Sandra Borchert

Liebe gibt es nicht nur einmal


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       IV

      Unpünktlich wie immer verließ der Zug die Station.

      Noch immer war ich verwirrt. Als ich endlich einen Sitzplatz ergattert hatte, zog ich den Brief aus meiner Tasche. Geschrieben war der Brief auf wunderschönem Bütten Briefpapier und es hatte seine Initialen als Wasserzeichen. Es war genauso schön und interessant wie er. Wo war er nur gewesen? Ängstlich und doch neugierig öffnete ich den Brief und faltete ihn auseinander:

       „ Liebe Lucy,

       Entschuldigen Sie bitte, das ich heute nicht bei Ihnen sein kann. Ich habe eine Arbeit als Photograph bei Hofe bekommen und bin vorerst im Ausland beschäftigt.

       Bitte seien Sie nicht traurig.

       Ich hatte sehr gehofft Sie noch einmal zu sehen, bevor Sie in die weite Welt gehen, so wie Sie es vorhatten.

       Bitte machen Sie mir die Freude und schreiben Sie mir.

       Oder besuchen Sie mich doch einmal in unserem Atelier.

       Sehr gerne hätte ich ein Photo von Ihnen, mit Ihren braunen Locken und den grünen Augen. Mit Ihrem wunderschönen weißen Zähnen, dem strahlenden Lächeln und Ihrer tollen Figur. Bitte verzeihen Sie mir den letzten Kommentar. Es würde mich glücklich machen, wenn wir uns eines Tages wiedersähen. Vielleicht könnten wir bis dahin versuchen den Kontakt zu halten.

       Ich wünsche Ihnen und Ihrer Mutter eine fröhliche Weihnacht und hoffe bald von Ihnen zu hören.

       Bitte passen Sie auf Sich auf.

       Alles Liebe, Ihr Phillip.“

      Mir standen die Tränen in den Augen. Er hatte mich nicht vergessen. Er mochte mich . Und nun war er gegangen. Wie ungerecht das Leben war. Aber ich hatte ja seine Adresse. Doch ehe ich noch richtig darüber nachdenken konnte, waren wir auch schon in London angekommen. Den Brief packte ich sorgsam in mein Tagebuch, mitsamt seinem Photo. Niemand sollte von ihm wissen. Er war mein kleines Geheimnis. Mein kleiner Schwarm.

      Mutter war glücklich mich endlich in die Arme schließen zu können. Es war fast ein Jahr vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten.

      Die Wohnung sah anders aus. Man konnte sehen, dass Mutter es zu etwas gebracht hatte. Sie hatte fleißig gearbeitet. Die Wände waren neu tapeziert und auch der Kamin und der Teppich waren neu. Sie hatte mir ein Zimmer eingerichtet, so wie ich es immer wollte. Sofort fühlte ich mich zu Hause. Mutter feuerte den Kamin an und machte uns heiße Schokolade, dann redeten wir die ganze Nacht über alles was uns bewegte. Sie erzählte mir wie gut es auf Arbeit ist und darüber, dass Sie mir eine Arbeit als Übersetzerin für ein teures Hotel besorgt hatte. Ich war stolz darauf diese Arbeit zu starten, denn das würde bedeuten, dass ich viel im Ausland arbeiten würde. Vorerst würde ich aber bei Mama wohnen bleiben. Mein Leben würde nun bald beginnen. Erst spät gingen wir zu Bett. Bevor ich jedoch meine Augen schloss, sah ich noch eine letztes Mal Phillips Bild an. Dann schloss ich meine Augen und schlief fest ein. Endlich wieder zu Hause. Was für ein wundervolles Gefühl. Erst dann wurde mir bewusst, wie sehr ich es vermisst hatte.

      Am nächsten Morgen klingelte kein Wecker. Mutter ließ mich so lange schlafen wie ich wollte. Es war schon Mittagszeit als ich aufwachte. Sie hatte einen wundervollen Truthahn mit Klößen und Gemüse gemacht. Auch die Geschenke lagen schon unter dem Weihnachtsbaum beim Kamin. Über dem Kamin hing ein Bild meines Vaters. „ Er wäre so stolz auf dich gewesen.“, sagte Mutter und drückte mich fest an sich. Ich spürte, dass sie noch immer sehr an ihm hing, auch wenn schon einige Jahre seitdem vergangen waren. Ich schenkte ihr ein Album für alle ihre Photos und auch ein Portrait von mir. Sie stellte es auf den Kamin, da wo jeder es sehen konnte. So stolz war sie auf ihre kleine Lucy.

      Ich weiß noch genau was ich bekam. Sie schenkte mir einen weißen Wollpullover und zwei Karten für die Oper.

      Die Oper...Das erste Mal in meinem Leben würde ich eine Oper hören. Ich war so aufgeregt.

      Nachdem wir am Abend in der Kirche waren, war es dann an der Zeit sich für die Oper zu kleiden.

      Die ganze Zeit musste ich an Phil denken und an all die Dinge die er mir über das kulturelle Leben in London erzählt hatte. Nun war ich ein Teil davon. Endlich durfte ich es entdecken und ich liebte es.

      Ich liebte „ La Traviata“ und alles um das Stück herum. Was für eine wundervolle Geschichte. Ich konnte nicht glauben wie viel Emotionen man mit Musik ausdrücken konnte. Man musste den Text gar nicht verstehen. Man musste nur sein Herz sprechen lassen. Am Ende ging es nicht anders und ich zückte mein Taschentuch. Wie wundervoll dieser Abend war. Es stimmte was man sagt: „ Entweder man liebt die Oper –oder man hasst sie. Und wenn man sie liebt, dann wird es für immer sein.“

      Was für ein gelungener Tag. Meine Mutter wusste genau, wie sie mich verwöhnen konnte. Erschöpft fiel ich ins Bett und noch mit der gehörten Musik im Ohr, schlief ich ein.

      Noch ein Tag, bevor Weihnachten zu Ende ist, dachte ich am Morgen. Eigentlich war das sehr Schade, denn schon am nächsten Tag würde ich meine Arbeit beginnen. Dann war es vorbei mit dem Verwöhnen. Aber bevor es soweit sein sollte, wollten wir auch noch andere beglücken.

      Auch die Menschen in den Armenhäusern der Stadt sollten merken, dass es Weihnachten war. Das ganze Jahr über, immer Sonntags, ging meine Mutter zu ihnen und brachte Ihnen Mahlzeiten der warme Kleidung oder was auch immer sie brauchten. Die Kinder in diesen Häusern, brachen ihr das Herz. Für sie organisierte sie Spielzeug und warme Decken und sorgte dafür, dass penibel auf die Hygiene geachtet wurde. Heute wollte sie mir zeigen, dass wir keinen Grund hatten zu jammern und traurig zu sein. Sie wollte mir zeigen, warum wir jeden Pence zu schätzen wissen sollten.

      Es war ein furchtbarer Gestank in diesem Haus. Es war muffig und es roch ein wenig nach Urin und Erbrochenem. Da war keine Spur von Hygiene. Alte Menschen liefen durch die Gänge. Es machte mir etwas angst. Sie sahen alle seltsam aus, aber das war nicht ihre Schuld. Mutter sagte ich sollte nicht so zimperlich sein. Schließlich war es nicht immer allein ihre Schuld. Ich denke sie fühlte sich etwas schuldig, denn ihr Chef hatte viele seiner Mieter gekündigt, weil sie ihre Miete nicht bezahlen konnten. Sie fand es ungerecht, denn die finanzielle Lage war zu der Zeit nicht sehr gut in London. Auch mit sehr vielen Stunden harter Arbeit, hatte man dennoch nicht viel Geld. So versuchte sie auf ihre Art diesen Menschen zu helfen.

      Als wir weiter die Treppe hinauf stiegen, merkte ich, wie es immer sauberer wurde. Hier lebten die Familien mit ihren Kindern. Da erkannte ich wie sehr das Engagement meiner Mutter geschätzt wurde. Die Kinder kamen und setzten sich auf ihren Schoß. Sie herzten und liebkosten sie. Ich war so stolz auf sie. So wollte ich auch werden.

      Also traf ich die Entscheidung jeden Sonntag mit ihr zu gehen und auch meinen Beitrag zu leisten.

      Wir reichten ihnen das mitgebrachte Essen und die warmen Sachen und sie sangen mit uns. Wir redeten den ganzen Nachmittag und die Schicksale der Familien machten mich nachdenklich. Aber dennoch, trotz allem geschehenen hielten Männer und Frauen zusammen. Sie brauchten keinen Luxus – sie brauchten nur sich. Liebe war alles was für sie zählte.

      Nachdenklich ging ich ins Bett. Liebe war alles was wir brauchten. Kein Geld der Welt konnte sie ersetzen. Ich wusste nicht genau warum, aber in diesem Moment musste ich an Phil denken. War ich verliebt? Nein, auf keinen Fall. Dann schlief ich ein.

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