Stefan G Rohr

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung


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und nun verlorenen Menschen im Nachgang zu betrachten, mit dem Ziel, sich die folgende Frage zu beantworten: War es Ihnen objektiv (!) möglich, die Katastrophe zu erkennen? Und wenn ja, dann schließen sich die Betrachtungen über das „Wann?“ sowie die „Signalstärken“ an.

      Niemand in der Welt läuft herum und stellt Menschen, denen es gerade nicht besonders gut zu gehen scheint, die Frage: „Denkst Du gerade an Suizid?“ Dazu bedarf es eindeutiger, zumindest aber klarerer Hinweise und Alarmmomente. Wenn hingegen ein Präsuizident sich auch noch tarnt, sein Innerstes eben nicht preisgeben will (aus welchen Gründen auch immer), dann haben es selbst versierte Therapeuten äußerst schwer, dem drohenden Drama auf die Spur zu kommen.

      Andrew Solomon schreibt in seinem Buch „Saturns Schatten“ auch über seine eigenen schweren Depressionen sowie über seine häufigen Suizidgedanken. Selbst erfahrener Therapeut und Psychoanalytiker, bestätigt er dabei sehr eindrücklich, dass es Experten so gut wie unmöglich ist, eine Suizidgefahr zu diagnostizieren, wenn der Patient sich verschließt und tarnt. Dem laienhaften Umfeld ist das somit noch weniger möglich. Das bestätigt nahezu die gesamte Fachwelt. Und das sollten wir uns in unseren Überlegungen stets vor Augen führen.

      Wie also war die Kommunikation des geliebten Menschen, als er noch unentschlossen, ambivalent oder gar schon entschieden war? Vor Ihrer Antwort, sehr geehrte/r Leser/in, versuchen Sie bitte alle Erkenntnisse auszublenden, die Ihnen nun – nach Kenntnis um die Tragödie – im Kopf herumsausen. Damit meine ich die Denkansätze: Man hätte …! Versuchen Sie so objektiv wie möglich zu bewerten. Und kommen Sie zu einer Antwort, die im Kerne aussagt, dass Sie in bestimmten Gesprächen oder Situationen etwas hätten merken, in Alarmbereitschaft geraten müssen, dann wäre es ratsam diesem Aspekt ihre Erklärung gegenüber zu stellen, die Sie sich aufgrund der Lebensgewohnheiten und der damaligen Lebensumstände selbst (ganz logisch) erklärend (und beruhigend) gegeben haben.

      Meine geliebte Frau hatte in den letzten neun Monaten ihres Lebens eine zunehmend reduzierte Libido. Ein drei Viertel Jahr ist schon ein langer Zeitraum, der den anderen Partner zum Nachdenken (und vielleicht sogar Nachfragen) kommen lässt. Doch wenn in dieser Zeit bestimmte Lebensereignisse und –umstände vorherrschen, die den Spaß an einem lebendigen Sexualleben ganz nachvollziehbar trüben können, dann ist es eher die Sorge um die Ereignisse und Umstände, als um den (temporär) sexualgehemmten Partner. In meinem Fall waren es drei Ereignisse, die signifikant waren: die Weiterbildung (mit Examen) meiner Frau, die Krebsdiagnose ihres Vaters (mit allen nachfolgenden Unannehmlichkeiten) und ihr Start in einer neuen Firma mit der jüngst erworbenen Qualifikation (einschließlich Probezeit). In dieser Zeit war es für alle schwer genug, die Ereignisse und Verantwortung so unter einen Hut zu bekommen, dass alles irgendwie noch bewältigt werden konnte. Dass in einer solchen Zeit das eheliche Sexleben hinten herunter fällt, ist weder verwunderlich noch ungewöhnlich. Und ein sorgenvolles, betrübtes Verhalten, deutlich weniger Fröhlichkeit und durchblitzender Pessimismus stellt niemand in einer solchen Situation mit Depressionen und Selbsttötungsüberlegungen in den Zusammenhang.

      Wie oft habe ich mir im Nachgang die Fragen gestellt: Warum hat sie mir nur nie etwas gesagt? Wieso hat sie kein Vertrauen mehr gehabt, mir von ihren selbstzerstörerischen Gedanken zu erzählen? Und es gehört zu den schlimmsten Momenten in der eigenen Tragödie, wenn man zu dem Schluss gelangt, dass es nur eines einzigen Hinweises bedurft hätte, und die Rettung wäre geglückt. Ein Satz mit zwei Worten: „Rette mich!“. Im Anhang (Suizid-Report) habe ich detaillierter über das Verhalten meiner geliebten Frau in den letzten wenigen Monaten vor ihrem Tod berichtet. Dort habe ich beschrieben, wie sehr sie bemüht war, sich zu vernebeln und zu tarnen. Die Kommunikation – als der Schlüssel allen Austausches – muss zumindest Ansätze liefern, die es dem Sendungsempfänger ermöglichen, richtig zu interpretieren und zu reagieren.

      Zuhören allein nutzt (dem Laien) so gut wie gar nichts, wenn es an den wahrhaftigen Inhalten mangelt.

      Und schlussendlich müssen wir uns bei all diesen Fragen in Bezug auf „Sendungen“ und „Empfang“ stets mit dem Wissen arbeiten, dass der Wille zu sterben ein enorm großer gewesen ist. Und mit diesem Willen wird – ganz gewiss innerhalb der Entschlussphase (siehe Suizid-Phasen) – ein starker Reflex einhergegangen sein, alles daran zu setzen, dass das Vorhaben vom direkten Umfeld nicht vorzeitig erkannt und damit verhindert werden konnte.

      Meine geliebte Frau empfand es in ihrer gestörten Psyche noch wenige Stunden vor ihrem Suizid für wichtiger, ihr berufliches E-Mail-Postfach zu bearbeiten und offene Aufgaben zu erledigen. Parallel dazu täuschte Sie noch „geschickt“ und äußerst glaubwürdig Zuversicht und Normalität vor – dieses, obwohl sie davon ausging, nur drei bis vier Stunden hiernach bereits tot zu sein. Sie spielte mir ein letztes Mal ihr Schauspiel vor, erklärte mir mit sensibler Vorausschau auf meine möglicherweise entstehende Skepsis ihr Verhalten und tat alles, um mich nicht zu beunruhigen oder gar „wachzurütteln“. Sie wollte mit großer Kraft ihren Tod herbeiführen – und dafür tat sie alles, was diesen Plan ohne Störung oder gar Entdeckung umsetzen lassen sollte.

      Nicht zuletzt auch aus diesen Gründen bezeichne ich uns Hinterbliebene als „Opfer“. Dieses im doppelten Sinne: Wir sind Opfer der Tat, weil wir mit dieser in so fürchterlicher Weise belastet worden sind, und wir sind Opfer, weil wir auf vielfältige Weise „hintergangen“ und „betrogen“ wurden. Auch wenn diese Aspekte nicht mehr auf gesunder Psyche beruhten, somit in deutlich anderer Weise zu bewerten sind, so bleibt es im Kerne aber ein Faktum, dass unserer Erkenntnismöglichkeit bewusst entgegengewirkt wurde. Und die Frage nach einer rettenden Kommunikation (Warum hat sie/er mir denn nichts gesagt?) ist damit nahezu obsolet. Das „Schweigen“ ist ein Teil des suizidären Prozesses gewesen, alles andere hätte diesem verhindernd entgegengewirkt.

      Teil 2: Mit dem Unfassbaren umgehen

       In diesem Buchteil werden die sicher sensibelsten Probleme und Emotionen aufgegriffen, die es uns Suizid-Hinterbliebenen so unendlich schwer macht, mit dem Unfassbaren richtig umzugehen. Es ist das „Warum?“, die Frage nach der „Liebe“, die quälenden Überlegungen zur eigenen „Schuld“, die aufkeimende „Wut“ , welche uns über den tiefen Schmerz hinaus zusätzlich belasten. Und wir müssen uns wappnen, denn es kommt nun auch auf unser Umfeld an – dieses kann in unserer aktuellen Situation viel Gutes, aber eben auch viel Fehlerhaftes erzeugen.

      

      

      Aus meiner eigenen Erfahrung sowie aus vielen Berichten betroffener Suizid-Hinterbliebenen weiß ich, wie sehr (und wie schnell) sich der fürchterliche Kreislauf der Fragen nach dem „Warum?“, „Wie konntest Du mir das antun?“ oder nach der „Schuld“ zu einem tosenden Taifun in unserem Inneren aufbäumt. In diesem Buch widme ich mich ganz gewiss und in zentraler Weise auch exakt um diese Problematiken, denn es sind wohl die quälendsten Ungewissheiten, die sich uns Hinterbliebenen bohrend und zermürbend aufzwingen.

      Doch habe ich in diesem Teil des Ihnen vorliegenden Buches dennoch zwei andere Themenkomplexe vorangestellt, von denen ich – nach vielen Analysen, Überlegungen und Erkenntnissen – der Auffassung bin, dass sie gerade am Anfang unseres chaotischen Leidensweges von großer Bedeutung sein können. Das ist zum einen die Suche nach Antworten, warum die Liebe nicht mehr vorhanden zu sein schien, denn mit dem Suizid unseres geliebten Menschen hat sie/er diese doch aufgegeben. Und zum anderen ist da diese unsägliche, immer wieder aufblühende Wut, die in uns brodelt, was uns nicht nur noch mehr aufwühlt, sondern zugleich auch irritiert und Zweifel an unserer Integrität weckt.

      Ich empfinde diese beiden Aspekte besonders wichtig, denn sie bereiten uns – wenn Sie und ich in unseren Ansichten im Grunde zu einer gewissen Übereinstimmung gelangen – auf die nachfolgenden Themen besser vor. Aber wie ich schon zuvor geschrieben habe: Es obliegt Ihnen allein, welche Reihenfolge Sie für sich wählen, denn in unserer aktuellen Lage sind alle Themen, Fragen, Aspekte und Wahrheiten am Ende gleich schwer erträglich.

      Der Verlust der Liebe