aus einer anderen Welt zu kommen, so versunken war sie noch immer in ihren Schmerz. Aber sie nahm sich zusammen.
»Im 16. Jahrhundert fuhren Büchsenschützen zu Schiff von Zürich nach – nach – – –« Sie stockte, wurde rot und senkte verlegen den Kopf.
»Nach Straßburg,« half Annemarie, trotzdem sie mehrere Plätze entfernt saß, kränzchenschwesterlich aus, während die Eulengläser ihr einen vernichtenden Blick zuwarfen.
»Nach Straßburg.« Marlene atmete erleichtert auf. »Und zum Zeichen, daß sie die Reise in einem Tage zurücklegten, brachten sie einen Kessel mit Hirsebrei, der in Zürich gekocht war, noch warm nach Straßburg,« vollendete sie fließend.
»Setzen!« Fräulein Neubert machte sich eine Notiz in ihrem Büchlein. »Zu welcher Gattung Gedichte gehört das glückhafte Schiff von Zürich?«
Die Untersekunda machte gerade keine schlauen Gesichter.
Nur ein Zeigefinger erhob sich. Er gehörte zu Annemarie Braun, die für deutsche Literatur besonderes Interesse hatte. Die Lehrerin schien es nicht zu bemerken.
»Weiß es keine?«
»Ich – ja, ich – – –« Zu überhören war Annemaries laute Stimme wirklich nicht. Aber Fräulein Neubert brachte das Kunststück fertig.
»Ist es ein lyrisches Gedicht?« fragte sie wieder.
»Nein« – »nee.« – Annemaries Stimme rief am lautesten von allen: ihr Zeigefinger fuhr wild im Kreise durch die Luft.
»Also was für eins?«
»Ein erzählendes.« – – Annemarie schrie es einfach, ohne gefragt zu sein, in ihrer Lebhaftigkeit.
»Hier hat nur diejenige zu sprechen, die ich aufrufe.« Fräulein Neubert runzelte die Stirn.
»Na, wenn ich nicht ausgerufen werde, mehr als melden kann ich mich nicht,« gab Annemarie ungezogen zur Antwort.
»Annemarie Braun, ich glaube, du willst heute zum zweitenmal nähere Bekanntschaft mit dem Klassenbuch machen.« Die Lehrerin griff nach dem gefährlichen Buch.
»Durchaus nicht – aber Luft bin ich nicht – und wenn ich mich am Unterricht beteilige – – –« Das junge Mädchen wurde bald blaß, bald rot vor Aufregung.
»Schülerinnen, welche sich ungehörig benehmen, existieren für mich nicht. Und nun wünsche ich kein Wort mehr über die Angelegenheit zu hören.« Fräulein Neubert schrieb mit schönen großen Buchstaben Annemarie Braun unter Tadel.
»Das lasse ich mir nicht gefallen – ich gehe zum Direktor. Wir bilden Schülerräte, wie das bei Klaus am Gymnasium schon eingeführt ist. Solche Behandlung brauchen wir uns nach der Revolution nicht mehr gefallen zu lassen. Die Jugend hat auch ihre Rechte, wir sind freie Menschen und keine Sklavenseelen!« wütete Annemarie vor sich hin, während Vera sie vergeblich zu besänftigen suchte:
»Nicht sprrechen so laut – du fliegen herraus!«
Annemarie war in ihrer Erregung alles gleich – keine Träne kam ihr über den Tadel. Nur Empörung, grenzenlose Empörung zeigten die jungen, ausdrucksvollen Mienen. Ohne sich um den Fortgang der Stunde noch zu kümmern, nahm sie ein Buch aus der Mappe und schlug es auf. Wenn Fräulein Neubert sie vom Unterricht ausschloß – schön, ihr sollte es recht sein.
Die Kameradinnen sahen mit erstaunt mißbilligenden Blicken auf die dreiste Annemarie. Da hatte das kecke Ding doch tatsächlich ganz offensichtlich auf dem Schultisch das französische Buch aufgeschlagen und präparierte Athalie. Marianne Davis drehte sich beinahe den Hals aus, um diese Sehenswürdigkeit eingehend zu betrachten, während Vera ihr ängstlich zuflüsterte: »Buch machen zu – Frräulein Neubert sehen herr mit grroße Eulenaugens.«
Annemarie ließ sich nicht stören. Sie hörte den Vortrag der Lehrerin über Johann Fischart, den Verfasser des vorhin besprochenen Gedichtes nicht, denn sie hatte sich absichtlich beide Zeigefinger in die Ohren gestopft. Erst als Ilse Hermann, die vor ihr saß, aufgerufen wurde und ängstlich den Kopf mit dem glattgescheitelten Blondhaar nach allen Seiten wandte, ob sich nicht eine mitleidige Seele ihrer Unwissenheit erbarmte, wurde sie aufmerksam.
»Kannst du uns wirklich kein anderes Werk dieses erzählenden Dichters nennen, Ilse Hermann?«
Ilse stand ratlos und nahm aus Verlegenheit einen ihrer langen Blondzöpfe in den Mund.
»Flöhhatz,« trompetete es da plötzlich durch die Stille. Einen Augenblick saßen die Mädels starr über Annemaries Unverfrorenheit. Dann aber brach die Klasse in ein lautes, nicht zu bändigendes Gelächter aus.
»Ruhe – ich verlange augenblickliche Ruhe!« Die Stimme der Oberlehrerin legte sich eisig auf das helle Mädchenlachen. »Annemarie Braun, du verläßt unverzüglich die Klasse.«
»Ich habe nichts weiter getan, als ein Werk von Fischart genannt.« Annemarie schlug ihren Racine mit lautem Knall zu und verließ erhobenen Hauptes den Schauplatz ihrer Heldentaten.
Aber so gleichgültig, wie sie sich äußerlich den Anschein gab, war ihr innerlich ganz und gar nicht zumute. Grenzenlos gedemütigt fühlte sie sich in ihrer Sekundanerwürde. Rausgeflogen war sie aus der Klasse – an die Luft gesetzt worden – die ganze Untersekunda war Zeuge ihrer Schmach gewesen – – Annemarie stieß wütend mit dem Fuß gegen den steinernen Flurboden, daß es laut durch die Stille hallte. Tränen der Auflehnung schossen ihr heiß in die Augen.
So ließ sie sich nicht behandeln. O nein! Fräulein Neubert hatte kein Recht, sie vom Unterricht auszuschließen. Heute noch gründete sie einen Schülerrat, der beim Direktor vorstellig werden mußte. Das ließ sie sich nicht gefallen!
Am liebsten wäre Fräulein Heißsporn sofort auf frischer Tat zum Direktor gelaufen und hätte sich über die ihr zugefügte Behandlung beschwert. Aber alles muß seine Ordnung haben. Gemeinsam mußten sie vorgehen, nur Einigkeit macht stark. Und wenn sie allein Beschwerde erhob, war es nichts weiter als ganz gemeines Petzen. Das hatte Annemarie Braun von klein auf verachtet.
Piefkes Glocke erlöste Annemarie aus ihrer Verbannung. Möglichst unauffällig mischte sie sich unter die anderen Schülerinnen. Die hatten sofort, nachdem Fräulein Neubert die Klasse verlassen, das Katheder gestürmt.
»Ihr seid alle fünf unter Tadel geschrieben, und Annemarie Braun hat einen Doppeltadel,« rief eine, die als erste das Klassenbuch erwischt hatte.
Jämmerliches Schluchzen übertönte sie.
»Ruhig, Kinder! Heule doch nicht wie ein mondsüchtiger Mops, Marianne. Der Tadel wird ja wieder gestrichen.« Vergeblich versuchte Annemarie Braun sich Gehör zu schaffen. Da sprang sie kurz entschlossen auf den Lehrerstuhl.
»Ruhe!« schrie sie mit ihrer ganzen Lungenkraft in den Tumult hinein. Und nochmals: »Ruhe!«
Wirklich, die Wogen der Erregung glätteten sich. Neugierig schaute alles zu der jungen Sprecherin hoch oben auf dem Kathederstuhl.
»Schließt die Tür,« befahl Doktors Nesthäkchen. »Ich habe euch Wichtiges zu sagen.« Selbst Marianne Davis hielt im Jammern inne und spitzte neugierig die Ohren. »So geht das nicht weiter,« verkündete Annemarie den aufhorchenden Mädeln. »Wir dürfen uns eine derartige unwürdige Behandlung nicht länger gefallen lassen. Wißt ihr, was wir tun werden?«
Keine wußte es.
»Wir gründen einen Schülerrat!« Wie eine Offenbarung klang es.
»Einen – was – – –?« Die Untersekunda wußte jetzt nicht mehr als zuvor.
»Einen Schülerrat – habt ihr denn noch nie was davon gehört?« Doktors Nesthäkchen kam sich ungeheuer überlegen vor, trotzdem es selbst noch nicht allzulange das Wort in seinem Sprachschatz aufgenommen hatte.
»Was ist denn das für ein Ding, so ein Schülerrat?« Dichter umdrängte man das Katheder.
»Ein Schülerrat, das ist eben – na, wie kann man so was bloß nicht wissen! Ein Schülerrat