Stefan G Rohr

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung


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werden konnte. Ein philosophischer Gedanke, der von einigen unserer Vordenker schon vor langer Zeit zur Frage „Gibt es eine Hölle?“ ausgesprochen wurde, hat sich mir in diesen Zeiten in epischer Breite aufgedrängt: Ja, es gibt eine Hölle, und wir sind mittendrin, wir müssen nicht mehr auf das Jüngste Gericht warten, es liegt bereits hinter uns und es muss die Höchststrafe gegen uns verhängt worden sein, denn diese sitzen wir nun ab. Auch wenn das sehr pathetisch klingt, so erscheint mir dieser Ansatz als der einzige, der sich als sinnsprechende und anzuführende Metapher eignet.

      Psychisch Kranke, die unter schwersten Depressionen leiden, haben vielleicht noch am ehesten die Fähigkeit zur Antizipation. So beschrieb Andrew Solomon in seinem Buch „Saturns Schatten“ das Erleben seiner (schweren) Depressionen als Fall in eine endlose und schwarze Tiefe. Und die Gefahr, als Hinterbliebener eines Suizidenten selbst in zerstörerische Depressionen zu fallen, ist enorm groß. Ich selbst habe an mir beobachten müssen, dass mit dem Abstand von den ersten Tagen und Wochen nach dem Suizid meiner geliebten Frau die Schmerzen, das Leid, die Qualen noch intensiver wurden, der Pegel tatsächlich noch nicht ausgereizt war. So begann ich Angst vor den Attacken zu bekommen. Ich fürchtete mich regelrecht davor, von meinem Schmerz wieder überrascht zu werden, nur weil ich zum Beispiel beim Einkaufen ein Pärchen sah, welches Hand in Hand durch den Laden lief, und ich sofort – ungebremst und unaufhaltsam – einen Weinkrampf hatte, den ich nur mit größter Mühe von anderen Kunden verbergen konnte. Und auch den Fluss meiner Tränen konnte ich lange kaum kontrollieren. Sie strömten einfach herunter, und nach einiger Zeit bemerkte ich das nicht einmal mehr. Durch das viele verkrampfte Weinen, die sich immer wieder aufbäumende tiefe und innere Verzweiflung, war mein ganzer Körper in Mitleidenschaft geraten. Ich hatte längere Zeit eine nicht mehr unterdrückbare Schnappatmung, Hitze- oder Kältewallungen, einen am Boden zerstörten Blutdruck, zitterte immer wieder am ganzen Leibe, bekam Gelenk und Muskelschmerzen, Krämpfe, Übelkeit, war schon bei der kleinsten Kleinigkeit (Einräumen des Geschirrspülers) am Ende meiner Kräfte angekommen. Völlige Appetitlosigkeit wechselte sich unversehens mit regelrechten Fressattacken ab, wochenlang ging ich im Haus auf und ab, von Fenster zu Fenster, auf dem Weg zur Garage, in der Öffentlichkeit nach vorn übergebeugt, mein Gang hatte sich verändert, und ich war über Nacht um ein Jahrzehnt gealtert. Am schlimmsten zu ertragen waren aber die lange anhaltenden Konzentrationsschwierigkeiten, das nicht mehr einwandfrei funktionierende Gedächtnis und eine damit verbundene Fahrigkeit und Nervosität, die mich selbst fast in den Wahnsinn trieb.

      Binnen weniger Schritte oder Sekunden hatte ich vergessen, warum ich in den Keller gegangen oder die Kühlschranktüre geöffnet hatte. Ich stand im Schlafzimmer und es wollte mir partout nicht mehr einfallen, warum ich mich in diesen Raum begeben hatte. War ich, wie sonst gewohnt, ohne Liste im Supermarkt, so war in dieser Phase nicht im Traum daran zu denken – ich hätte nicht mehr gewusst, was ich alles kaufen musste, um meine Versorgung zu gewährleisten. Ich vergaß, wo ich den Wagen in der großen Tiefgarage abgestellt hatte und irrte durch diverse Etagen des Parkhauses, bis ich ihn endlich fand. Meine Sprache war spontan schleppend geworden, mir fielen die einfachsten Wörter nicht mehr ein, stolperte von Satzteil zu Satzteil, um sodann vergessen zu haben, was ich überhaupt sagen wollte.

      Verschlimmert wurde diese Situation zudem dadurch, dass die Regelungen mit Banken, Behörden, Versicherungen oder auch nur dem Sportklub keinen Aufschub duldeten. Nach einem Suizid des eigenen Ehepartners, wie in meinem Fall, mangelt es grundlegend an Stabilität und einer rudimentär vitalen Physis. Die aber ist schon deswegen nicht zu erreichen, da an nächtlichen Schlaf in dieser Zeit gar nicht zu denken ist. Wenn ich für wenige Stunden in den Schlaf geriet, so kam dieser eher einer Ohnmacht gleich, verbunden mit den wildesten Träumen, die mich schweißgebadet immer wieder hochschrecken ließen. In den ersten vier Wochen baute sich so ein Schlafdefizit auf, welches das Potenzial für einen physischen Kollaps barg. Doch ich hielt mich dennoch aufrecht und klappte erstaunlicherweise nicht zusammen. Das war aus meiner heutigen Betrachtung heraus ganz zweifelsfrei dem Umstand geschuldet, nicht allein gewesen zu sein. Fast durchgängig war in den ersten Wochen stets mindestens ein vertrauter Mensch bei mir – dieses Tag und Nacht, und ich kann mit großer Sicherheit behaupten, dass es nur dieser Betreuung zu verdanken ist, dass ich nicht in eine geschlossene Psychiatrie hätte eingewiesen werden müssen.

      Die guten Menschen um mich herum, die teilweise aus großer Ferne angereist waren, nachdem sie alles stehen und liegen gelassen hatten, um mich auffangen zu können, hörten mir zudem schier endlos zu. Sie verschonten mich weitgehend mit eigenen Interpretationen und allgemeinverbindlichen Plattitüden, spendeten nahezu ausschließlich nur darüber Trost, in dem sie da waren, mich immer wieder dasselbe sagen ließen, meinen ewig gleichen Gedankengängen ohne Müdigkeit und Gereiztheit folgten, still beobachteten und mich fürsorglich versorgten, wenn es ums Essen oder um notwendige Aktivitäten ging. Ich kann heute meine Dankbarkeit diesen Menschen gegenüber kaum in Worte fassen, vor allem weil ich erahnen kann, wie aufreibend und belastend die Wahrnehmung ihrer Rolle in diesen langen Tagen und Wochen gewesen sein muss.

      Da ich meine Frau nach ihrem Suizid selbst gefunden habe (siehe Anhang), war meine Lage nochmals besonders erschwert. Nicht nur, dass sich das Bild in meinem Kopf derart festgefressen hatte, dass es mich pausenlos begleitete, unabhängig ob ich wach war oder schlief, ich war vor allem gezwungen, mehrfach am Tage an der Todesstelle vorbeigehen zu müssen, denn schließlich lebte ich in unserem Haus (wie es sich herausstellen sollte) noch ganze fünf Monate weiter. Sicher wäre es möglich gewesen, das Haus übergangsweise zu verlassen, bei einem Freund oder in einem Hotel unterzukommen. Doch mit diesem Gedanken konnte ich mich noch weniger anfreunden. Im Gegenteil, er verursachte bei mir zusätzlichen Schmerz. Denn – trotz der Grausamkeit – bedeutete mir unser Haus, mein ungebrochenes Zugegensein, eine mentale Nähe zu meiner toten Ehefrau, die ich nicht aufzugeben bereit war. In dieser Phase (und bei mir durchaus lange darüber hinaus) klammert man sich auch an das Metaphysische, sucht auch nach Zeichen und Signalen aus dem „Jenseits“, aus der „Zwischenwelt“ aus dem Universum. Und nicht selten wird man auch fündig.

      Was ist ein Trauma

      Hierzu die Definition der „Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumalogie“:

       Der Begriff Trauma (griech.: Wunde) lässt sich bildhaft als eine "seelische Verletzung" verstehen, zu der es bei einer Überforderung der psychischen Schutzmechanismen durch ein traumatisierendes Erlebnis kommen kann. Als traumatisierend werden im Allgemeinen Ereignisse wie schwere Unfälle, Erkrankungen und Naturkatastrophen, aber auch Erfahrungen erheblicher psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt sowie schwere Verlust- und Vernachlässigungserfahrungen bezeichnet.

       Umgangssprachlich wird der Begriff Trauma häufig in Bezug auf verschiedenste als leidvoll erlebte Vorkommnisse verwendet, um zu kennzeichnen, dass es sich dabei um eine besondere Belastung für den Betroffenen gehandelt hat. In den medizinischen Klassifikationssystemen, die maßgeblich sind für die fachgerechte Beurteilung psychischer Beschwerden, ist der Begriff jedoch wesentlich enger definiert und schließt allein Ereignisse mit ein, die

       objektiv "mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß" einhergehen oder "die tatsächlichen oder drohenden Tod, tatsächliche oder drohende ernsthafte Körperverletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit von einem selbst oder Anderen" einschließen, sowie

       subjektiv "bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden“ beziehungsweise mit "starker Angst, Hilflosigkeit oder Grauen" erlebt wurden.

       Als traumatisch erlebte Ereignisse können bei fast jedem Menschen eine tiefe seelische Erschütterung mit der Folge einer Überforderung des angeborenen biologischen Stresssystems verursachen. Somit wirkt sich ein Trauma nicht nur seelisch, sondern auch körperlich aus. Die Überflutung des Gehirns im Rahmen einer überwältigenden Stressreaktion behindert die angemessene Verarbeitung des Erlebten mit der Folge, dass der Betroffene die gemachte Erfahrung nicht wie gewohnt in seinen Erlebnisschatz integrieren und dann wieder Abstand davon gewinnen kann. Dieser Umstand kann dazu führen, dass der Organismus auf einem erhöhten Stressniveau verharrt und charakteristische Folgebeschwerden entwickelt.