Norbert F. Schaaf

Afghanistan, Srebrenica & zurück


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Kaliber fehlte, waren die Straßenzüge und der naheliegende Markt von Knallen und Krachen erfüllt. Das Feuer einer Batterie schien aus unmittelbarer Nähe, von einem anliegenden Stadtteil vielleicht, auf die City einzuhämmern. Es hörte sich an, als knacke jemand Riesennüsse direkt an Anicas Trommelfell.

      Die Geräusche des Krieges waren im hautnahen Erleben doch sehr sonderbar, dachte die Journalistin, und so verschiedenartig. Manche klangen monoton und melancholisch wie in eine leere Blechtonne tropfendes Regenwasser. Andere tönten melodisch und skurril, gleich einem monströsen Xylophon. Dem `Wlomp, wlomp´-Stakkato der Artillerie folgte sostenuto das `Kwumm, kwumm, kwumm´ der Granatdetonationen, untermalt von dem charakteristischen `Bup, bup, bup, bup´ einer Kalaschnikow. Ganz bestimmte Geräusche aber frappierten durch das Missverhältnis von Ursache und Wirkung: Ein sirrendes Stückchen totes Eisen reichte völlig, um ein Menschenleben auszulöschen. Heute klangen alle Geräusche schrill und aggressiv; etwas Brühheißes, Tropisches lag in ihnen, wahrscheinlich weil es trotz brennender Sonne so schwülwarm war.

      Einige Dutzend Granaten schlugen so nah bei Anica ein, dass jedes Mal der Boden um sie herum erzitterte. Der Rauch der Detonationen über ihr wirbelte und quirlte, als würde vom Himmel bis zur Erde ein schwarzer Brei mit dem Löffel umgerührt. Eine vor der Sparkassenfiliale parkende deutsche Luxuslimousine erhielt einen Granateneinschlag, im Asphalt qualmte ein Trichter, ringsherum streckten sich bizarr verbogene Eisenstücke und verbeulte Blechteile. Für Anica war es eine Qual, den beißenden Qualm des heißen Asphalts einzuatmen. Auf der Straße rollte ein abgerissenes Rad auf sie zu. Bevor es ins Taumeln kam, kullerte es noch einige Meter, als wollte es bis zu ihr rollen, kippte jedoch vorher um, der stählerne Radkranz schepperte auf dem Straßenbelag. Dann schlug ein Volltreffer in die Hausruine, an deren Mauerfuß sich die Reporterin auf den Boden warf. Sie verspürte Druck, auch einen heftigen Schlag und vernahm ein mächtiges Dröhnen, bevor eine Last auf sie stürzte und ihr die Luft abschnitt. Steinbrocken der einstürzenden Mauer und splitterndes Holz von verkohlten Fensterrahmen hatten sie vollständig verschüttet. Schwer atmend arbeitete sie sich unter Anspannung aller Kräfte aus den Trümmern. Es gelang ihr, weil sie sich vor dem Einschlag den Kopf mit der Handtasche bedeckt hatte und die Hände oben geblieben waren. Endlich bekam sie die Hände frei, schob grimmig alles beiseite, was sie am Aufstehen hinderte. Sie erwischte sogar noch den Schulterriemen mit ihrer Handtasche. Schließlich kroch sie etwas benommen, aber heil aus ihrem steinernen Grab. Schwankend stellte sie sich auf die Füße, wischte sich den Schweiß aus Angst und Schwüle von der Stirn. Rings um sie war viel Zerstörung, aber die Granatexplosion hatte die Hauswand nach innen fallen lassen, und die Detonation war erst erfolgt, als die Journalistin schon unter einem Holzrahmen lag.

      Unvermittelt kauerte sie sich wieder zu Boden, es gab keinen konkreten Grund, nur das instinktive Empfinden einer Gefahr. Sie blickte sich um und gewahrte eine Rakete, die quasi friedlich in einem Winkel des Rahmens steckte. Sie hatte das Holz durchbohrt, ohne zu explodieren; Anica hatte nur splitternde Geräusche vernommen. Vorsichtig stand sie auf, entfernte sich dann langsam, floh schließlich hastig rückwärts, ohne den Tod, der eingekapselt in der Röhre steckte, aus den entsetzten Augen zu lassen. Die Rakete war schlank, etwa einen Meter lang und sattgrün. Welch Ironie, kam der Journalistin in den Sinn, dass der Tod sich in die Farbe der Bäume, das Grün des Lebens kleidete.

      Anica kam sich vor wie Blechspielzeug, das sich aufziehen lässt, damit es im Kreis herumläuft, und wenn es an einem Stuhlbein oder an einer Teppichkante hängen bleibt, es trotzdem immer weiter dieselben mechanischen Bewegungen macht. Ebenso erging es ihr. Wie eine Aufziehpuppe lief sie gegen Mauerreste, Autos und flüchtende Menschen, ehe sie ihren Roller erreichte.

      Erleichtert klopfte sie sich den gröbsten Staub von ihrem Overall, schüttelte ihn aus den Haaren. Mit ihrem Taschenspiegel stellte sie verblüfft fest, dass sie wie durch ein Wunder keinen einzigen Kratzer abbekommen hatte. Verletzt war sie nicht, aber Herz und Gemüt bluteten ihr, denn sie musste feststellen, dass die Mauerfüße gesäumt waren von an die Hundert mehr oder minder verletzten Zivilisten, unter ihnen sicher zwei bis drei Dutzend Tote. So als zeigten sie sich mit ihrem grausigen Werk zufrieden, war der Granathagel abrupt abgerissen.

      Die Reporterin wartete nicht auf das Eintreffen der Sanitäter und Leichenwagen, sondern kletterte auf den intakt gebliebenen Roller, ihr Herz schlug weiter wie eine ekstatisch geschlagene Bongotrommel, sie drehte den Zündschlüssel... der Motor sprang an, und sie setzte – ebenso schockiert wie grüblerisch – den Weg fort, so wie auch alle anderen Heilgebliebenen ihre Beschäftigungen wiederaufnahmen, als sei nichts geschehen. Überall wurden die Türen wieder aufgemacht, die Rollläden wieder hochgezogen, die Gaslampen wieder angezündet, und wie Ratten, die wieder ins Nest zurückkehren, fanden auch die bei der sinnlosen Flucht davongekommenen Bewohner wieder in ihre Häuser und Baracken zurück. Die, die zurückgeblieben waren, kamen stattdessen heraus, in den Händen einen Strick haltend, und wie Katzen, die nach dem Gewitter wieder aus ihren Schlupflöchern hervorkriechen, bewegten sie sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten, um nur ja kein Geräusch zu machen, mit angehaltenem Atem, um jedes Geräusch zu hören, und mit weit aufgerissenen Augen, um die staubverdunkelte Luft durchdringen zu können. Neuerlich wurde die Waffenruhe in einem Sonderkommuniqué aus Rundfunklautsprechern verkündet, die schrillen Muezzins ratifizierten sie von den speerschlanken Minaretten herab mit Gebeten zu Allah, die Soldaten bestätigten sie von Panzern aus mit lauten Jubelrufen und feierlichen Flüchen, doch die Sarajlije, Sarajevos Einwohner, wollten der Sache nicht recht trauen. Erst nachdem sie sich versichert hatten, dass nicht mehr auf sie geschossen wurde, begannen sie rasch zu gehen, und es sah so aus, als würden sie etwas suchen. Sie waren auf der Suche nach ihren Toten. Und sobald sie einen gefunden hatten, blieben sie wortlos stehen, knoteten ein Ende des Stricks um dessen Knöchel oder Brustkorb, nahmen das andere Ende über ihre Schulter und schleiften ihn weg wie einen Schlitten. Tote zu finden war nicht schwer. Wo man auch hinschaute, überall sah man einen liegen.

      5 Eine tödliche Straßenkreuzung

      Die Kriegstage in Sarajevo empfand Anica wie alle Menschen als unterschiedlich. An manchen verlustreichen Tagen stumpften einige Leute derart ab, dass ihnen erst später und allmählich aufging, was sich ereignet hatte und wer im einzelnen nicht mehr war. An anderen Tagen, zwischen den Angriffen, wussten sie bei aller gegenteiligen Hoffnung, dass es viele unvermeidbar treffen würde. In länger anhaltender Waffenruhe stellte sich bei allen das normale menschliche Empfinden wieder ein. Die Nachricht „sie oder er ist tot“ nahm man auf ganz neue Art auf und man wurde sich bewusst, was es hieß, dass ein Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Alles war still, man selbst lebte, und auf einmal war ein anderer tot, er musste überführt und begraben werden, wo er doch vor ein, zwei Stunden, noch recht lebendig war und nicht sterben wollte, gleichwohl sagte man: „Falls es die Granate gibt, auf der mein Name steht, wird sie mich finden, ob ich mich im Keller verstecke oder auf offener Straße gehe.“

      Auf der nächsten Kreuzung kam der Verkehr ins Stocken, Anica war gezwungen zu halten, und als sie einem Lieferwagenfahrer Zeichen machte, um sich zu erkundigen, was passiert sei, übertönte eine befehlsgeübte Stimme aus dem Megaphon ihre Worte. „Halt! Stehenbleiben! Keine Bewegung!“ schallte es über den ganzen Platz. Und was sich nun abspielte, machte der Reporterin endgültig zutiefst bewusst, dass ihr Leben hier in Bosnien-Herzegowina endgültig in zwei Teile zerfallen war, zwischen denen es keine Verbindung gab: in den, der in der Vergangenheit ihr Leben in Freiheit bedeutet hatte, und in jenen, der im allgegenwärtigen Krieg ihr Leben ausmachte.

      Anica sah einen lang aufgeschossenen jungen Mann im Kampfanzug mitten auf die Kreuzung rennen. Er hatte die Arme und Beine eines Riesen, aber auf seinem langen Kinderhals saß ein kleiner, nach Rekrutenart geschorener Kopf. Wütend stampfte er mit den Füßen, wild fuchtelte er mit den Armen herum und schrie den wieder niedrig über die Stadt einschwebenden Transportflugzeugen zu: „Auf sie, macht sie fertig!“

      „Verrückt gewordener Legionär“, erklärte der Lieferwagenfahrer. „Seine Nerven sind vom Granathagel zerrüttet.“

      Der verwirrte Verstand des Legionärs erfasste alles verkehrt: Die ihn umstanden, hielt er für Feinde, die Transportmaschinen hingegen für eigene Kampfflugzeuge. Kaum konnte er gebändigt, nur mit Mühe festgehalten werden. Nun stand er da, kreideweiß, am ganzen Leib schlotternd. Sein Blick saugte sich abwechselnd an dem eingetroffenen