Heide Fritsche

Silvaplana Blue III - Masken göttlicher Heiterkeit


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Deshalb vererbte mir Tante Emilie die Zigeuner Geige ihres Vaters. Ich war überglücklich. Ich besaß nur eine billige Geige. Eine gute Geige war ein Wunschtraum. Jetzt bekam ich die sagenumsponnene Geige von Onkel Herman als Abschiedsgeschenk von Tante Emilie.

      Ich wollte mich erkenntlich zeigen, ich wollte Onkel Hans auch etwas geben. Ich fragte: „Onkel Hans, was kann ich für dich tun?“

      Tante Emilie war der Motor der Familie gewesen. Sie wollte immer neue Häuser kaufen. Sie hatte immer neue Ideen. Sie hatte unermüdlich gearbeitet. Ohne Tante Emilie fühlte sich Onkel Hans hilflos und verlassen.

      Tante Emilie und Onkel Hans besaßen einen Wohnwagen auf einem Campingplatz in Holland am Meer. Tante Emilie hatte ein Auto. So oft sie konnten, sind sie nach Holland gefahren.

      Onkel Hans erbte das Auto, aber er hatte keinen Führerschein. Alleine konnte er nicht nach Holland kommen. Er lud mich ein, wir sollten zur Drabenerhöhe kommen und dann würden wir gemeinsam mit unserem und Tante Emilies Auto nach Holland fahren. In Holland könnten die Kinder im Meer baden und im Sand buddeln.

      Der Wohnwagen hatte ein großes Wohnzimmer mit einer kleinen Kochgelegenheit, ein Zimmer mit einem Doppelbett und ein kleines Zimmer mit einem Etagenbett. Die beiden Mädchen schliefen in dem Etagenbett. Theodor und ich, wir bekamen das Doppelbett. Onkel Hans und unser Sohn schliefen auf Schlafbänken im Wohnzimmer.

      Dieser Wohnwagen hatte dünne Metallwände. Man hörte jedes Wort und jeden Laut. Das Quengeln von Theodor, seine konstant schlechte Laune, seine Unzufriedenheit und seine Brutalitäten hat jeder hören können, auch Onkel Hans. Theodor konnte sich hier nicht verstecken. Onkel Hans wusste, was zwischen uns geschah.

      Als wir wieder in der der Drabenerhöhe zurück waren, hat mich Onkel Hans alleine auf einen Spaziergang mitgenommen. Er sagte, dass ich von diesem Mann weg müsse. Er würde mich total zerstören.

      Onkel Hans hatte in seinem Haus eine Wohnung frei. Da sollte ich einziehen. Von Wiehl aus konnte ich in Köln oder Frankfurt am Main arbeiten. Viele Frauen fuhren von Wiehl aus nach Frankfurt am Main. Da wurden Arbeitskräfte händeringend gesucht.

      Onkel Hans hatte in seiner Ehe mit Tante Emilie ein liberales Zusammenleben praktiziert. Er war sehr offen in dieser Beziehung. Eine seiner Aussagen war: „Wenn ein Mann seine Frau ganz befriedigt, er selbst aber noch nicht genug bekommen hat, hat er das Recht, sich diese Befriedigung bei anderen Frauen zu suchen. Umgekehrt hat die Frau das gleiche Recht.“

      Tante Emilie hat zu solchen Aussagen nur gelächelt und mit dem Kopf genickt. Es war überflüssig für sie, das zu kommentieren.

      Im Unterschied zu den Jahren, als ich im Alter von zwölf bis zwanzig Jahren als totale Naivität herumlief und alle Anspielungen, Aussagen und Erklärungen von Onkel Hans und Tante Emilie für Siebenbürger Witze hielt, verstand ich jetzt, wovon Onkel Hans sprach.

      Ich war aber nicht sexuell frustriert und unbefriedigt, ich war sexuell, psychisch und materiell versklavt. Das ganze Ausmaß der Lügen, Betrügereien, Vergewaltigungen und Brutalitäten konnte ich Onkel Hans nicht erzählen. Ich war nicht in der Lage dazu. Ich machte auch diesmal wieder dasselbe, wie bei den Brutalitäten meiner Kindheit, ich verdrängte. Um überleben zu können, musste ich verdrängen. Über die Wahrheit durfte ich nicht nachdenken. Darüber durfte ich nicht reflektieren. Mir etwas bewusst vor Augen zu halten, was ich nicht ändern konnte, hätte mich total zerstört. Nur im Vergessen konnte ich psychisch überleben.

      Aber in der Verdrängung gibt es keine Worte. Woran ich nicht denken kann und worüber ich nicht reflektieren kann, darüber kann ich auch nicht sprechen. Die Verdrängung hat keine Sprache.

      Zu diesem Unvermögen, über meine Probleme zu sprechen, zu diesem Verdrängungs-Syndrom, kam meine Angst. Die Angst um meine Person war kein Hindernis. Im Gegenteil, die hat mich schon am Anfang meiner Ehe zum Weglaufen angetrieben. Aber ich hatte Angst um meine Kinder. Ich konnte nicht drei kleine Kinder in Norwegen alleine zurück lassen. Ich konnte nicht drei kleine Kinder zu Geiseln für einen Psychopathen machen.

      Meine Kinder waren von Geburt an Norweger. Damals gab es keine Wahlmöglichkeit der Nationalität. Ich konnte nicht die Nationalität meiner Kinder bestimmen. Meine Kinder konnten ihre Nationalität nicht selber wählen. Die Nationalität folgte automatisch der Nationalität des Vaters. Das bestimmte der mannsorientierte Staat.

      Ich hatte in Berlin mit der Polizei gesprochen. Die deutschen Behörden wären in diesem Falle machtlos, sagte man mir bei der Berliner Polizei. Diese Gesetze seien bilaterale Abmachung zwischen Norwegen und Deutschland. Ich hätte meine Kinder nicht in Deutschland zurückbehalten dürfen. Ich hätte sie auch nicht nach Deutschland zurückbringen dürfen. Dann wäre ich vom norwegischen Staat als „Kindesentführer“ kriminalisiert worden.

      Ich hätte meine Kinder niemals wieder gesehen. Theodor hätte alles getan, um das zu verhindern. Theodor hätte die Kinder als Geiseln und Opfer benutzt, um mir zu schaden. Theodor hätte die Kinder zerstört, so wie meine Kindheit zerstört worden ist, als ich von meinen Großeltern gekidnappt wurde. Das Trauma meiner Kindheit hätte sich hier wiederholt. Damit hätte Theodor mich zerstört. Das wäre seine Rache.

      Als ich von meiner Großmutter gekidnappt wurde, starb meine Großmutter. Ich habe sie erst im Sarg wieder gesehen. Das war der Triumph meiner Mutter über ihre Mutter. Die Zerstörung meiner Kinder wäre der Triumph von Theodor über mich gewesen.

      Sollte ich das Schicksal meiner Großmutter wiederholen? Sollte ich schuldig an der Zerstörung der Kindheit meiner Kinder werden? Sollten meine Kinder von fremden Menschen herumgestoßen werden, wie ich von fremden Menschen herumgestoßen worden bin?

      Ich wollte Kinder haben, um das Trauma meiner Kindheit aufzuarbeiten. Jetzt sollte ich genau dieses Trauma auf meine Kinder übertragen und meine Kinder alleine zurück lassen? Niemals!

      Das war meine Wirklichkeit. Das waren Tatsachen. Das habe ich Onkel Hans erklärt. Erst wenn meine Kinder erwachsen und selbstständig waren und wenn sie selber für sich sorgen konnten, würde ich weggehen und mich aus meiner Gefangenschaft befreien.

      Bei dieser Aussprache mit Onkel Hans wurde mir klar, wie tief ich geschädigt war. Das war ein Trauma, das ich nicht nur intellektuell aufarbeiten konnte.

      Allerdings musste ich einen langen Weg zurücklegen, bis ich das ganze Ausmaß dieser physischen und psychischen Verletzung begreifen und bearbeiten konnte. Noch länger war der Weg, um vom Begreifen und Bearbeiten bis zur Befreiung meiner psychischen Verletzungen zu kommen.

       Melhus

       Melhus

      I.

      Um mich aus meiner Gefangenschaft zu befreien, musste ich finanziell unabhängig werden. Das konnte ich nicht, solange ich im Niemandsland lebte. Das konnte ich nicht, solange ich gezwungen war, gesetzlos in Norwegen zu leben. Darum setzte ich mich mit meinem Vater in Verbindung.

      Zuerst log Theodor, er hätte mich in Norwegen angemeldet. Dann war ich wieder nicht in Norwegen angemeldet. Dann erzählte er, er hätte eine Unfallversicherung abgeschlossen. Dann existierte wieder keine Unfallversicherung. Das ging hin und her, mal ja, aber …, mal tja …, mal nein, mal j’nein und dann wieder Schweigen.

      Mein Vater wollte nichts mehr mit Theodor zu tun haben. Die Verbindungen nach Bremen wurden immer kühler. Die Jahre vergingen. Meine Mutter starb. Mein Vater bekam seinen ersten Schlaganfall.

      Theodor log sich um alles herum. Ich hatte zwölf Jahre lang den Haushalt und die Kinder alleine in Norwegen versorgt, ohne Sicherheit, ohne an meine Zukunft und ohne an ein eigenes Leben zu denken. Theodor hatte nicht das geringste Interesse daran, an diesem Status quo etwas zu ändern. Er war der Herr. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Er hatte kein Interesse daran, mich offiziell in Norwegen anzumelden.

      Nach dem ersten Schlaganfall war mein Vater nicht nur physisch, sondern auch psychisch verändert. Hier kam die erste Mahnung vom Ende