinbarung, daß man über derlei heikle Dinge nicht spricht, am wenigsten in einer öffentlichen Sitzung der hochansehnlichen »Gesellschaft der Ärzte«? Über das Kapitel der Sexualia – diese Konvention sollte der Neuling doch kennen und achten – verständigt man sich unter Kollegen mit Augenzwinkern, man spaßt darüber am Tarocktisch,