Stefan G Rohr

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung


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auf die Informationen bei Wikipedia zeigt auf, wie breit diese Problematik angelegt ist, wie aufgefächert die Ursachen und Symptome verstanden werden müssen und wie gefährlich es ist, ein Trauma zu unterschätzen. Deshalb ist es mehr als anzuraten, dass sich Betroffene dann therapeutische Hilfe holen, wenn eine Bewältigung aus eigener Kraft auf zu große Schwierigkeiten stößt.

      Ich las bei meinen Recherchen einen Situationsbericht eines Suizid-Hinterbliebenen, der seine Frau nach fast 30jähriger Ehe im gemeinsamen Haus erhängt aufgefunden hatte. Hieraus eine Passage:

      „Mir war es schon nach wenigen Tagen wichtig, das ganze Haus von allen Dingen zu befreien, die mich an meine Frau zu erinnern vermochten. Und so putzte ich sogar über Tage das Haus vom Boden bis zum Keller, um noch nicht einmal mehr Fingerabdrücke oder Staub vorzufinden. Als ich das Haus verkauft hatte und den Umzug vorbereitete, fand ich in einem Bücherregal ein langes Haar meiner Frau. Es war nur ein einziges, aber als ich es sah und aufnahm um es zu entsorgen, erfasste mich ein heftiger Weinkrampf, der minutenlang andauerte. Ich zitterte und hatte Atemnot. Für mehrere Stunden war ich kaum noch in der Lage zu sprechen, und das Bild ihres toten Körpers, das mich seither verfolgt, war präsenter als je zuvor. Und das geschah nach fast einem Jahr nach ihrem Tod.“

      Selbst leichte Traumata sind geeignet, ein Leben lang zu prägen (und zu belasten). Ich selbst erlebte als Kind – ich war vielleicht vier Jahre alt – an der Hand eines Nachbarvaters auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten, wie ein Blitz direkt neben uns in den Schornstein eines kleinen Einfamilienhauses schlug. Den tosenden, krachenden Einschlag höre ich bis heute. Wir Kinder schrieen sofort in großer Panik und bis in diese Tage kann ich meine Angst nur mit Mühe unterdrücken, wenn es gewittert, es blitzt und donnert.

      Suizid verursacht schwerste Verlustempfindungen und das Leid nimmt schier grenzenlose Dimensionen an. Allein das ist schon ausreichend, um ein schwerwiegendes Trauma zu verursachen. Kommt dann noch hinzu, dass Hinterbliebene den Suizidenten selbst auffinden, von dessen Bild und der Erkenntnis um diese Tat überrumpelt werden, ist ein Trauma fast vorprogrammiert. In dessen Kern steckt das Epizentrum der Verzweiflung, die mit einem Schlag so mächtig ist, dass sie jede einzelne Körperzelle einnimmt und sogleich mit lähmendem Gift zu zersetzen beginnt. Auch wenn sich diese Beschreibung von mir theatralisch und vielleicht sogar überzogen anhören mag, so komme ich nicht umhin zu bestätigen: So habe ich mich gefühlt, anders kann ich es gar nicht ausdrücken. Für lange Zeit besteht der ganze Körper, alles in der Gedankenwelt, nur noch aus Verzweiflung. Alle Freude oder Fröhlichkeit ist weggeblasen, man sieht nur noch grau, als wäre man farbenblind geworden, ein Genuss nicht mehr möglich, und selbst ein leichter Gang ist einem versagt, die Augen brennen, der Gaumen krampft, das Denken tut sogar körperlich weh, man bewegt sich fast wie in Trance.

      Nicht von Ungefähr wird von Psychologen und Therapeuten diese Phase als suizidgefährdet beurteilt. Nicht nur wegen des „Werther-Effektes“ (dem geliebten Menschen in den Tod zu folgen und ebenfalls Suizid zu begehen), sondern auch (und vor allem) wegen der Schmerzdimension, die die bisher gekannten Grenzen der Erträglichkeit überschreiten lässt. Da ich im Nachgang sehr viel über Depressionen und psychische Störungen studiert habe, ziehe ich an dieser Stelle die Parallele zu einer tiefen Depression. Ich bin mir darüber im Klaren, dass dieses wohlmöglich zu laienhaft und sicher wenig wissenschaftlich fundiert erscheint. Ich möchte auch nicht behaupten, dass diese Phase die ärztliche Diagnose „Depression“ rechtfertigt. Aus meiner Erfahrung, und den Erkenntnisse aus dem Studium so mannigfaltiger Fachbeiträge und wissenschaftlichen Arbeiten aber sehe ich viele (identische) Übereinstimmungen, und deshalb empfinde ich es als hilfreich, wenn man sich hierüber und über diesen Ansatz ein eigenes Bild erarbeiten kann.

      Vergleiche ich die körperlichen (physischen) Symptome einer schweren Depression mit denen aus der Phase der Suizid-Folgezeit, so sind die Ähnlichkeiten frappierend. Und frisst sich das Trauma tatsächlich im Körper und Geist des Hinterbliebenen fest, erzeugt es auch in die Zukunft hinein weiterhin die bittere psychische Dynamik seines Seins, dann haben wir es nicht nur mit den Spätfolgen eines Traumas zu tun, sondern mit einer – aus meiner persönlichen Sicht – massiven Depression, die sich nicht von anderen unterscheiden lassen wird, deren Entstehung z.B. auf einer frühkindlichen traumatisierenden Erfahrung entwickelt hat.

      Warum empfinde ich dieses im Rahmen meines Buches für wichtig?

       Das Wissen um die Zusammenhänge lässt einen betroffenen Hinterbliebenen schneller und gezielter seine eigene Lage und Verfassung erkennen.

       Zweifel um die eigenen Emotionen (man hat schon genug mit sich selbst zu tun) zermürben zusätzlich.

       Unkenntnis lässt falsche Rückschlüsse entstehen, was gegebenenfalls dazu führt, professionelle Hilfe nicht rechtzeitig in Anspruch zu nehmen (Gefahrenprävention).

       Auch tut es „gut“ zu erfahren, dass man selbst nicht der Einzige ist, dass das umgestülpte Gefühls- und Seelenleben, inklusive der körperlich/geistigen Einschränkungen, zumindest phasenweise, eine Schutzreaktion des Körpers ist, die zwar nicht „normal“ ist, aber eben auch nicht unbedingt „krank“ oder gar „krankhaft“.

       Auch ist hierüber eine weiterführende Sorgsamkeit gegenüber sich selbst (oder gegenüber dem betroffenen Hinterbliebenen) zu erzeugen, was fürsorglich beobachten und rechtzeitig handeln lassen sollte.

       Der betroffene Hinterbliebene ist nicht „wahnsinnig“, auch nicht übersensibel oder gar ein Hypochonder. Sein ganzer Körper ist auf einen Schlag zu einer offenen Wunde geworden – und so sollte man sich selbst sehen /verstehen (oder von anderen) verstanden werden.

       Wenn sich die Trauma-Symptome beharrlich halten, sich vielleicht sogar verschlimmern, dann darf nicht gezögert werden: fachliche Hilfe ist dann ein Muss, um ein späteres psychisch gesundes Leben zu ermöglichen.

      Der Wille zu sterben

       Im Ganzen wird man finden, dass,

      

       sobald die Schrecknisse des Lebens

      

       die Schrecknisse des Todes überwiegen,

      

       der Mensch seinem Leben ein Ende macht.

      

      

      Arthur Schopenhauer (1788 – 1860)

      Deutscher Philosoph

      Der Mensch ist das einzige Wesen, das einen Todeswunsch entwickeln kann. Kein Tier ist dazu in der Lage, auch kein Schimpanse oder Gorilla, deren Evolutionsstufe der unseren am nächsten kommt. Tiere können fühlen, lieben, Mitleid entwickeln und nachdenken. Gewiss nicht in einer unmittelbaren Vergleichbarkeit zu uns Menschen, doch aber in einer, die es vermuten lassen könnte, sich auch das Leben nehmen zu wollen. Dennoch ist es ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen, dieses zu können.

      Nun ist es bekannt, dass es viele Suizidenten gibt, deren tatsächlicher Wunsch gar nicht das Sterben, sondern durchaus das (Weiter)Leben ist, der Suizid(versuch) nur Mittel zu einem anderen Zweck ist und das Überleben erhofft, vielleicht auch einkalkuliert, zumindest dann doch aber als eine Art „Gottesurteil“ in die Hände des Schicksals gelegt wird. Doch bei allen anderen Suizidenten muss davon ausgegangen werden, dass der eigene Tod so oder so tatsächlich einem echten und unermesslich großen Wunsch entspricht, woher dieser auch immer herrühren mag.

      Instinktiv und kognitiv ist uns der Tod kein anzustrebendes Szenario. Freiwillig aus dem Leben zu treten kommt daher einem weitgehend abnormalen Gedanken gleich, denn jeder will doch im Grunde (und instinktiv) das Gegenteil: leben! Der unter den Experten so umstrittene „Bilanz-Suizid“ (klassisches Beispiel: der unheilbare Krebspatient, der durch die schnelle Selbsttötung einem grausamen Siechtum entgehen will) mag vom Motiv her eine Ausnahme