Stefan G Rohr

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung


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       Das Heulen im Zentrum der Trauer ist roh und real.

      

      

       Trauer ist Liebe in ihrer wildesten Form.

      

      

      

       Megan Devine,

       amerikanische Psychotherapeutin und Trauerbegleiterin

      Sowohl für den Schmerz, als auch für die Liebe, gibt es keine Sprache. Wir sind lediglich in der Lage von tiefem, bisher ungeahnten Schmerz, oder der unendlichen, allumfassenden Liebe zu sprechen. Das sind aber nicht mehr als nur Worte. Die tatsächliche Dimension, vor allem das Wahrhaftige, können wir in keiner Sprache nachempfindbar erklären.

      Unabhängig davon, ob sich unser Verlust auf einen geliebten Partner, Verwandten, das eigene Kind oder einen guten Freund bezieht, es ist der Verlust der Liebe, den Sie, liebe/r Leser/in, als das Schmerzhafteste verspüren. Und Ihre Trauer (so Megan Devine) ist der Schmerz um die verlorene Liebe, die Unerfüllbarkeit dieser im Zusammensein mit dem Menschen, dessen Tod zu beklagen ist. Bei uns als Hinterbliebene ist die Liebe nämlich ungebrochen vorhanden, wir verspüren sie nicht nur weiter, sondern nochmals viel intensiver. Der Sendungsempfänger, der Gegenpol ist jedoch nicht mehr (weltlich) gegenwärtig, unsere Liebe sehen wir deshalb als verloren an, sie geht auf einen Schlag ins Leere, findet keinen „Abnehmer“ mehr, keinen Mund zum Küssen, keine Hand zum Halten, keine Arme und Schultern, die uns noch empfangen können.

      Und das ist grausam, ich kann es nicht anders beschreiben.

      Zu all unserer Erkenntnis über die „verlorene“ Liebe drängt sich zusätzlich eine quälende Frage, ein Verdacht, eine zerstörerische Befürchtung auf: Hat mich der von mir so geliebte Mensch eigentlich selbst noch geliebt? Denn der Suizid – vielleicht haben wir den Toten auch noch selbst finden müssen – erzeugt bei uns reflexartig den Vorwurf: „Wie konntest Du mir dieses Bild, diesen Schmerz, diese Qual antun, wenn Du mich doch geliebt hast?“

      Ohne den Anspruch auf umfassende Allgemeingültigkeit zu erheben, erlaube ich mir an dieser Stelle jedoch die womöglich ernüchternde (und erneut schmerzhafte) Einschätzung meinerseits, dass ich davon ausgehe, dass die von uns verstandene Liebe im Moment des Suizids tatsächlich nicht mehr gegenwärtig war. Ich kann mir vorstellen, dass Sie an dieser Stelle dieses Buches mit Ihren Tränen zu kämpfen haben. Und ich gestehe, auch ich muss erneut beim Schreiben dieser Zeilen weinen. Aber es hilft nichts, denn wir wollen Klarheit und keine Lügen. Sie können in diesem Buch über die Phasen des Suizids lesen und tiefergehende Analysen über diese erfahren (siehe Teil 4). Und in der Phase der Suizidausführung, in der Regel auch in einem schwer pauschal zu definierenden Zeitraum davor, ist es dem (Prä)Suizidenten gar nicht mehr möglich, sich mit der Liebe auseinander zu setzen. Würde es dieses getan haben, in der Art und Weise, in der Tiefe und Verantwortung, wie wir es als „gesunde“ und „vollständige“ Menschen tun können, dann wäre ihm die Tat nicht mehr möglich gewesen. So, wie Sie jetzt die Unmöglichkeit der Ausführung auf der Basis der Liebe für sich verstehen (und indirekt einfordern), so wäre auch der Suizident nicht mehr in der Lage gewesen, Ihnen – entgegen seiner Liebe – ein solches Unglück zuzumuten, und seine eigene Liebe zu zerstören.

      Es ist somit kaum möglich, einen anderen Standpunkt einzunehmen, als die Tatsache, dass die „Liebe“ bei unserem verlorenen Menschen so stark in den Hintergrund getreten ist, dass diese für ihn keine Relevanz mehr hatte. Und das wiederum lässt einen weiteren Schluss zu: Der Todeswunsch muss derart groß gewesen sein, dass das Opfer der Liebe hinzunehmen war. Und ja, um sich seiner eigenen als unerträglich verspürten Schmerzen befreien zu können, musste die Liebe in der finalen Phase verdrängt und vielleicht sogar schlussendlich abgelehnt/bekämpft werden.

      Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen jetzt gerade etwas durch den Kopf schießt, was Sie vielleicht in Ihrem Leben schon diverse Male in verschiedentlichen Situationen gedacht oder gar gesagt haben: „Das würde ich Dir nie antun!“ Und mit diesem Selbstverständnis begegnen Sie nun auch ihrem geliebten Menschen, den Sie per Suizid verloren haben. Wenn dieser Sie wirklich geliebt haben würde, dann könnte er Ihnen das doch nicht antun!

       Der Mensch hat Sie mit seinem Tod selbst herbeigeführten konfrontiert!

       Hat Ihnen vielleicht zugemutet, ihn tot aufzufinden!

       Ihren Schock in Kauf genommen!

       Sie brutal in ein Trauma gestürzt!

       Sie fühlen sich verraten!

       Sie fühlen sich vielleicht sogar missbraucht!

       Sie fühlen sich entwurzelt, beraubt!

       Sie erkennen, wie Sie getäuscht wurden, belogen, in die Irre geführt!

       Sie müssen davon ausgehen, dass ihm Ihre jetzt entstandenen Probleme, Ihr Schmerz, Ihr Leid völlig egal waren!

       Ihr Leben fühlt sich vollkommen zerstört an.

       Ihr Leben wird nie wieder so sein wie es einmal war.

       Sie haben vielleicht sogar ein Trauma davongetragen, leiden selbst an Depressionen, an Ängsten und sind bis ins tiefste Innere verzweifelt.

      Ich las in meinen Recherchen von einer Suizid-Hinterbliebenen, deren Mann sich wenige Monate zuvor in den Tod gestürzt hatte. Sie berichtete in einem Interview über ihre Qualen und Leiden, wobei sie aber zu einem Resümee kam, das ich mir auch schon selbst vor Augen geführt hatte: „Wenn mein Mann auch nur annähernd gewusst hätte, was er mir mit seinem Tod antuen würde, dann hätte er es nicht übers Herz gebracht, sich selbst zu töten.“ Setzen wir die gewohnte Liebe und Fürsorge voraus, so erscheint es uns angesichts der eigenen Verzweiflung und der unsäglichen Leiden für ausgeschlossen, dass man derlei seinem geliebten Menschen antun kann. Die Liebe hätte diese doch verhindert – ergo wird unser Verlorener einfach nicht gewusst haben, was er mit seiner Tat bei uns anrichtet.

      Aber es ist nicht so, jedenfalls kann davon nicht generell ausgegangen werden. Viel wahrscheinlicher ist es, dass an die Stelle der Liebe die Konzentration auf die Ausführung des eigenen Todes trat. Die Liebe wäre nämlich hinderlich gewesen. Derlei Gedanken können die Hölle bedeuten. Sie haben nicht nur den Tod Ihres geliebten Menschen zu verkraften, zudem auch noch die vermeintliche Versagung der Liebe in den vielleicht wichtigsten Stunden dieses Menschen. Was mag alle gezeigte und bekundete Liebe zuvor noch bedeuten, wenn in einem solchen Moment nichts mehr von dieser übrig zu sein scheint? Schlimmer noch: diese mit einem irrationalen, verwirrten Wunsch nach Tod ausgetauscht wurde!

      Aber was ist, wenn wir einmal versuchen, eine andere Perspektive einzunehmen, empathisch die Gefühlswelt unseres geliebten Menschen einzunehmen, wenngleich uns das gewiss nur bruchstückartig gelingen kann?

       Wollte uns der Mensch vielleicht von sich entlasten? Aus Liebe zu uns, aus Fürsorge, aus Anerkennung unserer bisherigen Zuwendung oder Aufopferung?

       War er der Meinung, er hätte uns nicht „verdient“? Waren wir zu „gut“ für ihn, konnte er unsere Erwartungen nicht mehr erfüllen?

       Befürchtete dieser Mensch vielleicht, dass seine Probleme dazu führen würden, dass wir ihn abweisen, wohlmöglich sogar verlassen werden?

       Ist er einer tragischen Fehleinschätzung unterlegen, dass wir es ohne ihn im Leben „besser“ haben würden?

       Wollte dieser Mensch uns nicht mehr zumuten, was er für sich selbst an Zukunft (z.b. Krankheit, Schmerz, Siechtum) befürchtete?

       Bestand wohlmöglich die Auffassung, dass wir ohne ihn (nach seinem Tod) zu einem besseren Leben gelangen könnten, so zum Beispiel eine (neue) Liebe finden würden, die wir „verdienen“?

       Glaubte