Stefan Zweig

Die Heilung durch den Geist: Sigmund Freud


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– die Szene hat sich tatsächlich ereignet – wirkt im Kreise seiner Fakultätskollegen wie ein Pistolenschuß in der Kirche. Und die Wohlmeinenden unter den Kollegen lassen ihn sofort merken, er täte schon um seiner akademischen Karriere willen gut, von diesen peinlichen und unreinlichen Untersuchungen in Zukunft lieber abzulassen. Das führe zu nichts oder wenigstens zu nichts, was zur öffentlichen Erörterung tauge.

      Aber Freud ist es nicht um Anstand zu tun, sondern um Aufrichtigkeit. Er hat eine Spur gefunden und geht ihr nach. Und gerade das Aufzucken belehrt ihn, daß er unbewußt eine kranke Stelle gepackt, daß er gleich mit dem ersten Griff ganz nah heran an den Nerv des Problems gekommen ist. Er hält fest. Er läßt sich nicht abschrecken, weder von den gutgemeinten Warnungen der altern und brav wohlwollenden Kollegen noch vom Wehklagen einer beleidigten Moral, die nicht gewohnt ist, so brüsk in puncto puncti angefaßt zu werden. Mit jener hartnäckigen Unerschrockenheit, mit jenem menschlichen Mut und jener intuitiven Kraft, die zusammen sein Genie bilden, läßt er nicht ab, gerade an der allerempfindlichsten Stelle fester und fester zuzudrücken, bis endlich das Geschwür dieses Schweigens platzt, bis die Wunde freigelegt ist und man die Heilung beginnen kann. Noch ahnt bei seinem ersten Vorstoß ins Unbekannte dieser einsame Arzt nicht, wieviel er in diesem Dunkel finden wird. Er spürt nur Tiefe, und immer zieht die Tiefe magnetisch den schöpferischen Geist an sich.

       Daß gleich diese erste Begegnung Freuds mit seiner Generation trotz der scheinbaren Geringfügigkeit des Anlasses zum Zusammenstoß wurde, ist Symbol und keine Zufälligkeit. Denn nicht bloß eine beleidigte Prüderie, eine angewöhnte Moralitätswürde nimmt hier Ärgernis an einer einzelnen Theorie: nein, hier spürt sofort mit der nervösen Hellsichtigkeit des Bedrohten die abgelebte Verschweigemethode einen wirklichen Widerpart. Nicht wie Freud an diese Sphäre, sondern daß er überhaupt an sie rührt und zu rühren wagt, bedeutet schon Kampfansage zu einer Entscheidungsschlacht. Denn hier geht es vom ersten Augenblick an nicht um Verbesserungen, sondern um völlige Umstellung. Nicht um Lehrsätze, sondern um Grundsätze. Nicht um Einzelheiten, sondern um das Ganze. Stirn an Stirn stehen sich zwei Denkformen, zwei Methoden gegenüber von so senkrechter Verschiedenheit, daß es zwischen ihnen eine Verständigung weder gibt noch jemals geben kann. Die alte, die vorfreudische Psychologie, eingebettet in die Ideologie von der Übermacht des Gehirns über das Blut, fordert vom einzelnen, vom gebildeten zivilisierten Menschen, er solle seine Triebe durch die Vernunft unterdrücken. Freud antwortet grob und klar: Triebe lassen sich überhaupt nicht unterdrücken, und es sei oberflächlich, anzunehmen, sie wären, wenn man sie unterdrücke, fort und aus der Welt verschwunden. Man könne Triebe bestenfalls zurückdrücken aus dem Bewußten ins Unbewußte. Aber dann stauen sie sich, gefährlich verkrümmt, in diesem Seelenraum und erzeugen durch ihre ständige Gärung nervöse Unruhe, Verstörung und Krankheit. Völlig illusionslos, fortschrittsungläubig, rücksichtslos und radikal, stellt Freud fest, daß die von der Moral geächteten Triebkräfte der Libido einen unzerstörbaren Teil des Menschen bilden, der mit jedem Embryo neu geboren werde, ein Kraftelement, das man niemals beseitigen könne, sondern bestenfalls durch Hinüberführung ins Bewußtsein zu ungefährlicher Tätigkeit umschalten. Gerade das also, was die alte Gesellschaftsethik für die Erzgefahr erklärte, die Bewußtmachung, betrachtet Freud als heilsam, gerade was jene als heilsam empfand, die Unterdrückung, beweist er als gefährlich. Wo die alte Methode Zudecken übte, fordert er Aufdecken. Statt des Ignorierens ein Identifizieren. Statt des Aus-dem-Wege-Gehens das Eingehen. Statt des Vorbeisehens ein Tiefhineinsehen. Statt der Vermäntelung die Entblößung. Triebe kann nur zügeln, wer sie erkennt, die Dämonen nur derjenige bändigen, der sie aus ihrer Tiefe holt und ihnen frei ins Auge blickt. Medizin hat mit Moral und Scham so wenig zu tun wie mit Ästhetik oder Philologie, ihre wichtigste Aufgabe ist nicht, das Geheimste des Menschen zum Schweigen, sondern im Gegenteil, es endlich zum Sprechen zu bringen. Ohne jede Rücksicht auf den Bemäntelungswillen des Jahrhunderts, wirft Freud diese Probleme des Selbsterkennens und Selbstbekennens des Verdrängten und Unbewußten in die Mitte der Zeit. Und damit beginnt er nicht nur die Kur an zahllosen einzelnen, sondern auch an der ganzen moralkranken Epoche durch Überführung ihres unterdrückten Grundkonflikts aus der Verheuchelung in die Wissenschaft.

       Diese neugeforderte Methode Freuds hat nicht nur die Anschauung unserer Individualseele umgeschaffen, sondern alle Grundfragen unserer Kultur und ihre Genealogie in eine andere Richtung gewiesen. Jeder begeht darum grobe Herabsetzung und flachgeistigen Irrtum, der die Leistung Freuds noch immer von 1890 her als bloß medizinische Angelegenheit bewerten will, denn er verwechselt bewußt oder unbewußt den Ausgangspunkt mit dem Ziel. Daß Freud die chinesische Mauer der alten Seelenkunde zufällig von der ärztlichen Seite her durchstieß, ist historisch zwar richtig, aber nicht wichtig für seine Leistung. Denn nie entscheidet bei einem schöpferischen Menschen, von wo er ausgegangen, sondern einzig, wohin und wie weit er gelangt ist. Freud kam von der Medizin nicht anders als Pascal von der Mathematik und Nietzsche von der Altphilologie. Zweifellos, dieser Ursprung gibt seinem Werk eine gewisse Färbung, aber er bestimmt und begrenzt nicht seine Größe. Denn es wäre nachgerade heute, im fünfundsiebzigsten Jahre seines Lebens, Zeit, zu bemerken, daß sein Werk und Wert sich längst nicht mehr auf die Nebensächlichkeit gründet, ob alljährlich durch die Psychoanalyse ein Schock Neurotiker mehr oder weniger geheilt werden, längst auch nicht mehr auf einzelne seiner theoretischen Glaubensartikel und Hypothesen. Ob die Libido sexuell »besetzt« ist oder nicht, ob der Kastrationskomplex und die narzißtische Einstellung und, ich weiß nicht, welche kodifizierten Glaubensartikel für die Ewigkeit kanonisiert werden sollen oder nicht, all das ist längst Theologengezänk von Privatdozenten geworden und völlig belanglos für jene überdauernde geisteshistorische Entscheidung, die Freud mit seiner Entdeckung der seelischen Dynamik und seiner neuen Fragetechnik für unsere Welt erzwungen hat. Hier hat ein Mann mit schöpferischem Blick die innere Sphäre umgestaltet, und daß es dabei tatsächlich um ein Umstürzen ging, daß sein »Wahrheitssadismus« eine Weltanschauungsrevolution aller seelischen Fragen hervorgerufen hat –, dieses Gefährliche seiner Lehre (nämlich ihnen gefährliche) haben als erste die Vertreter der absterbenden Generation erkannt; sofort merkten sie alle mit Schrecken, die Illusionisten, die Optimisten, die Idealisten, die Anwälte der Scham und der guten alten Moral: hier tritt ein Mann ans Werk, der an allen Warnungstafeln vorübergeht, den kein Tabu schreckt und kein Widerspruch verschüchtert, ein Mann, dem tatsächlich nichts »heilig« ist. Instinktiv haben sie gefühlt, daß knapp nach Nietzsche, dem Antichrist, mit Freud ein zweiter, großer Zerstörer der alten Tafeln gekommen ist, der Antiillusionist, einer der alle Vordergründe mit unbarmherzigem Röntgenblick durchleuchtet, der hinter der Libido den Sexus, hinter dem unschuldigen Kinde den Urmenschen, im trauten Beisammensein der Familie uralte gefährliche Spannungen zwischen Vater und Sohn und in den arglosesten Träumen die heißen Wallungen des Blutes entdeckt. Ein solcher Mensch, der in ihren höchsten Heiligtümern, Kultur, Zivilisation, Humanität, Moral und Fortschritt nichts anderes sieht als Wunschträume, wird er nicht – so quält sie ein unbequemes Ahnen schon vom ersten Augenblick an – mit seiner grausamen Sondierungvielleicht noch weiter gehen? Wird nicht dieser Bilderstürmer seine schamlose analytische Technik von der Einzelseele schließlich noch auf die Massenseele übertragen? Am Ende gar die Fundamente der Staatsmoral und die so mühsam zusammengeleimten Komplexe der Familie mit seinem Hammer beklopfen und das Vaterlandsgefühl und sogar das religiöse mit seinen furchtbar fressenden Säuren zersetzen? Tatsächlich, der Instinkt der absterbenden Vorkriegswelt hat richtig gesehen: der unbedingte Mut, die geistige Unerschrockenheit Freuds hat nirgendwo und nirgends Halt gemacht. Gleichgültig gegen Einspruch und Eifersucht, gegen Lärm und Stille, hat er mit der planenden unerschütterlichen Geduld eines Handwerkers seinen archimedischen Hebel weiter und weiter vervollkommnet, bis er ihn schließlich gegen das Weltall ansetzen konnte. Im siebzigsten Jahre seines Lebens hat Freud schließlich noch jenes letzte unternommen, seine am Individuum erprobte Methode an der ganzen Menschheit und sogar an Gott zu versuchen. Er hat den Mut gehabt, weiter und weiter zu gehen, bis ins letzte Nihil und Nichts jenseits der Illusionen, in jenes großartig Grenzenlose, wo es keinen Glauben mehr gibt, keine Hoffnungen und Träume, nicht einmal jene vom Himmel oder von einem Sinn und einer Aufgabe der Menschheit.

       Sigmund Freud hat die Menschheit – herrliche Tat eines einzelnen Menschen – klarer über sich selbst gemacht: ich sage klarer, nicht glücklicher. Er hat einer ganzen Generation das Weltbild vertieft: ich sage vertieft und nicht verschönert. Denn das Radikale beglückt