Stefan G Rohr

Konfrontation mit einer Selbstvernichtung


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zwischen „uns“ und einer anderen Priorität (z.B. Familie), den er gegen „uns“ nicht erfolgreich beenden konnte?

      Welche weiteren Aspekte und Überlegungen sie auch immer mit dem gleichen Tenor für sich anführen werden, sie haben mit den vorgenannten eines gemeinsam: sie sind nichts anders als ein Liebesbeweis. Der vollzogene Suizid basierte so wohlmöglich auf der unfassbar starken Liebe zu Ihnen, auch wenn das Ergebnis, der Endeffekt, aus unserer Wahrnehmung des Hinterbliebenen das von allen möglichen Varianten extremste Gegenteil vermuten lässt.

      Mir sagte der Arzt, der nicht nur von der Polizei zur Leichenschau gerufen wurde, sondern zudem auch unser Hausarzt war, dass er nach seiner jahrelangen Erfahrung und der Begegnung mit diversen Suiziden zu der Auffassung gelangt sei, dass Menschen, die sich im eigenen Hause selbst töten, dieses aus „Liebe“ tun. Ich verstand ihn nicht sofort und fragte, wie er das meinen würde. Seine Antwort war einfach: Die Wahl des eigenen Hauses, der gewohnten Umgebung, des Ortes, an dem die Liebe vorherrscht, würde in der schwersten Stunde des Menschen (der Selbsttötung) der Beweis sein, dass dieser die Liebe besonders stark empfindet. Auch die Tatsache, dass die eigene Leiche nach dem Suizid zumeist vom Partner gefunden wird, stützt sich auf Liebe. Denn es ist dieser Mensch, der einen in dieser entmenschlichten Lage finden soll, und kein Fremder.

      In unserem Schmerz, in all unserer Verzweiflung, fällt es schwer, derlei Gedanken anzunehmen oder zu Ende zu führen. Ich erlaube mir aber die Empfehlung, dass Sie es versuchen, liebe/r Leser/in. Versuchen Sie die vielleicht nur noch rudimentär erkennbaren Liebessignale ohne Zorn und Enttäuschung zu sehen, diese in die Welt der Normaldenkenden proportional zu übersetzen. Es besteht auf diese Weise vielleicht die Chance, dass Sie den Nukleus Ihrer gemeinsamen Liebe, den Wesenskern Ihrer Verbindung zu dem verlorenen Menschen, erkennen und nicht mehr daran zweifeln, dass dieser Sie in großartiger Weise geliebt hat. Vielleicht sogar mehr als sein eigenes Leben.

      Wie passt das nun mit meiner Einlassung zu Beginn dieses Kapitels zusammen? Schließlich habe ich recht drastisch klarzumachen versucht, dass Ihr geliebter Mensch Sie eben nicht mehr „geliebt“ haben wird. Und nun behaupte ich, seine Liebe war „großartig“?! So paradox das erscheinen mag, es ist überhaupt kein Widerspruch vorhanden. Und mich krampfhaft bemühen zu wollen, mit unsinnigen Argumenten meine Trauer besser bewältigen zu können, ist auch nicht meine Zielsetzung. Vielmehr bin ich der Meinung, dass das Paradoxon nur dann besteht, wenn wir uns die Liebe weiterhin in der Charakteristik vor Augen führen, die Menschen untereinander empfinden, welche nicht in einer präsuizidalen Phase stecken. Mit anderen Worten – lassen Sie es mich einfach so drastisch sagen: Ich kann doch nicht bei einem psychisch verwirrten Menschen den Maßstab weiter ansetzen, der früher galt, als dieser noch gesund war.

      Und nochmals nein: Das ist kein verzweifelter Versuch einer laienhaften, unrealistischen Selbstberuhigung. Ich bin überzeugt, dass wir so zu denken und zu werten haben, denn das Leid unseres geliebten Menschen muss so unermesslich groß gewesen sein, dass dieses die bisherige Liebe übertrumpfen ließ, vielleicht sogar um diese hierdurch erst beweisen zu können. Die Liebe dieses Menschen zu uns mutierte in eine andere Form, und war deshalb in der von uns immer noch so sehr herbeigewünschten Weise nicht mehr sichtbar, nicht mehr existent. Sie ist in eine andere Sphäre gerückt, eine, die wir nicht so leicht empfinden können, in der wir uns nicht auskennen, die uns fremd und vielleicht sogar abstoßend vorkommt. Die Liebe des Menschen zu uns hat die Farbe gewechselt, die Form. Sie ist damit zu etwas geworden, was wir nicht auf Anhieb verstehen können, vor allem deshalb nicht, weil das Mutieren bei uns nicht stattgefunden hat. Wir lieben auf die uns bekannte Art und Weise, in der bisherigen „Farbe“, in unveränderter „Form“.

      Meine geliebte Ehefrau hat in unseren gemeinsamen Jahren oft hervorgehoben, wie sehr sie meine Fähigkeit bewunderte, stets optimistisch zu bleiben, mit allen Unwägbarkeiten zurechtkommen zu können. „Dich kann ja gar nichts umwerfen!“ – hat sie mir so häufig gesagt. „Deine Kraft möchte ich auch gern haben.“ Und ich erinnere mich, dass sie noch wenige Wochen vor ihrem Suizid mich fragte: „Woher nur nimmst Du immer Deinen Optimismus?“ Unsere Liebe zueinander war groß, mächtig und im Freundeskreis wurden wir für unsere Verbundenheit bewundert und bestaunt. Über all die Jahre beteuerte meine Frau ungebrochen ihre „unendliche Liebe“ zu mir und ich hatte zu keiner Sekunde Zweifel daran hegen können, so klar war die Wahrheit zu erkennen – bis zu diesem Tage, diesem Moment, als ich mit ihrem Suizid konfrontiert wurde. Da brach in mir auch das bisherige Gerüst der Liebe krachend zusammen.

      Das Vorwort zu diesem Buch beginnt mit einem Spruch von Shakespeare. Blättern Sie noch einmal zum Anfang und lesen Sie diesen bitte erneut. Meine Frau hatte ihn in ihrem Smartphone gespeichert. Ein wenig versteckt, in den Notizen meines Kontakteintrages. Wann sie diesen gelesen hatte und „bei mir“ abspeicherte, ist nicht mehr nachvollziehbar – leider. Doch habe ich – nach langen Überlegungen – mich dazu entschieden, die Frage des „Wann?“ für nicht wirklich relevant zu betrachten. Es reicht mir inzwischen, dass es meiner geliebten Ehefrau von besonderer Wichtigkeit war, sich eine Mahnung vor Augen führen zu können, nicht an der Liebe zweifeln zu dürfen. Es ist – bei näherer Betrachtung – auch unerheblich, wessen Liebe sie damit meinte: die ihre oder die meine? Denn in beiden Fällen war ihre Angst um den möglichen Verlust der Liebe von ebenen dieser getrieben. Nur wer wirklich liebt kann sich fürchten, die Liebe (die eigene, die des anderen) zu verlieren. Und ich glaube, dass sie es gemerkt haben muss, dass sich etwas veränderte: sie selbst veränderte sich (siehe Suizid-Phasen). Sie hatte Angst, wusste, dass ihre Gedanken und ihre Abwägungen gefährlich waren, es dazu kommen könnte, dass die so immens wichtige Liebe zwischen uns bezweifelt werden könnte.

      So ist es für mich absolut sicher, dass ihre Liebe zu mir in der Farbe und Form existierte, bis ihre Psyche die Mutation erzeugte. Aber selbst in dieser letzten Phase informierte sie sich über die Konsequenzen eines Suizides für die Hinterbliebenen. Ich fand die Browserverläufe, konnte die neun Artikel lesen, die sie selbst, wenige Tage vor ihrer Selbsttötung, gelesen hatte. Ihre Gedanken waren ganz offensichtlich weiter von der Liebe geprägt. Und von ihrer Überzeugung, dass ihr Mann sicher auch „damit fertig werden“ würde. Sie muss daher abgewogen haben: zwischen Liebe und ihrem Schmerz, der so mächtig gewesen sein muss, dass nur der Tod noch infrage kam – und meiner vermuteten Stärke, mit alledem zu Recht zu kommen.

      In den Momenten, in denen sie sich aufmachte um zu sterben, die Augenblicke, in denen sie zur Tat schritt, in der Zeit, in der sich der Sterbeprozess vollzog, sie noch bei Bewusstsein war, in diesem Zeitfenster wird sie mit allen Gefühlen nur bei sich gewesen sein. Die Liebe war nicht mehr zugegen. Sie konnte, sie durfte es nicht mehr sein. Sie wird aber mit dem Gefühl gestorben sein, dass es der geliebte und liebende Ehemann sein wird, der sie findet und als erster den toten Körper berührt.

      Ich hoffe sehr, liebe/r Leser/in, dass auch Sie zu ebensolchen oder ähnlichen Erkenntnissen gelangen können. Da Sie ganz sicher ohnehin auf der Suche nach Klarheit sind, werden Sie auch auf der Suche nach der Liebe sein. Verwerfen Sie also nicht gleich Ihre Hoffnung, Ihren Glauben an die Liebe. Suchen Sie weiter nach Signalen, kleinsten Puzzleteilchen, gehen Sie in sich, erinnern Sie sich an Worte, Blicke, Gesten und Berührungen, die Ihnen die Liebe Ihres verlorenen Menschen bezeugen. Tun Sie das auch, wenn es schon eine Zeitlang her sein sollte, dass die Liebe sich Ihnen noch offenbarte. Verweigern Sie sich nicht zu erkennen, dass auch andere Farben und Formen von Liebe sprechen können. Aber so schwer es auch immer ist – zweifeln Sie niemals an der Liebe!

      Und vielleicht akzeptieren Sie, dass Ihre Trauer eben nur die wildeste Form Ihrer Liebe darstellt. Ich unterhielt mich über diesen Aspekt mit einem jungen Mann, mit dem ich recht zufällig zusammentraf und mit dem sich ganz unvermutet ein intensives Gespräch entwickelte. Er verstand auf Anhieb, dass Trauer auf Liebe basiert. Doch er antwortete mir:

      „… aber dass Trauer die wildeste Form der Liebe ist – das verstehe ich nicht."

      Ich versuchte es mit einer Metapher und antwortete ihm das Folgende: „Stelle Dir vor, dass die Liebe ein Fluss ist. Aus einer Quelle entsprungen, zunächst als ein kleiner Bach, vielleicht sogar nur ein Rinnsal, nunmehr ein breiter, ruhig dahinfließender Strom geworden ist. Doch auf einmal – Dein geliebter Mensch hat Suizid begangen – ist