zur Matrix in den Händen. Und niemand darf es wissen. Alle sollten es wissen. Ich veröffentliche es im Internet, die ganzen zweihundert Seiten und vernichte alle Spuren, die zu mir führen könnten. Ich gehe extra in ein Internetcafé, um nichts zu hinterlassen, was mich identifizieren könnte. Dann gehe ich nachhause und mache bewusst Unordnung auf meinem Schreibtisch.
Ich schaue mir den Film noch einmal an. Den ersten Teil. Der war in sich schlüssig. Sogar ziemlich gut. Ich sehe ein, dass ich bei meinen Nachforschungen vergessen habe, dass es uns im Vergleich zu der realen Welt eigentlich ziemlich gut geht und dass man sich nicht beschweren sollte, weil man sonst gegen übermächtige Maschinen kämpfen muss, die man eigentlich nur besiegen kann, wenn man sich zwanzig mal schneller bewegt als alles andere.
Nächste Woche schreibe ich mich in einem Malkurs an der Volkshochschule ein. Aber nichts Abstraktes. Stillleben oder Naturalismus. Hauptsache, ich komme nicht wieder auf komische Gedanken.
6 – Manfred
„Party im Parterre“. Manfred hat Geburtstag und alle möglichen Leute eingeladen. Er fand den Titel wohl unglaublich witzig und deshalb laufen jetzt hier nur die Nasen herum. Die Abstinenzler und Lebensverweigerer. Einer trinkt sogar ein richtiges Bier. Die anderen begnügen sich mit dem alkoholfreien. Ich habe zum Glück niemanden von meinen Freuden mitgebracht. Die würden den Laden kurzerhand auseinander nehmen.
Manfred ist einer meiner Nachbarn und war mal in einem Seminar mit mir. Er hat sich mir sozusagen aufgedrängt. Anfangs hatte ich nichts gegen ihn, bis ich gemerkt habe, dass er zu den Leuten gehört, die einem aus dem Lexikon vorlesen. Da war’s dann wohl aber schon zu spät.
Im CD-Player laufen alle Chartsplatzierungen der letzten 24 Monate rauf und runter, mit spezieller Würdigung an sämtliche Mallorca-Ballermann-Hits. Sogar Jürgen Drews ist dabei.
Mir kribbelt es in den Beinen. Sie wollen rennen. Meine Leber schreit förmlich nach sämtlichen auffindbaren Ressourcen gedächtnislöschender Flüssigsubstanz und meine Hände ballen sich zwischenzeitlich zu Fäusten und verlangen Rache an den Lautsprechern, aber ich beherrsche mich, so gut es geht und suche nach einem nicht ganz so anstrengenden Gesprächspartner.
„Ja, mein Computer hatte das auch mal, ich gebe dir am besten mal den Link, wo du den Bugfix runterladen kannst. Dann sollte das eigentlich gehen...“
„Nein, ich glaube kaum, dass man Goethe in diesem Zusammenhang einfach so mit Heinrich Mann vergleichen kann...“
„Mein Elf ist jetzt Level 14. Also noch nicht so weit, aber ich habe letzte Woche ein Abenteuer gespielt...“
Okay, es reicht. Hier gibt es nichts und niemanden, der auch nur die leiseste Ahnung davon hat, was Party machen bedeutet. Ein paar von den Leuten haben sich jetzt sogar hingesetzt und spielen Monopoly. Ich beschließe kurzerhand, mich mal eben um die Musik zu kümmern. CDs habe ich natürlich nicht dabei, aber bei jeder Plattensammlung ist Erfahrungsgemäß mindestens eine dabei, die man auflegen kann, ohne zu kotzen.
Ich schmeiße nach und nach alles durcheinander, wühle in Bravo Hits und Kuschelrock, finde Britney Spears- und Christina Aguilera-Alben und schließlich doch eine Tote Hosen-CD. „Bis zum bitteren Ende – Live“. Okay, nicht das gelbe vom Ei, aber zumindest auch nicht mehr ganz Eiweiß. Ich lege ein und spiele „Das Wort zum Sonntag“, setze mich in eine Ecke und lausche den ersten Zeilen.
Früher war alles besser
Früher war alles gut
Da hielten alle noch zusammen
Die Bewegung hatte noch Wut...
Mir ist gerade so. Ich brauche das jetzt. Melancholie und Trübsal in Tateinheit mit pessimistischer Zwangsneurose. Früher war wirklich mal alles besser. Früher wäre ich nicht hier gewesen. Früher hätte ich Manfred ausgelacht. Stattdessen überlege ich gerade, ob sie mich vielleicht noch mitspielen lassen, am Monopoly-Tisch, wenn ich höflich frage.
Es nutzt einfach nichts. Plötzlich ist man zweiundzwanzig und hat immer noch das Gefühl irgendwas Wichtiges zu verpassen. Irgendwo in dieser gottverdammten Stadt werden gerade das erste Mal Drogen ausprobiert, wird gerade das erste mal ein Bier geöffnet und das erste Mal gevögelt, während andere Leute dabei zusehen und ich bin nicht mehr dabei. Ich habe ausgedient. Die Menschen werden immer langweiliger und trinken immer weniger. Sie tanzen nicht mehr auf den Tischen und empfinden zweiundzwanzig Uhr als angemessene Schlafenszeit.
Solange Johnny Thunders lebt
So lange bleib ich ein Punk
Nun, der ist auch schon tot. Und Campino hat sich dran gehalten. Ist ja jetzt Pop-Musiker. Liegt wohl auch wieder am Alter. Böse Zungen behaupten ja, dass man nie zu alt ist um Punk zu sein, aber so richtig? So mit Bullenschweine-Propaganda, demonstrieren gehen und Dosenbier saufen? Kann sich ja heute auch niemand mehr leisten.
Das ist alles irgendwie nicht mehr ganz das Wahre. Zum Glück war ich nie Punk, ich würde mir sonst kein Wort glauben. Das wäre ja dann vollkommen gegen meine Ethik.
Bei den Worten „Wenn ich wirklich einmal anders bin, ist mir das heute doch scheißegal“ reißt die Musik ab. Manfred wechselt die CD und meint: „Ich muss die Scheibe wirklich mal entsorgen.“
Ich biete mich an, das für ihn zu erledigen und sage, dass ich da nur mal reinhören wollte, weil mir das Cover so gefiel. In Wahrheit habe ich dieses Werk natürlich selbst schon zuhause und werde sie wohl irgendwem geben, der ein Recht darauf hat, das Zeug mal zu hören.
Ich frage Manfred: „Sag mal, kommen noch Leute oder sind das jetzt alle? Ich kenn’ hier ja niemanden so richtig und irgendwie sind die auch alle nicht so meine Liga, also wenn jetzt keiner mehr kommt, dann würde ich dann mal meine Sachen packen, wenn du verstehst.“
„Ja, klar, versteh ich, aber bleib noch ’ne Viertelstunde sitzen, Tom und Marlene kommen noch, die solltest du schon noch kennen lernen, die sind ziemlich schwer in Ordnung. Sind beides BWL-Studenten und die bringen immer die gute Laune mit.“
Oh Scheiße! BWL-Studenten mit guter Laune. Mein Gehirn sucht verzweifelt nach einem Ausweg. Irgendeinem Strohhalm, an den ich mich klammern kann. Weil mir nichts Klügeres einfällt verschwinde ich auf die Toilette, lasse dort mein Handy klingeln und führe ein Selbstgespräch mit dem Ergebnis, dass ich ganz dringend weg muss, weil Steffi sich gerade von ihrem Freund getrennt hat und jetzt dringend Beistand braucht.
Als ich das Klo verlasse steht Manfred schon im Flur und reicht mir meine Jacke. Ich habe extra laut gesprochen, damit es auch jeder hören kann. Er sagt: „Ich weiß wie das ist. Halt dich nicht länger mit uns auf. Deine Freundin ist jetzt wichtiger. Hättest du auch gleich sagen können, dann wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, dich hier länger fest zu halten.“
Sehr einfühlsam von ihm. Das muss man schon sagen. Ein bisschen tut mir meine Show sogar leid. Na ja, zumindest bis Celine Dion aus der Anlage schallt.
Auf der Straße vor dem Haus steht etwas abseits ein alter Ford, aus dem gerade zwei Menschen aussteigen, Marlene und Tom wohl. An ihnen vorbei zu gehen ohne „Hallo“ gesagt zu haben erscheint mir plötzlich unhöflich, zumal sie ja gesehen haben müssen, dass ich gerade aus dem Haus gekommen bin.
Ich muss schließlich sowieso in die Richtung, aus der die beiden kommen, also gehe ich entschlossen auf sie zu und stelle mich kurz vor. Die BWL-Studenten sind etwas verdutzt, sagen aber, dass es sie wohl freut, mich kennen zu lernen und da es mir angemessen erscheint, erkläre ich den beiden gerade noch die Stimmung da drin, dass Monopoly hoch im Kurs steht und dass die Musik einfach Spitze ist.
„Na ja, wir sind das schon von Manfred gewohnt. Er ist nicht gerade der aufregendste Mensch, nicht wahr?“, meint Tom, der sich jetzt wahrscheinlich richtig unterhalten möchte.
„Wir bleiben auch nicht lange. Wir trinken vielleicht ein Bier oder ein Glas Wein, bevor wir in irgendeine Bar verschwinden. Ist ja auch nicht auszuhalten“, wirft Marlene