Stefan G Rohr

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung


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„akzeptabel“: in einer bilanzähnlichen Kontierung wird das Für und Wider gegenübergestellt und das kleinere Übel gewählt. In Ermangelung eines qualvollen und dazu vielleicht noch langen Todes erscheint uns die Selbsttötung als gangbarer Ausweg, der sogar eine „Logik“ aufweist. Der Überlebensinstinkt ist mit einer solchen ausschaltbar.

      Aber Suizid, weil man das Leben nicht mehr erträgt?

      Gilbert Keith Chesterton - englischer Schriftsteller (1874-1936) – schrieb das Folgende:

      „Der Mensch, der einen anderen tötet, tötet nur einen;

       aber der Mensch, der sich selber tötet, tötet alle Menschen;

       was ihn betrifft, so löscht er das ganze Weltall aus."

      Das, was Chesterton damit ausdrücken wollte, hat eine große Bedeutung. Natürlich tötet der Suizident keine anderen Menschen (abgesehen von den Fällen, in denen der Suizident andere mit in den Tod reißt). Suizid ist aber etwas Allumfassendes. Denn die Auslöschung der gesamten Menschheit betrifft allein ihn selbst. Mit seinem Tod ist für ihn alles – auch die Menschheit – vernichtet. Dazu das ganze Weltall – demnach eine Totalvernichtung.

      Damit geht einher, dass die Vernichtung alles betrifft, was ihn als Individuum ausmacht, einschließlich seiner Schmerzen, Sorgen, Leiden, Ängste, Verzweiflung, Hass oder Rache. Der Wille zu sterben ist nicht etwa die Hoffnung auf eine bessere Welt nach dem Tode, auch wenn es sicher Suizidenten gibt, die dieses anstreben. Der weit überwiegende Teil der Menschen, der sich für die Selbsttötung entscheiden, will, dass „es“ aufhört. Diese haben sich in eine Ausweglosigkeit hineingedacht, die sie nur noch durch die eigene Auslöschung beheben können, die so unerträglich für sie scheint, dass nur der Tod Erlösung verspricht. Das Licht ausmachen, für immer ruhen, keine Gedanken mehr haben, keine Leiden und Schmerzen ertragen, keine Zwiespälte mehr erdulden, Konflikte nicht mehr austragen, keine Angst mehr haben zu müssen.

      Als Hinterbliebene eines Suizidenten haben wir ständig das Argument parat, dass der Tod unseres geliebten Menschen „unnötig“, „unsinnig“ war. Nach unserem Dafürhalten kann es nur sehr wenige Probleme geben, die so groß sind, dass diese unseren Tod rechtfertigen können. Ein langjähriger Freund von mir litt über zehn Jahre an Lungenkrebs. Der Tod war nur eine Frage der Zeit für ihn, und er kämpfte dennoch kraftvoll und schaffte es einige Jahre sich gegen das Unvermeidliche zu stemmen. Zuletzt lag er seit Wochen nur noch in seinem Krankenbett und wurde durch einen Schlauch mit Sauerstoff versorgt. Spät nachts entschied er sich seinem Leiden ein Ende zu setzen. Das Einzige, wozu er noch fähig war, tat er dann auch: er drückte sich mit der Hand selbst die Zufuhr des lebensnotwenigen Sauerstoffs ab. Sein Todeswille war so stark, dass seine Hand den Schlauch noch zupresste, als er schon längt tot war.

      Ich denke, Sie werden nun zu sich selbst so etwas wie „verständlich“, „nachvollziehbar“ gesagt haben. Vielleicht auch: „Hätte ich ebenso gemacht!“ So wird die Mehrheit aller Menschen reagieren, zudem ganz gewiss auch den Mut und die Kraft bewundern, die für eine solche Tat aufgebracht werden muss. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und spreche von „Disziplin“, denn alles, was für eine solche von Nöten ist, steckt in der Tat meines Freundes. Tugenden, für die wir Menschen bewundern, ehren und sie wertschätzen. So gerät mit einem Mal der Suizid zu einem Akt der Größe, wird nahezu heroisch.

      Wir senken den Blick, verneigen uns vor einer Leistung, zu der man sich selbst nicht fähig sieht. Unser Schutzmechanismus, unser Instinkt, funktioniert automatisch. Auch entwickeln wir in den meisten Gesellschaften auf unserem Planeten ein bedingtes Verständnis für den Suizid in besonders „einleuchtenden“ Lebenslagen. Der bettlägerige Greis, der seinen ihn pflegenden Kindern nicht mehr zur Last fallen will. Vielleicht auch der Suizid eines Menschen, der schwere Sünde, eine furchtbare Untat, auf sich geladen hat und nun „sich selbst gerichtet hat“, oder aus Verzweiflung über das Unglück, dass er über andere gebracht hat, sein eigenes (Weiter)Leben nicht mehr für gerechtfertigt ansah. Und in bestimmten Kulturkreisen ist es die Scham um eine verlorene Ehre, die in der relevanten Gesellschaft sogar als „richtig“ (und anständig) verstanden, und von vielen mit einer Art Verpflichtungsempfinden respektiert wird.

      Wir werden aber in eine Fassungslosigkeit gestürzt, wenn es dem Motiv für den Suizid an Heldenhaftem oder unserem „Einverständnis“ mangelt, wir eben nicht mehr nachvollziehen können, warum für eine (aus unserer Sicht) „lösbare Problematik“ aus dem Leben getreten werden wollte. Wir raufen uns viel mehr die Haare, weil doch „alles“ regelbar, geraderückbar gewesen ist.

       Wie konnte sie/er nur so blind sein …?

      Die heutige Wissenschaft hat innerhalb der Suizidforschung feststellen können, dass es nicht „den einen“ Grund, auch nicht „die eine“ psychische Störung (inkl. Ursache) gibt, die den Suizid ausmachen. Es kommt eine Reihe von ungünstigen Gründen, Zusammenhängen und psychischen Einflüssen korrelierend zusammen, so wie ein Taifun von verschiedensten meteorologischen Zusammenhängen abhängt, um seine verheerenden Eigenschaften entwickeln zu können.

      Häufig begegnen wir einem für uns völlig unverständlichen Suizidfall mit einer Logik, die es uns erklärlicher machen soll: eine Kurzschlussreaktion. Das erklärt zwar nicht das Unerklärliche, ist aber wenigstens entlastend zu verstehen: bei einem Kurzschluss sind wir nämlich alle machtlos. Spontaner Suizid aus einer plötzlich erkannten Ausweglosigkeit oder Verzweiflung, Angst oder traumatischen Erinnerung? Ja, es gibt sie, diese „Kurzschlüsse“, wenngleich sie bei Weitem seltener vorkommen sollen, als es im Allgemeinen angenommen wird. Die Fachwelt hat hierbei die Grenzen äußerst eng gefasst, und es werden nur die Fälle gewertet, die dem Charakter eines tatsächlichen „Kurzschlusses“ entsprechen. So zum Beispiel der Gast in einem Restaurant, der ohne Vorwarnung oder vorausgegangene Signale weiß wie Kreide wird, aufspringt und sich aus dem Fenster in den Tod stürzt, weil ein neuer Gast das Lokal betreten hat, dessen Antlitz den Suizidenten an ein grausames, traumatisches Kindheitserlebnis erinnerte (von diesem Fall habe ich tatsächlich gelesen). Hierbei soll nun nicht das Motiv hinterfragt werden – es sind allein die Spontanität und der „Kurzschluss“, welche diese Suizidform beschreiben.

      Suizid ist die schärfste Form der Aggressivität. Und diese richtet sich gegen sich selbst. Empfunden wird vielleicht völlige Wertlosigkeit, große Fehlerhaftigkeit, Belastung für andere, etwas nicht mehr verdient zu haben, Unzufriedenheit mit sich selbst (Leistungsanspruch, Perfektionismus, Karrierestreben, sich zurückgesetzt oder abgelehnt fühlen). Jemand, der aggressiv geworden ist, hat alle Ehrerbietung verloren. Die Aggression gerät vielleicht sogar zu einer Form der Selbstbestrafung, zumindest doch aber zu einer „gerechten“ Maßnahme, da es anderen besser ergehen wird, wenn man selbst nicht mehr existiert. Zweifellos verfolgen Menschen mit ihrem Suizid vereinzelt auch das Ziel einen anderen Menschen (oder eine Gruppe) zu bestrafen, zu belehren, sich zu rächen. In diesen Fällen richtet sich die hohe Aggressivität zwar nach Außen, das eigene Leben wird aber als Mittel zum Zweck eingesetzt – die Aggression ist gleichermaßen auch auf sich selbst ausgerichtet.

      Ich habe vor kurzem von einem Sportler lesen können, der einst mit verkrüppelten Beinen zur Welt kam und sich mit Eintritt seiner Volljährigkeit für die Amputation entschied. Er empfand die Zukunft mit Prothesen erstrebenswerter als weiterhin mit seiner Verkrüppelung zu leben. Heute ist er einer der weltweit führenden Sportler in der Leichtathletik. Das hat nichts mit Aggressivität zu tun – vielmehr mit einer Abwägung von Wohl und Wehe in Aussicht auf eine bessere Zukunft. Vor allem aber kostet diese Entscheidung nicht das Leben – ist dennoch mit dem Suizid an einem Punkt vergleichbar: dem eigenen Willen etwas Drastisches zu tun, was Erlösung bringen soll.

      Ein gesunder Mensch wird es sich nur schwer vorstellen können, sich freiwillig die Beine amputieren zu lassen. Nur aus einer Logik (Bilanz) heraus, kämen wir zu dem Schluss (und der Nachvollziehbarkeit), einen solchen Schritt zu befürworten, wenn wir die Verbesserung der Lebensqualität gegenüberstellen. Streichen wir den Wortteil „Lebens“, dann bleibt nur noch „Qualität“ übrig. Der Wille zu sterben zielt auf eine „Qualitätsverbesserung“ ab, denn das „Leben“ ist für den Menschen höchstwahrscheinlich