Stefan G Rohr

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung


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Suizid unseres geliebten Menschen damit ein für alle Mal vom Tisch gewesen wäre? Das ist nicht nur höchst unwahrscheinlich, zudem auch eine rein theoretische Annahme, die sich in keiner Weise belegen lässt.

      Wir leben nun einmal in Momenten, in Zeitfenstern und Fügungen. Sich im Nachhinein vorzuwerfen, es hätte von Ihnen mit mehr Vernunft oder Fürsorge verhindert werden können, träfen allenfalls zu, wenn Sie einen Unfall mit 2,5 Promille Alkohol im Blut verursacht hätten. Dann dürften Sie sich Schuld zuweisen und den Rest mit Ihrem Gewissen ausmachen.

      Verzeihen Sie mir bitte diese profane Metapher. Aber sie dient der Objektivierung. Sie haben gehandelt – ob im Detail (objektiv/subjektiv) fehlerhaft ist nur eine Nuance. Welche Chancen waren Ihnen denn gegeben? Ihr Handeln fand auf einem längst bestellten Acker statt, denn das Unglück hängt meist in seiner kausalen Kette von vielen Faktoren ab, die Sie persönlich gar nicht komplett verantworten und nur zu einem geringen Teil selbst beeinflussen können.

      Im Fokus dieser Betrachtungen steht die Kommunikation. Und mit dieser die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit der Gespräche zwischen Ihnen (und Ihrem Umfeld) und dem nun verlorenen geliebten Menschen. War es so, dass Sie etwas von dem gesagt (oder gemeint) haben, was ich jetzt exemplarisch aufführe?

       Mich interessieren Deine Probleme nicht!

       Lass mich in Ruhe mit Deinen Sorgen!

       Ich habe kein Interesse Dir zuzuhören!

       Ich will von alledem nichts wissen!

       Es ist mir egal wie Du Dich fühlst!

       Es ist mir Wurst ob Du an Suizid denkst!

      Oder ist es nicht vielmehr so gewesen, dass der geliebte Mensch Ihnen gegenüber seine Probleme, Ängste, Sorgen, Depressionen, innersten Gedanken verborgen hat? Hat er Sie vielleicht sogar belogen, getäuscht, in die Irre geführt? Erkennen Sie nicht heute ein Schauspiel, geschickte Tarnung, gezielte Ablenkung von Plänen und Vorbereitungen?

      Und haben Sie nicht doch verschiedentlich hier oder dort sogar kritische, besorgte Fragen gestellt? Was ist in letzter Zeit los mit Dir? Wieso bist Du so still? Hast Du Sorgen? Hast Du Schmerzen? Warum schläfst Du so schlecht? Kann ich Dir irgendwie helfen? Soll ich Dir etwas abnehmen? Haben Sie vielleicht sogar Problemzonen erkannt, Empfehlungen und Ratschläge gegeben, gemahnt, zur Vorsicht aufgerufen, zur Besinnung oder zur „Entschleunigung“ aufgefordert?

      Und welche Antworten haben Sie darauf bekommen? Hat Ihnen der geliebte Mensch gesagt: „Ich habe Depressionen!“ – „Ich kann es nicht mehr ertragen!“ – „Ich habe sehr schlechte Gedanken!“ - „Ich denke an Suizid!“ Ja, gereicht hätte mit Sicherheit ein einfaches Sätzchen: „Hilf mir!“

      Kommunikation ist weder eine Bring- noch eine Holschuld. Kommunikation ist ein interaktiver Prozess der darauf beruht, dass jeder Teilnehmer seinen Teil dazu beiträgt, dass der notwendige Informationsaustausch in Gang kommt, aufrechterhalten bleibt und die jeweiligen Ziele erreicht werden. Das ist innerhalb von Geschäftsprozessen in keiner Weise anders als im privaten Zwischenmenschlichen, einschließlich des Zusammenlebens mit einem geliebten Menschen.

      Blicken Sie nun zurück, so wird es Ihnen ganz sicher wie Schuppen von den Augen fallen, dass es mit der aller größten Wahrscheinlichkeit für Sie möglich gewesen wäre, eine Rettung (u.a. mit externer, professioneller Unterstützung) herbeizuführen. Doch dazu bedarf es der sinnstiftenden und auslösenden Signalgebung. Und selbst wenn es auch heutiger Sicht heraus derlei Signale gab, so bedürfen auch diese eines Kontextes, der sich aus Sensibilisierung, Kommunikation und Interpretation nährt. Was Ihnen heute so klar erscheint, war Ihnen damals höchstwahrscheinlich völlig im Verborgenen.

      Wie also war das Kommunikationsverhalten Ihres geliebten Menschen, sehr verehrte/r Leser/in? Insbesondere in der letzten Zeit vor dem Suizid? Welche Verhaltensstörungen konnten Sie identifizieren, die Ihnen (oder anderen) einen Hinweis auf eine bevorstehende Katastrophe oder eine psychische Störung gaben? Und wie war dieser Mensch überhaupt ausgerichtet? War dieser ein ansonsten offener Typ – oder neigte sie/er eher zur Verschlossenheit? Gab es vielleicht gerade vordringliche andere Probleme in Ihrem (gemeinsamen) Leben zu meistern, die Ihnen Sorge bereiteten, Ihre Konzentration abforderten, die existenziell oder zumindest bedeutend waren? Haben Sie vielleicht in der letzten Zeit selbst Lebenssituationen durchlaufen müssen, die ihre massive Zuwendung erforderten? War Ihr geliebter Mensch vielleicht so besorgt um Sie, dass sie/er Ihnen die eigenen Probleme nicht auch noch aufbürden wollte, sich (wie gewohnt) eher zurücknahm und sich selbst nicht so wichtigmachen wollte?

      Wir fragen so oft andere Menschen: „Wie geht´s Dir?“ Fast schon ein Automatismus, wenn wir anderen begegnen. Eine Standardfrage, die meist gar keine Antwort erwartet, außer das stereotype „Danke! Gut!“. Probieren Sie es einmal aus, auf diese Frage ehrlich zu antworten und zu sagen: „Mir geht es schlecht!“ Sie werden entweder in ein recht irritiertes Gesicht blicken, oder vielleicht sogar die Antwort erhalten: „Ach Gott, das tut mir leid. Aber wir haben ja alle unsere Sorgen.“

      Was ich damit sagen will ist folgendes: Wir haben es uns „kulturell“ angewöhnt, dass es uns immer „gut“ geht. Und wenn nicht, dann behaupten wir es dennoch – das jedenfalls gegenüber allen Menschen, die nicht zu unserem intimsten Kreis gehören. Sich aber zu öffnen und zu sagen, dass es einem schlecht geht, man Sorgen, Ängste hat, vielleicht sogar verzweifelt ist, ist nur dann angemessen, wenn wir uns nicht nur absoluter Vertrautheit gewiss sind, sondern zudem auch Hilfe oder zumindest Zuspruch erhoffen. Dieser „Hilferuf“ basiert aber auf gesunder Emotionalität im Einklang mit gesundem Realismus. Ist einer dieser beiden Pfeiler marode, so wird auch der „Hilferuf“ – wenn dieser dann überhaupt vernehmbar abgesetzt wird – ein anderer sein. Vielleicht subtiler, vorsichtiger, verschlüsselter, leiser. Oder er bleibt eben völlig aus. Aus Scham, aus Fürsorge, aus falscher Zurücknahme. Vielleicht auch aus der Komplexität und Verworrenheit der verspürten Probleme, die einfach nicht mehr erklärbar erscheinen. Vielleicht auch aus der Tatsache, dass die Lösung längst bekannt ist und mannigfaltig kommuniziert wurde, im Auge des Präsuizidenten aber keine akzeptable Lösung darstellt, seine Prinzipien verletzt oder sich mit seiner (labilen) Psyche einfach nicht verträgt.

      Meine geliebte Frau war per se eher eine verschlossene Person. Sie neigte gewiss stark dazu, ihr „Herz zu einer Mördergrube“ zu machen. Das betraf nicht alle Problemarten gleichermaßen. In Bezug auf berufliche Themen war sie offen und suchte bis (fast) zuletzt meinen Rat und meine Erfahrung. Hinsichtlich ihres langen und schweren Rückenleidens, den damit einhergehenden vielen Schmerzen und Einschränkungen, war sie nicht nur zurückhaltend, meist sogar verschwiegen oder im besten Falle verniedlichend. In nur sehr seltenen Situationen öffnete sie sich vollends, das aber nur, wenn es nicht mehr anders ging. Ich selbst war in den langen Jahren mit ihr stark sensibilisiert, ihre ganz eignen „Zeichen“ zu erkennen, die sie zum Beispiel aussendete, wenn sie starke Schmerzen hatte. Und wenn ich dann fragte (wissend, dass es so ist) „Hast Du wieder Schmerzen?“, dann war ihre Antwort nahezu immer: „Alles gut!“ Ich hatte gelernt, dass sie auf ihre Weise damit umgehen konnte. Sie war äußerst verantwortungsvoll im Umgang mit ihren starken Schmerzmedikamenten, steuerte die Dosen stets allein, setzte die Mittel immer wieder ganz ab, und sie beteuerte stets, dass Sie nach all den Jahren gelernt hätte, mit einem gewissen Maß an Schmerzen (die normal jeden anderen schwer belastet haben würden) durchaus leben zu können.

      Alles gut! Das war das Credo ihrer Problemkommunikation. Und auch wenn ich – was ich nie aufgab – tiefer nachfragte, sie zur Öffnung ihrer „Mördergrube“ drängte, blieb sie fast immer dabei, lenkte ab, wechselte das Thema oder fauchte mich irgendwann an: „Hör auf mich zu fragen. Ich melde mich schon, wenn es schlimmer wird.“ Sie war seit vielen Jahren, mehr als ihr halbes Leben, daran gewöhnt, ihre Probleme nicht zu diskutieren. Ihr Ehrgeiz, ihr Perfektionismus, aber auch ihre Fürsorge für ihr intimstes Umfeld sorgten dafür, dass ihre Lasten nicht die der anderen zu sein hätten. Sie würde mit alledem ganz allein zurechtkommen.

      Wenn man daran gewöhnt ist, dass jemand wegen seiner vielen Rückenschmerzen so manche Nacht nicht ruhig (oder gar nicht) schläft, dann ist die Signalgebung einer depressiv