Stefan Paul

unschuldig, wenn du träumst


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      An einem der folgenden Tage ergreift mich die Abenteuerlust und ich verlasse das Haus. Es sind vierzig Schritte bis zum Gemüsehändler, sechzig weitere und ich erreiche den Bäcker. Doch Achtung: nach dreiundvierzig Schritten habe ich eine Straße zu überqueren. So viel weiß ich bereits seit einiger Zeit. Elisa, die sanfte Vormieterin, hat mich einmal bis dorthin begleitet.

      Ich erinnere mich an ihren Geruch nach frischer Wäsche und von der Wintersonne berührten Haaren. Während sie mich an ihrem Arm führt, streichelt sie (ich vermute, dies geschieht unbewusst) meine Hand. Bevor sie in den Süden zieht, erlaubt sie mir, ihr Gesicht anzusehen. Meine Hände ertasten dessen Konturen: sie berühren Haare, Augen, Nase, Ohren, Lippen und spüren auch die kleinen Fältchen, die sich bilden, wenn sie lächelt. Ihre Haut ist straff, doch auch weich und ich freue mich, dass zu ihrer Stimme passt, was ich mit meinen Fingerspitzen entdecke.

      Ich kehre heim in meine Wohnung, zähle erneut die Schritte bis in die Küche und öffne die Tür zum Balkon. Ihr Rahmen besteht aus glattem, schwerem Holz. Draußen setze ich mich auf einen Hocker und lausche den Stimmen des Frühlings. Aus einer Hosentasche ziehe ich ein Päckchen mit Tabak hervor und beginne, Zigaretten zu drehen. Ich habe vor langer Zeit bereits das Rauchen aufgegeben, doch liebe ich noch immer das Gefühl sich in meinen Händen verändernder Dinge. Und ich liebe den Duft des Tabaks, wie die Befriedigung, einen Gegenstand mit meinen Händen zu erschaffen.

      Ich lebe seit einigen Tagen in meinem neuen Zuhause. Ich bewege mich in ihm mittlerweile sicherer, die wichtigsten Entfernungen des täglichen Lebens habe ich vermessen und abgespeichert. Die Wohnung ist eingerichtet und ich fühle mich in ihr geborgen, behütet. Weiterhin als beunruhigend empfinde ich jedoch, dass die Erinnerungen offenbar nicht aufhören mögen, mich zu verfolgen. Während ich meine Umgebung studiere, finden zurückgelassen geglaubten Bilder den Weg in meine neue Welt. Sie erscheinen mir fremd. Entfremdet. So fremd zum Teil, dass mich ihre Fremdheit neugierig macht. Was war eigentlich geschehen?

      Unerwartet treffe ich schließlich die Entscheidung, die Erinnerungen zuzulassen. Wann immer sie entstehen, werde ich sie nicht zurückweisen. Immerhin lassen die synaptischen Verschaltungen in meinem Hirn auf geheimnisvolle Weise durchaus auch schöne Gemälde erscheinen: den Abendhimmel verbrennende Sonnenuntergänge, die sich sekündlich verändernden Farben des Meeres, Unwetter prophezeiende Wolkengebirge, Gesichter des Lebens, der Liebe, des Todes; versunken geglaubte Städte, Länder, Begegnungen- wirre Bilder durchfluten seither sekündlich mein Bewusstsein.

      In all dem Durcheinander erscheinen die Gesichter jener Menschen, die meine Bahn berührten. Sie bringen die größte Freude, aber auch tiefste Trauer mit sich. Nach und nach entstehen die Geschichten meines Lebens, sie breiten sich in mir aus, sie ergreifen mich, während ich hier auf meinem Balkon sitze und wohlgeformte, duftende Gebilde meine Hände verlassen. Am Horizont ziehen derweil regenschwere Gewitterwolken auf. Ich kann hören, wie sie sich aufbauen. Der im Hinterhof gefangene, behagliche Geruch des Frühlings vermag meine mit dem Gewitter aufbrandende Furcht vor der alles vernichtenden Erinnerung nur wenig zu betäuben.

      Für diesen Abend habe ich genug Zigaretten gefertigt. Die hereinbrechende Nacht kündigt sich an, indem sie mir kühl und feucht unter die Kleider fährt. Ich höre den prasselnden Regen rauschen, peitschende Winde begleiten ihn. Mühsam erhebe ich mich von meinem Stuhl und strecke mich. Es ist ein reales Gefühl, meinen Körper zu spüren. Auf dem Weg in mein Schlafzimmer taste ich mich an der Holzstange entlang. Ich stellte sie mir schwarz und ebenmäßig vor. Obwohl ich deutlich die raue Oberfläche unbehandelten Holzes fühle. Es sind zehn Schritte von der Balkontür bis an mein Bett. Sechs davon werden von der Stange begleitet.

      Ich lege mich auf das Bett, ohne mich vorher zu entkleiden. Noch ist mir kalt von der nahenden Nacht und dem heranbrausenden Unwetter. Wann war das gewesen, als wir einen ganzen Urlaub lang gefroren hatten? Meine Erinnerung an den Norden ist voller Wälder, Seen, Regen, Licht, Rentiere, Polarlichter und Himmel. Die Luft ist klar und riecht nach Fichtenholz, Wasser, Räucherlachs und Pilzen. Rotkappen und Pfifferlinge wachsen im tiefen Moos. Es ist August, also Hochsommer bei uns zu Hause. Der nächtliche Bodenfrost zu dieser Jahreszeit ist ungewohnt. „Was möchtest du gern essen, meine Geliebte? Ein gebratenes Barschfilet oder doch lieber den über einem betulich daher prasselnden Holzfeuer gegarten Hecht. Diesen serviere ich im Speckmantel, falls wir ein Rentier erlegen und es räuchern können. Oder magst du doch lieber ein Pfifferling - Omelette mit Eiern vom skandinavischen Birkhuhn?“

      Die Pilze stammen vom Ufer eines Baches, dessen klarer Wasserkörper wie ein in immer gleicher Bewegung gefangenes Tier an unserem Zelt vorbei gurgelt. Gehe ich ein paar Meter weiter in den Wald hinein, treten die dunklen Nadelbäume beiseite und erlauben den Blick auf die glatte, schwarze Oberfläche eines ungefähr ovalen Sees. Seine Haut zerschneidend, fange ich einen Hecht mithilfe eines bunt schillernden Metallköders. Der Fisch zappelt am moosgrünen Ufer. In seinem stummen Kampf tut er ihr leid. Ich erlöse das schön gezeichnete Tier mit einem gezielten Stich meiner Taschenmesserklinge mitten in sein Herz. Sehr bald darauf liegt er vollkommen ruhig.

      Einem Rentier dieses Schicksal anzutun, traue ich mir nicht zu. Ergo gare ich den Hecht ohne den in Aussicht gestellten Rentierspeck, dafür in Alufolie gewickelt, auf einem Birkenholzfeuer. Die Pilze stopfe ich dem Tier in seine zuvor sorgfältig geleerte, von Blut und Organen befreite Bauchhöhle. Der Nachtisch besteht aus Blaubeeren mit Milch. Milch ist teuer im Norden, doch die Blaubeeren sind tausendmal teurer. Jeweils zehn Beeren bezahlen wir mit einem unstillbar juckenden Mückenstich.

      Während wir die Beeren und Pilze auf einem schmalen Festlandstreifen zwischen den Ufern von See und Bach sammeln, nieselt es unaufhörlich. Vermutlich aufgrund des unstillbaren Regens sind die Moskitos in diesem Teil Skandinaviens besonders zahlreich und sie fliegen, begleitet von jenem penetranten Summen, das wohl jeder Mensch fürchtet, unter die Regenjacken, auf die Socken, an die empfindlichen Stellen beim Pinkeln, um die Ohren, und alle Abwehrversuche sind beinahe noch schmerzhafter als die Mückenstiche selbst.

      Am Lagerfeuer haben wir das Gefühl, die beiden einzigen Menschen auf der Welt zu sein. Es stört uns wenig, dass wir das Feuerholz unserer Vorgänger benutzen, die diesen Lagerplatz vor uns entdeckt haben. Der Hecht schmeckt, hat ihr jedoch zu viele Gräten. Auch die Kombination aus Fisch, Pilzen und Zwiebeln bedarf ihrer Gewöhnung. Immerhin reift in mir das befriedigende Gefühl, das Abendessen als Jäger und Sammler zu bestreiten.

      Unversehens wird es dunkel und wir müssen noch den Weg über den Waldsee, zu unserem Zelt zurücklegen. Sie sitzt vor mir und ganz vorn im Bug des Kanus brennt gelblich flackernd eine Petroleumlampe. Der See leuchtet schwarz und der Himmel und der Wald sind schwarz und die Sterne sind alle da und erleuchten uns den Weg, unterstützt von der kleinen Petroleumlampe und ich fühle mich winzig und unbeschreiblich glücklich und bald trüben wehmütige Tränen meinen Blick. Das Paddel sticht silberne Wunden in die ebene Haut des kohlefarbenen Sees. Die kleinen Wirbel kräuseln sich noch weit hinter dem Boot und ich wundere mich, dass ich in all der Dunkelheit überhaupt so weit zu sehen vermag.

      Im Zelt empfängt uns ein heimeliger Geruch. Das Gemisch aus feuchter Kleidung, Autan und kaltem Rauch begleitet uns durch diese Nächte. Es ist kühl und klamm und nichts auf der Welt könnte besser sein, als sie für alle Zeit im Arm zu halten und ihren Duft zu atmen, ihre Wärme zu spüren. Ihr Haar streift mein Gesicht, wie die Erinnerung an diesen verzauberten Abend nun und hier meinen Geist streift, der sich jetzt daran erinnert, was später geschehen ist und der damals bereits ahnte, dass es enden würde. Nein, an jenem Abend wusste ich noch nicht, wie ich sie verlieren würde. In unserem magischen Zelt, zwischen Waldsee und Bach, existieren nur sie und ich und unsere Liebe und Wärme und Licht und Frieden und der alles verschlingende Aufruhr nicht enden wollenden Begehrens.

      In einer abgeschiedenen Bucht baden wir im vierzehn Grad kalten Wasser der nördlichen Ostsee. Wir lieben uns im Meer, am helllichten Tag. An einem anderen Tag streiten wir uns auf der Fahrt zu einer der millionen malerischen Schäreninseln darüber, wie ein Kanu zu steuern ist. Außerdem bringt uns dieser Ausflug den größten Hecht der gesamten Reise, eine unüberschaubare Menge köstlicher Barschfilets und einen völlig überraschenden Regenschauer, dem wir eines der lustigsten