Norbert F. Schaaf

Afghanistan, Srebrenica & zurück


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das sie nicht sogleich identifizieren konnte. Allmählich zeichnete sich ein Fingernagel ab an einem übergroßen Finger, umwickelt mit dicken, goldenen Seilen, so dicht bei ihren Augen, dass sie sich anstrengen musste, ihren Blick darauf einzustellen, um die Umrisse deutlich zu erfassen, sie aus dem Wust der optischen Eindrücke herauszulösen, und sie erkannte ihren Daumen mit ihren goldblonden Haarlocken drum herum.

      Über dem Bett hing das zusammengeknüpfte Fliegennetz, es war durchlöchert, schützte kaum vor Stechmücken und anderen Plagegeistern. Durch das verdunkelte, mit zerschlissener Drahtgaze bespannte Fenster, mit ebenso löchrigen Gardinen verhangen und die Hälfte der Glasscheibe notdürftig mit Plastikfolie ausgeflickt, schienen sich Gerüche und Geräusche intensiver denn je den Weg hereinzubahnen. Der gedankenverlorene und auch verunsicherte Augenmerk der Frau wanderte von den Beinen eines Kamerastativs mit wie Gichtknoten anmutenden Gelenken über das blicklos durch die Fensterverdunkelung starrende Teleobjektiv und blieb an etlichen reglosen Zikaden an der Zimmerdecke haften; sie wirkten wie wahllos hingeklebte Scherenschnitte.

      Auf dem Gang vor der Tür hörte die Frau auf dem Bett die Absätze der Hausmädchen an den plappernden Pagen vorbeiklappern, wie immer um diese Tageszeit gab es nicht viel zu tun. Wie sie aus Erfahrung wusste, hockten die Jungen, mit den Füßen patschend, auf den kühlen Steinfliesen am Gitter zum Innenhof, prahlten mit ihren gesammelten Zigarettenstummeln und erzählten sich Klatschgeschichten von Hollywoodstars und Episoden aus deren Filmhits. Die Einfalt der ungebildeten Bauernsöhne aus dem Gebirge rührte die Frau fast schmerzhaft an. Von ihren weiblichen Gegenstücken, entsprechend muslimanischer Landessitte die langen dunklen Haare unter Kopftüchern verborgen, drangen Geschwätzfetzen ins Zimmer über Popstars wie Madonna, die sich befremdlicherweise nach der Mutter Gottes nannte, und die dunkelhäutige Jackson-Familie, als lebten diese seit jeher in ihrer Dorfgemeinschaft.

      Die Zimmerbewohnerin, noch immer unter dem Eindruck des gerade geträumten Alpdrucks, lächelte gequält und dachte daran, dass die jungen Leute hart und lang arbeiteten für wenige und wertlose Dinare in der Woche im Gasthaus Stari Grad. Es gehörte Frau Murira, und die noch nicht alte, geschäftstüchtige Kriegerwitwe hatte den jungen Leuten nach Aussage des Zimmermädchens eingeredet, dass die serbischen Aggressoren sie unter Beihilfe der blaubehelmten Soldaten wegen ihres islamischen Glaubens bei lebendigem Leibe rösten würden, falls sie je wieder in ihre Heimatdörfer zurückkehrten. Hier könnten sie sich fühlen wie Haustöchter und Erbsöhne, erhielten an Essen, was aufzutreiben sei, und hätten schließlich ein Dach über dem Kopf. Außerdem hatte Frau Murira in Bälde ein reichliches Taschengeld versprochen für Kino, Modeschmuck und Kaugummi. Im Augenblick, der sich mittlerweile ins dritte Bürgerkriegsjahr hinzog, hausten die Kinder unter dem regen- und kältedurchlässigen Dach, litten argen Hunger und sprachen längst nicht mehr über Dinge, die in eine hoffnungsfrohe Zukunft weisen konnten.

      Derart abgelenkt von eigenen Befürchtungen und Zukunftsängsten nahm die Frau den klingelnden Telefonapparat zum zweiten Mal wahr, erhob sich jedoch nicht vom Bett. In langsamer Bewegung legte sie die Hände auf ihren dumpfschweren Kopf. Wie stets, wenn sie nachmittags geschlafen hatte, dauerte es nach dem Aufwachen mindestens eine Viertelstunde, bevor sich der Druck auf Stirn und Schläfen verflüchtigte. Dieses Land dörrte seinen Bewohnern das Blut in den Adern aus oder ließ es, im Winter, gefrieren. Die mörderische Hitze dieses Sommers beschwor einem Nordländer ständig das Gefühl lähmender Muskulatur und erschlaffter Sinne herauf. Lange war es her, seit sie Sehnsucht danach verspürt hatte, in warmem Klima zu leben. Der Gedanke an einige Wochen in Südostasien, auf halbem Wege zwischen Äquator und dem Wendekreis des Krebses, ließ sie den Kopf schütteln über derartiges Begehren, das sie mitten in diesen unerträglich heißen Brutkessel des steilfelsigen Schluchtenlandes geführt hatte. Gleichwohl dachte sie nicht im Entferntesten daran, nach Hause, etwa an ihren Schreibtisch in einem Berliner Verwaltungshochhaus, zurückzukehren, sondern malte sich einen längeren Aufenthalt aus; zumindest den nächsten Winter über wollte sie bleiben.

      Der Alptraum hatte sich, nicht zum ersten Mal, in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verdrängen lassen, und beim dritten Telefonklingeln stand die nicht mehr ganz junge Frau auf. Sie war mittelgroß und nicht gerade mager, freilich kein bisschen füllig, mit blondem, sonngesträhntem Haar und wind- und wettergebräuntem Gesicht. In der Duschkabine hielt sie den Kopf unter den lauwarmen Wasserstrahl, ehe sie tropfnass, nur mit amarantfarbenem Body bekleidet, im Halbdunkel zu dem kleinen Beistelltisch tappte, sich auf die Fersen hockend den Hörer abnahm und mürrisch in die Muschel sprach: „Ja? Klingor?“

      „Die Schlafmütze liegt im Bett und schwelgt in süßen Träumen“, hörte sie den Anrufer statt einer Begrüßung sagen. Sie erkannte Burkharts sonore Stimme, der sich am Telefon zu melden pflegte, ohne sich namentlich zu identifizieren. Und noch immer, selbst nach fünf Jahren in den Staaten, schien er deutsche Worte lieber zu sprechen als amerikanische.

      „Keineswegs.“ Sie hob die Augenbrauen, ließ den Hörer sinken und versuchte durch fieberhaftes Kopfschütteln die jäh wieder aufblitzenden Bilder des dreiköpfigen Scheusals und der zerfleischten Un-Tiere vor ihrem inwendigen Auge zu verscheuchen.

      „Hallo, Anica, bist du noch dran?“ fragte er besorgt.

      Sie klemmte den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter. „Nun“, sagte sie gedehnt, „wie ich dich kenne, stehst du splitterfasernackt im Zimmer und bist weder gewaschen noch rasiert.“

      „Im Gegensatz zu dir bin ich gerade dabei, einen Menschen aus mir zu machen. Bei uns sind nämlich Gäste zum Dinner eingeladen, zum Beispiel du. Oder hast du´s vergessen?“

      „Gewiss nicht“, entgegnete sie. Von den Haarsträhnen fielen ihr Wassertropfen auf Brust und Oberschenkel. „Mein Magen singt bereits ein Lied“, stöhnte sie verhalten.

      Sie hörte ihn leise seufzen. „Dann beeil dich und sei ein kultivierter Mensch, Anica. Lass uns nicht warten. Mary-Jo ist gerade gekommen. Sie muss bald wieder weg.“

      „Die Arme.“ Anica Klingor gähnte, und ihre Schenkelmuskeln zuckten von der anstrengenden Hockhaltung. „Und was wird auf dem Tisch stehen?“

      „Bosnische Pastetchen, Brathuhn mit gekochtem Weizen, Hammelkeule gegrillt, Baklava-Gebäck, Datteln, Kadaif-Nudeln und Liwanjski sir, dein Lieblingskäse, sowie, um den Magen vollends zu schließen, Türkische Rose.“

      „Turkish rose“‚ summte sie und massierte sich den Nacken mit der freien Linken. „Sieht aus, als sollte ich mir den Magen verderben. Gibt´s auch was zu trinken, Burky?“

      „Hör mal, Anica“, sagte er tadelnd, „ich lege jetzt auf. Hab noch `ne Menge zu tun. Mach hin, aber rasch. Sonst bekommst du den größten Krach mit Mary-Jo!“

      „Gott, nein!“ Anica verzog leicht die Mundwinkel.

      „Bestimmt ist auch eine Story für dich drin, Anica. Exklusiv für AK und ihren Haussender. Also!?“

      „Vergiss du nicht, aus den Pantoffeln zu springen, Major Hausmann“, flötete sie spitz, legte auf und summte: „Ich eile, liebe Freunde.“

      Anica Klingor gierte heißhungrig nach einem feinen Essen und einer saftigen Geschichte für ihre Fernsehzuschauer in Deutschland, und tief in ihrem Innern spürte sie diesen peinigenden, nicht vollständig zu bezwingenden Alpdruck. Mit Gier und Hungergefühlen konnte sie umgehen, doch Alpträume hatte sie seit ihrer Jugend kaum mehr gehabt; sie hatte stets unbekümmert ihren, oftmals eigensinnigen, Weg gemacht, und aus Erfahrung wusste sie, dass sie imstande war, jede Art Hindernis zu überwinden und ihre Ziele zu erreichen. Problematisch wurde es nur, wenn sie sich fragte, was ihr geschehen könnte, falls sie einmal Pech hatte. Das passierte meistens dann, wenn sie nicht recht wusste, wem sie vertrauen sollte. Sie arbeitete gern allein, aber sie vergaß niemals, dass sie alles, was sie erreicht hatte, dem Zusammenwirken mit anderen Menschen verdankte. Bisher hatte sie viel Glück gehabt, das Glück des Fähigen mit dem Talent, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können Und sie konnte sich gut vorstellen, was in Burkharts Frau vor sich ging.

      Mary-Jo Hayward-Ball, Pilotin eines Black Hawk genannten H-21-Helikopters, Kettenkommandeuse und Tochter sowie künftige Erbin eines Sportflugzeughändlers in Mandeville, Louisiana, hatte mit sicherem Instinkt erkannt, dass ihre,