Stefan Paul

unschuldig, wenn du träumst


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ehemals überzeugte Tierschützerin unserem blutigen Treiben abgewinnen kann, da es fernab jeglicher Zivilisation zum Nahrungserwerb geworden ist.

      Besonders intensiv blendet mich das Licht jener Tage. In dem klaren Wasser müssten wir die Fische eigentlich sehen können, sobald wir sie, am Haken um ihr Leben zappelnd, dem Tod entgegen drillen. Doch in den kräuseligen Wellen entdecke ich nur das Sonnenlicht, das sich in ihnen bricht, sehe nur dessen tausendfach gebrochene Reflexion und all die Träume aus Licht, die in ihr gefangen sind.

      Wir sind in Mittelschweden angekommen. Hier erheben sich nur mehr wenige, kleinwüchsige Bäume und Sträucher. Ihre dürren, knorrigen Zweige hängen voller schwarzer Bartflechten. Nachtfröste und wilde Rentierherden begleiten uns auf unserem Weg in den Norden. Die Moore beflügeln meine Fantasie und ich frage mich oftmals, ob ihre Gedanken wohl annähernd den meinen ähneln mögen.

      Wir schlagen unser Lager an einem einsamen See auf, lassen das Kanu zu Wasser und versuchen vom Boot aus, einen Fisch für das Abendessen zu angeln. Auf einer Halbinsel legen wir an und bemerken erst an Land, dass wir einem annähernd schwarzen Nerz seinen Fluchtweg versperren. Er richtet sich auf und faucht uns an. Der flauschige Kerl verteidigt mutig sein Revier gegen die scheinbar übermächtigen Eindringlinge. Wir treten einen Schritt zur Seite und geben ihm die Gelegenheit, lebend zu entkommen. Lautstark in unsere Richtung zischend, zieht sich der Marder zurück. Wir angeln von der Landzunge aus mit künstlichen Ködern. Ich würde gern einen Saibling oder wenigstens eine Regenbogenforelle fangen. Kurze Zeit später jedoch entdecken wir ein Ruderboot auf dem See und bekommen Angst, entdeckt zu werden. Wir haben uns nicht um Angelscheine gekümmert. Als wären sie zwei unschuldige Weidenruten, verstauen wir die Angeln unauffällig im Bauch unseres Kanus.

      Im Schutz eines mannshohen Granitbrockens vor dem Zelt habe ich ein Feuer entfacht. Es hätte die Nacht aller Nächte werden können, hätte ich nicht aus lauter Gewohnheit und irgendeinem nichtigen Grund einen Streit vom Zaun gebrochen. Mitten zwischen zwei Tagen verlasse ich das Zelt und traue meinen Augen nicht: grüne und gelbe Gardinen werden am Himmel zu- und aufgezogen. Sie wehen im Wind, fallen herab und treiben fort, entstehen neu und ändern derweil ihre Farbe in orangerot. Ich hatte darauf gehofft, aber nicht wirklich mit ihnen gerechnet. Ich fühle mich magisch angezogen. Hypnotisiert. Ich möchte diesen märchenhaften Anblick mit ihr teilen. Aber sie liegt dort im Zelt und ist voller Zweifel. Das Wunder dieser Nacht existiert nicht für sie. Sie tut mir Leid.

      Die Bilder beruhigen und stimmen mich gleichzeitig traurig. Ich stehe von meinem Bett auf und ertaste meinen Weg aus dem Schlafzimmer in die Küche. Dort setze ich mich auf einen Stuhl und lehne mich mit der linken Schulter an die warme Heizung. Ich fröstele. Vor mir auf dem Tisch sollte eine Flasche Rotwein stehen. Voller Vorfreude greife ich nach dem kühlen Glaskörper. Neben der Flasche liegt ein Korkenzieher: diese Szene erscheint mir von langer Hand vorbereitet. Ich entkorke die Flasche, rieche an der entstandenen Öffnung und trinke erfreut einen ersten Schluck. Ich mag es, meinen Wein direkt aus der Flasche zu trinken. Er stammt aus Chile und schmeckt mir. Zufrieden lehne ich mich auf dem Stuhl zurück. Ich schließe zwei sinnlose Augenlider und hoffe auf ein paar Bilder, die mich zuversichtlich zu stimmen vermögen.

      Einige Tage später zelten wir an einem norwegischen Fjord. Dorschangeln an der Küste, das Wasser so klar als wäre es gar nicht vorhanden. Wir schießen Fotos von todgeweihten, trotzig um ihr kleines Leben kämpfenden Fischen an silbernen Haken und von weißkehligen Wasseramseln, die in den Stromschnellen der Bäche nach Insektenlarven tauchen. Muscheleintopf mit Zwiebeln und Weißwein im Eingang des Zeltes auf einer vom Frost gepuderten Wiese. Am Morgen schauen ein paar neugierige Kühe auf ihrem Weg zur Weide in unsere verletzliche Behausung. Wir sind sehr glücklich an diesem Morgen und ahnen, dass wir irgendwann einmal zu dritt sein werden.

      Der Abend wird schrecklich kalt, jede Umarmung zu einem Akt der Lebenserhaltung. Ihre Berührungen schenken mir unmenschliche Wärme, gnadenlose Zärtlichkeit. Wie kann sie mir so etwas antun? Sie ist alles. In diesem Augenblick ist die Nähe der Welt gefangen. Ich bin überrumpelt von Liebe und Glück und Geborgenheit. Sie schenkt mir so viel mehr als alles in diesem Moment voller Wärme und Haut und Schweiß und Kälte und Hitze. Der Atem weiß, das Laken nass und kalt, klar und bunt, kalt und heiß und kalt. Die Trauer trifft mich hart, mit gnadenloser Schärfe und Klarheit.

      Die Tage und Wochen verfliegen rasch. Irgendwann fange ich in einem der hellblauen Flüsse des Nordens eine halbpfündige Bachforelle. Schon lange habe ich diesen scheuen Räubern nachgestellt. Ich bin sehr stolz und wünsche mir, sie möge Anteil an meiner Freude nehmen. Ich grille den Fisch vorsichtig an einem schlanken Birkenzweig. Nach dem Essen wird ihr schlecht und sie muss sich übergeben. Sie beteuert, dass ihre Übelkeit nichts mit dem Fisch zu tun hat. Wir ahnen beide, dass es einen anderen Grund geben muss. Einen, der unsere Welt verändern wird. Als wir schließlich wieder zu Hause ankommen, können wir weder Licht noch Leichtigkeit jener Tage wiederfinden. Daheim existieren nur noch Bilder. Bilder auf Papier und Bilder im Kopf.

      Ich greife nach der Flasche und durchsuche mein Hirn nach weiteren Erinnerungen. Der Wein ist warm und mild und eben so färbt er das Gefühl, das sich in mir ausbreitet.

      Wir kehrten gemeinsam zurück und lebten eine Zeitlang nebeneinander her. Ich frage mich, ob ich in meinen Tagträumen Gründe finden werde. Die Gründe für ihr letztendliches Verschwinden. Kurz vor ihrem Tod sitze ich an ihrem Bett und halte ihre Hand. Sie sagt, ich trüge einen großen Teil der Verantwortung daran, was mit ihr geschehen ist.

      Ich spüre das Verlangen, mich zu bewegen. Ich liebe bereits diesen langen Flur, von dem meine Schwester sagt, er sei viel zu dunkel. Das Wohnzimmer liegt still vor mir, eine Wüste ohne Sand oder Skorpione. Das nehme ich zumindest an. Der ereignislose Raum langweilt mich. Im Schlafzimmer schließe ich, wie an jedem Abend, die Fensterläden. Elisa hat panische Angst vor Gewittern, deshalb brachte sie seinerzeit zwei riesige, himmelblau gestrichene Fensterläden innen vor dem Fenster ihres Schlafzimmers an. Die Vorstellung, mich auf diese Weise vor der Welt verbergen zu können, hat mir von Anfang an gefallen. Gewitter schrecken mich nicht, ich finde sie aufregend. Aber ich habe Angst vor bösen Geistern und starken Gefühlen und vor Verantwortung und vor Frauen und Männern und vor dem Leben und dem Licht und vor Lachen, ohne zu weinen, und vor Gott und der Frage, was danach kommt.

      Ich schließe die hölzernen Läden und frage mich, ob ich bereits müde genug bin, um schlafen zu können. Nein. Ich werde einen weiteren Schluck Wein trinken und vielleicht noch eine Episode meines vergangenen Lebens an mich heran lassen.

      Sicher und ohne Hilfsmittel, jedoch leicht schwankend, finde ich meinen Weg durch den Flur und in die Küche. Dort riecht es nach frischem Fleisch. Ich erinnere mich, am Vormittag ein Schweineschnitzel aus dem Gefrierschrank genommen und zum Auftauen in die Spüle gelegt zu haben. Ich finde die Bratpfanne im Ofen, stelle sie auf den Herd, gebe etwas Öl hinein und stelle die Kochplatte an. Als die Wärme der sich erhitzenden Pfanne endlich mein wartendes Gesicht erreicht, lege ich das Schweineschnitzel hinein und registriere unmittelbar den anschmiegsamen Duft gebratenen Fleisches. Ich halte das Ende des Pfannenstieles in meiner rechten Hand und lache.

      Für den Rest meines Lebens möchte ich in diesem Zustand verweilen. Ich bin absolut schwerelos und befinde mich fernab jeder ernsthaften Verantwortung. Ich würde diese Empfindung gern mit jemandem teilen. Es fällt mir jedoch niemand ein, der meine Gefühle hätte verstehen sollen. Und welcher Mensch versteht denn schon die Gefühle eines ganz und gar anderen?

      Das Fleisch schmort in der Bratpfanne und in meinem Hirn regt sich die Assoziation eines männlichen Genitals, das sich in der Hitze versteift und aufrichtet. Der in heißem Öl brutzelnde Schweinefleischpenis wächst mir entgegen. Fett spritzt auf meine Hände und Unterarme. Ich verstreiche es mit den Handflächen und stochere mit der Gabel nach dem Schnitzel. Anders als auf den Bildern in meinem Kopf ist es deutlich geschrumpft. Außerdem beginnt es, unangenehm zu riechen. Eine enttäuschende Erfahrung. Ich hebe die Pfanne an und schiebe ihren Inhalt mithilfe eines hölzernen Pfannenwenders in den Ascheimer. Ohne spürbare Verzögerung riecht es nach angeschmortem Plastik.

      Dann eben Brot. Ich schneide eine Scheibe oder etwas Ähnliches von dem Laib herunter. Sie liegt