Stefan G Rohr

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung


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Wunden eines Suizides verheilen bei den Hinterbliebenen – wenn überhaupt – nur sehr langsam. Die Narben hingegen bleiben für alle Zeit. Die Schmerzen und das wahrgenommene Leid sind schier unerträglich, mit unbekanntem Ausgang, mit immer wieder aufflammenden neuen Attacken. Ein Buch über die eigene Tragödie zu verfassen – trotz des Zieles anderen Betroffenen Hilfe hierdurch zu geben – stößt deswegen an die Machbarkeitsgrenze, überschreitet diese mitunter, wie ich während des Schreibens und den Korrekturläufen immer wieder schmerzvoll feststellen musste.

      Im Vorfeld, aber auch während der Arbeit an diesem Buch, kamen mir überdies immer wieder Zweifel, ob ich dazu fähig sein würde, zudem, ob es mir überhaupt obliegt, ein solches Werk zu verfassen. Schließlich bin ich weder Psychologe, noch Therapeut, auch kein Arzt oder Trauerbegleiter. Würde ich mich also nicht nur viel zu weit über meine Kompetenzen hinaus wagen? Würde ich mich auf Themen und Problemstellungen einlassen, für die Menschen jahrelang studiert, sich als Fachleute in der Praxis geformt und komplettiert haben? Steht es mir überhaupt zu, mich auf dieses Terrain zu begeben, unabhängig der Tatsache, ob und was ich selbst erlebt, gespürt, recherchiert und geschlussfolgert habe, so sehr ich auch glaube, dass meine Erfahrungen mitnichten als Einzel- oder Sonderfall gesehen werden können, man meine Geschichte und mich durchaus als repräsentativ verstehen muss?

      Am Ende dieser Überlegungen aber bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es weder verwerflich noch unsinnig sein kann, als Suizid-Betroffener ein Dokument zu verfassen, welches allein darauf abzielt, anderen Menschen in einer Ausnahmesituation zu helfen, Beistand zu geben, Augen ein wenig zu öffnen, die geschundene Seele zu beruhigen.

      Mir geht es zudem auch gar nicht darum, „Recht“ haben zu wollen, auch nicht um eine kybernetische Konkurrenz zu Experten des Psychotherapie- oder Psychiatrie-Genres zu entwickeln, nicht um Besserwisserei, Angabe oder gar Narzissmus. Auch nicht darum, mein eigenes Leid zu kaschieren, in dem ich mit halbgaren Thesen und pseudowissenschaftlichen Attitüden aufwarte. Hier könnte ich nur als Scharlatan beurteilt werden, was dann sicher auch berechtigt wäre.

      Suchen Sie eine akademische Expertise, dann sind Sie besser bedient, dieses Buch weder zu kaufen, noch zu lesen. Zahlreich und fast überall sind Experten zu finden. Das sollte demnach kein Problem darstellen. Suchen Sie die Nähe zu einem Menschen, der durch die gleiche Hölle gegangen ist, die aktuell die Ihre ist, zu jemandem, der alle Phasen durchlaufen hat, die auch die Ihren waren, sind oder sein werden, der Ihnen somit Erfahrungen nahebringen kann, die ganz sicher hilfreich sein werden, auch wenn diese dann nicht identisch 1:1 bei Ihnen in Ansatz zu bringen sind, dann wären Sie schon ganz richtig in diesem Buch angekommen.

      Aber vor allem werde ich auf die schier unzählig anmutenden Fragen eingehen, die Ihnen aktuell (und noch für sehr lange Zeit) den Mittelpunkt Ihres Daseins nach dem Suizid Ihres geliebten Menschen ausmachen werden. Das werde ich weitestgehend sehr „unwissenschaftlich“ gestalten, aber dafür mit umso größerer Verständigkeit, der richtigen Antizipation und objektiver Ehrlichkeit. Denn das ist es, was Sie derzeit am meisten benötigen – und was unglücklicherweise am schwersten zu generieren ist.

      Aber ich möchte an dieser Stelle auf Sie als Leser/in eingehen und Ihnen aus tiefsten Herzen sagen, wie leid es mir tut, dass Sie Anlass haben, dieses Buch zu lesen. Kein fröhlicher und unbeschwerter Mensch greift zu einem Buch wie diesem. Dazu bedarf es einer Tragödie, und eine solche wird Ihrem Motiv mit großer Sicherheit zu Grunde liegen. Lassen Sie mich Ihnen deshalb auch sagen, dass Ihr Schmerz durch nichts, auch nicht durch dieses Buch, geheilt werden kann. Die Tiefe und Unbegreiflichkeit ist nur von Ihnen selbst zu ergründen, niemand wird es Ihnen nachempfinden, nicht abnehmen, lediglich dann antizipieren können, wenn von diesem ein ähnlicher Schicksalsschlag erlebt und verarbeitet werden musste.

      Es tut mir unendlich leid für Sie, und nichts wird Sie positiv beflügeln können, noch nicht einmal wenn ich Ihnen sage, dass zwar der Schmerz für immer bleibt, sich das Leid jedoch in Bahnen lenken lässt, die es mit der Zeit erträglich machen werden. Hierzu empfehle ich Ihnen das Buch der amerikanischen Autorin und Psychotherapeutin Megan Devine, welches den Titel trägt „Es ist okay, wenn Du traurig bist“ (ISBN Print 978-3-86882-940-2; eBook 978-3-96121-227-9). Hinter diesem fast ein wenig trivial anmutenden Titel verbirgt sich ein Meisterwerk der Trauerbewältigung, der Analyse und Aufarbeitung von Schmerz und Leid, angereichert mit unzähligen Empfehlungen für diese wohl schwerste Zeit in Ihrem Leben, verehrte/r Leser/in.

      Im zentralen Kontext meines Ihnen nun vorliegenden Buches befindet sich mein persönliches Drama, welches das Potenzial für ein ausgewachsenes Trauma beinhaltet, und ich selbst weiß auch immer noch nicht, ob ich wirklich „über den Berg“ bin. Das wahrscheinlich werde ich wissen, wenn ich selbst einmal meinen letzten Atemzug machen werde. Dann wird es mir möglich sein, diese Frage zu beantworten.

      Meine Geschichte ist nicht die Ihre. Sie soll es auch nicht sein, und ich mache an diesem Punkt in aller Deutlichkeit klar, dass kein Verlust eines Menschen, kein Schicksalsschlag durch Suizid, in den verursachten Schmerzen und Leiden vergleichbar ist. Dafür müssten diese Geschehnisse gleichsam „austauschbar“ sein – und das ist niemals der Fall, ganz unabhängig davon, ob und wie viele Parallelen oder vielleicht sogar partiell identische Fakten und Details den „Fällen“ zu eigen sind. Schmerz und Leid, Trauer und die Gehässigkeit des Schicksals sind nicht skalierbar. Es gibt keine „Richterskala“ für die Eruptionsstärke Ihrer diesbezüglichen Gefühle, kein Maßband zur Messung Ihres aufgerissenen Herzens, keine physikalische Bezeichnung für die Lautstärke Ihres inneren Schreiens. Alles was Sie derzeit durchleiden ist Ihr persönlicher Super-GAU, Ihre Tragödie, Ihr Verlust Ihrer Welt wie sie zuvor war.

      Wie ich eingangs schon schrieb, ist auch genau dieser Punkt einer der Auslöser für meine vielfältigen Zweifel gewesen. Denn was kann ich – als Opfer eines individuellen Suizids – denn schon mitteilen? Was kann es anderen, Ihnen, bringen und helfen, wenn ich „meine“ Geschichte und Erkenntnisse niederschreibe? Gerade, wenige Sätze zuvor, habe ich vehement die Vergleichbarkeit derlei Katastrophen ausgeschlossen. Und nun offeriere ich Ihnen eine Individual-Abhandlung? Mein Entschluss, es dennoch zu tun, basiert auf meinen schmerzlichen Erfahrungen, dass es zwar eine ganze Flut von Beiträgen im Internet, zudem eine schier unüberschaubare Vielfalt an Niedergeschriebenem gibt, die aber so dringend gesuchte Hilfe in kompakter Form nur schwer zu finden ist.

      Nach dem Suizid meiner geliebten Ehefrau zog es mich förmlich in die Recherche. Wie ein Magnet wirkte das Internet auf mich. Ich gab gefühlt eine Million Suchbegriffe in die Suchmaschinen ein, durchpflügte tausende Seiten, Kommentare, las wissenschaftliche Abhandlungen, studierte Berichte, Forschungsergebnisse, las Erfahrungsberichte von „Geretteten“ und sog eine schier unüberschaubare Anzahl von Buch- und Textquellen auf. Eine intensive Phase durchlebte ich auf diese Weise, saß so manches Mal über zwanzig Stunden vor meinem Computer, bis mir die Augen vor Müdigkeit zufielen und ich in mein Bett ging, um wieder eine dieser traumreichen, quälenden Kurzschlaferfahrungen zu machen. Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich etwas gefunden hätte, was mir einen ausreichenden Überblick und eine umfassendere Einsicht in das „Suizid-Geschehen“ ermöglicht hätte.

      Natürlich findet man fast alles wonach Suizid-Geschädigte, im Kerne die eigentlichen Suizid-Opfer – denn das sind wir Hinterbliebenen, die meist jedoch recht profan als „Hinterbliebene“ bezeichnet werden, ganz eindeutig – in einer solchen Zeit suchen. Doch es sind derart viele Mosaiksteinchen, dass es schon einer Sisyphus-Anstrengung gleichkommt, hieraus die Erkenntnisse zu ziehen, die für die Bewältigung des aktuellen Traumas nützlich und hilfreich sind. Hierin besteht meinerseits keine Kritik, ich beschwere mich auch nicht, ebenso wenig möchte ich eine Diskreditierung der veröffentlichten Texte und Abhandlungen hiermit verbinden. Allesamt sind diese im besten Sinne verfasst und gemeint, inhaltlich in großer Zahl hervorragend und fundiert. Und dafür gebührt ihnen Respekt und Dankbarkeit. Was ich lediglich anführen möchte, schon als Begründung für meine eigene, Ihnen nun vorliegende Arbeit, ist die persönliche Erfahrung, dass in der schlimmsten Zeit eines Lebens, nach dem Suizid eines geliebten Menschen, das Kaleidoskop der Empfindungen und Wissensbegehrlichkeiten so bunt und facettenreich ist, dass das „Netz“ hier nur dann Hilfe bereit hält, wenn man sich einer Suche widmet, die sich schlussendlich