Holger Rudolph

Weshalb starb der Weihnachtsmann?


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Dennis ihr von dem gefundenen Zettel mit der Nummer der Apotheke erzählt, wird sie hellhörig: „Davon müssen wir nachher unbedingt den Leuten von der Gerichtsmedizin erzählen. Die sollen den Toten ganz genau auf Spuren von Drogen untersuchen. Andererseits kann das Blättchen Papier mit der Nummer drauf auch ganz zufällig dorthin gelangt sein.“

      Erneut bezieht Anna Klettner das kleine, notdürftig eingerichtete Büro im Rheinsberger Polizeirevier. Schon zweimal hat sie in den vergangenen Jahren von hieraus ermittelt. Einmal war es Mord, der zweite Fall stellte sich als Tötung auf Verlangen heraus. Ein bisschen Wehmut kommt auf, wenn sie sich an ihren Kollegen Gunnar Templin erinnert, der ihr als Einheimischer bei ihren Ermittlungen sehr gut helfen konnte. Der Kollege ist tot. Er hatte im Frühherbst einen Herzinfarkt erlitten, kurz bevor er in den Ruhestand gegangen wäre.

       Kurzerhand wurde ihr Dennis Müller zugeteilt. Sein Praktikum dauert ein halbes Jahr. Kriminalistischen Spürsinn hat ihr Aushilfspolizist, wie sie ihn scherzhaft nennt, schon mehrfach bewiesen. Zuletzt vorhin, als er den Zettel entdeckte. Die Spusis hätten ihn wahrscheinlich auch noch gefunden. Doch dank seiner Genauigkeit konnte sie sich schon ein paar Gedanken machen, was es mit dem Stück Papier auf sich haben könnte.

      Gegen Mittag ruft Zeitungsredakteur Heiko Reimer von der hiesigen Lokalpostille bei ihr an. Er will etwas über den Toten erfahren. Als sie ihm sagt, dass es sich um Gerd Oertel handelt, wird der Reporter neugierig: „Oertel war mit Sicherheit auf vielen Gebieten kein Kostverächter. Doch er hasste Drogen. Seinem jüngeren Bruder Henry war vor ein paar Jahren in Hamburg eine Überdosis Heroin zum Verhängnis geworden. Seitdem führt Gerd Oertel einen Feldzug gegen den Missbrauch harter Drogen. Er spricht vor Schulklassen über die von vielen Menschen erst zu spät erkannten Gefahren.“ Einmal hatte Oertel kurz nach einem solchen Vortrag bei der Zeitung angerufen. Reimer erinnert sich: „Der Oertel war stinksauer. Mehrere Schüler hatten behauptet, dass es in Rheinsberg ganz einfach sei, an Drogen zu kommen. Es gebe da jemanden, der Codein verkauft. Man müsste nur reichlich Geld mitbringen.“

      Heiko Reimer hatte damals, es war wohl vor etwa vier Monaten, recherchiert. Greifbare Ergebnisse gab es keine, dafür aber reichlich andere Themen, die ebenfalls darauf warteten, von ihm bearbeitet zu werden. Nur eines hatte er erfahren. Eine Pharmazieingenieurin aus der Prinz-Heinrich-Apotheke erzählte ihm, dass es im Landkreis mehrere Ärzte gibt, die Patienten auf Wunsch ein Hustenreiz-Mittel mit Codein verschreiben. Der Journalist erfuhr, dass der Wirkstoff Codein im Körper teilweise zu Morphium umgewandelt wird. Weil auch Codein süchtig macht und in höherer Dosierung das Atemzentrum bis hin zum Tod lähmen kann, sollte es eigentlich nur selten verordnet und eingenommen werden. Die Realität sehe allerdings ganz anders aus.

      Dennis war mehrere Stunden lang unterwegs, um mit einigen der Freundinnen des Verstorbenen zu reden. Die Kollegen vom Revier hatten ihm, ohne lange überlegen zu müssen, ein Dutzend Namen nennen können. Jetzt, gegen 17 Uhr, ist Dennis wieder im Revier, um seiner Chefin zu berichten.

      „Es ist schon erstaunlich. Der Kerl sah doch gar nicht so toll aus. Ein paar Muskeln, hellblaue Hans-Albers-Augen, aber sonst? Doch die Frauen waren verrückt nach ihm. Jede behauptet, die Lieblingsfreundin gewesen zu sein.“

      Anna Klettner grinst und reicht dem jungen Kollegen ein Stück Weihnachtsstollen: „Du bist wohl neidisch?“

      Schnell beteuert er, einen Bissen Kuchen kauend: „Gott bewahre, der Mann kann mir nur leid tun. So viele Liebschaften und doch keine wirkliche Liebe.“

      Sie schüttelt den Kopf: „Das kannst Du doch gar nicht wissen.“ In einer Sache aber seien sich alle Frauen einig gewesen: „Niemals hätte sich der Gerd selbst umgebracht.“

      Die Kommissarin will eben schon die für die Jahreszeit viel zu dünne Jacke vom Haken nehmen, als eine E-Mail der Gerichtsmedizin eintrifft. Sie überfliegt den Inhalt und klatscht in die Hände. Das tut sie oft, wenn sie sich sehr über etwas freut: „Bingo, im Körper des Toten befinden sich große Mengen Morphium und Codein. Er ist im Verlauf der vergangenen Nacht an einer Überdosis Opiaten gestorben, die er nach allem, was wir bisher wissen, niemals selbst eingenommen hätte. Da soll noch irgendwer behaupten, dass der Zettel mit der Apothekennummer nur zufällig in der Nähe des toten Weihnachtsmanns lag.“

      Erneut greift sie nach ihrer Jacke, als das Telefon klingelt. Die Frau am anderen Ende der Leitung scheint unsicher und aufgeregt zu sein. Sie spricht sehr leise und es fällt ihr offenbar schwer, die Gedanken zu ordnen. Die Kommissarin muss mehrfach nachfragen, ehe sie mit den zunächst wirren Angaben etwas anfangen kann. Bei der Anruferin Sabine Breyer handelt es sich also um eine weitere Bekannte von Gerd Oertel. Eine wichtige Aussage will sie machen. Wenn es geht, noch heute.

      Ihr Assistent schaut auf seine Armbanduhr und schüttelt den Kopf ein wenig vorwurfsvoll, als seine Chefin ihm mit deutlichen Gesten signalisiert, dass sie noch weiterarbeiten wird. Ebenso klar verabschiedet sie ihn mit der winkenden linken Hand und einem Lächeln auf den Lippen. Wirklich wohl fühlt Dennis sich dabei nicht, vielleicht könnte er noch etwas helfen. Doch er will der Chefin nicht widersprechen.

      Anna Klettner stellt die Kaffeemaschine auf extra stark. Das Mahlwerk kreischt und dröhnt, dann plätschert das dunkelbraune, aromatisch duftende Getränk in die Glaskanne. In spätestens einer halben Stunde wollte diese Sabine Breyer hier sein.

      Der Kommissarin bleibt genug Zeit, um bei der ein paar Räume weiter arbeitenden, diensthabenden Revierpolizistin nachzufragen, was sie über die Breyer weiß. Die Kollegin lebt in der Rheinsberger Kernstadt. Hier kennt man sich.

      Die Idee, auf der Wache nebenan nachzufragen, hat sich als sinnvoll erwiesen. Nach dem, was die Kollegin erzählt hat, war Sabine Breyer vor zehn Jahren schon so gut wie verheiratet mit Gerd Oertel. Doch der Bräutigam wartete vergeblich vor dem Standesamt auf seine Braut. Im Städtchen erzählt man sich, dass die Breyer erst am Tag der geplanten Hochzeit erfahren hat, dass Oertel noch mindestens drei weitere feste Freundinnen hatte. Irgendjemand hatte ihr in der Nacht einen Zettel unter der Wohnungstür durchgeschoben. Darauf stand auch, dass Gerd Oertel wegen seiner Vielweiberei doch in der ganzen Stadt nur als der Mormone bekannt sei. Unterzeichnet war der Schrieb mit „eine gute Freundin“.

      Anna Klettner kaut gerade noch am letzten der gefüllten Kekse, die als kleine Zwischenmahlzeit herhalten, als es zaghaft an der Tür klopft. Kurz darauf steht eine kleine, sehr schlanke Frau vor ihr. Eine Strähne der langen blonden Haare hat sie sich ins Gesicht gekämmt, so dass die Augen halb verdeckt sind. Trotzdem erkennt die Ermittlerin sofort, dass Sabine Breyer an diesem Tag schon sehr viele Tränen vergossen hat.

      „Setzen Sie sich doch bitte“, sagt die Kommissarin und weist auf den Holzstuhl mit dem ockerfarbenen Sitzpolster.

      Sabine Breyer hat kaum Platz genommen, da kann sie einen Tränenausbruch nicht mehr unterdrücken. Schluchzend sagt sie: „Ich hatte gestern Abend gleich so ein eigenartiges Gefühl, als ob in dieser Nacht noch etwas Schlimmes passieren würde. Gerd war bei mir zu Besuch. Ich kenne ihn schon sehr lange. Ab und an kommt er bei mir vorbei, um zu quatschen. Und um der Frage vorzubeugen. Ja, wir hätten 2004 tatsächlich fast geheiratet. Und vielleicht wäre es trotz seiner vielen Liebschaften besser für uns beide gewesen, wenn ich nicht in letzter Sekunde Reißaus genommen hätte.“

      „Wie verlief der Abend weiter?“

      Die Frau gegenüber scheint den Tränen schon wieder sehr nahe zu sein. Anna Klettner bietet ihr einen Kaffee an.

      „Danke, das tut gut.“ Nachdem sie sich ein paar Tränen aus dem Gesicht gewischt hat, spricht sie weiter: „Er hatte wie so oft eine Flasche Rotwein dabei. Getrunken hat diesmal nur er selbst davon, denn ich hatte Magenprobleme. Danach haben wir geredet. Nachdem er vier oder fünf Glas Wein getrunken hatte, wurde er immer ruhiger. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise wirkt Alkohol bei Gerd anregend. Gegen Mitternacht zog er sich das mitgebrachte Weihnachtsmannkostüm über. Das war eine Marotte, die er schon seit Jahren praktizierte. Er musste in einer der Nächte vor dem Beginn des Marktes auf dem Kirchplatz in voller Staffage auftreten. Es war im Regelfall ein Erscheinen ganz ohne Zuschauer. Doch erst danach fühlte er sich sicher für seine Auftritte in den kommenden Tagen.“