Holger Rudolph

Weshalb starb der Weihnachtsmann?


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mit einer tiefroten Schleife dekoriert vor seiner Wohnung gestanden. Er hatte zwar geglaubt, dass sie von einer seiner vielen Verehrerinnen stammt, fand die Sache aber trotzdem komisch. Siegel und Korken schienen unversehrt zu sein. Warum also sollte er einen guten südfranzösischen Rotwein umkommen lassen? So dachte er. Hätte er den Wein doch weggekippt, dann würde er bestimmt noch leben.“

      Die junge Frau schluchzt schon wieder, so dass es der Kommissarin im Herzen weh tut: „Wir wissen doch noch gar nicht, ob etwas im Wein war. Sie trifft so oder so keinerlei Schuld. Haben Sie die Flasche noch?“

      Die Blonde nickt: „Er hatte den Rest bei mir stehenlassen. Ich habe die fast leere Flasche mitgebracht.“

      „Danke, wir werden Sie bestmöglich über die Ermittlungen auf dem Laufenden halten“, sagt die Kommissarin und hilft der Besucherin in den Mantel. Jetzt endlich kann auch sie selbst ihren Mantel vom Haken nehmen und Feierabend machen.

      Wahrscheinlich wird sie noch stundenlang darüber nachgrübeln, wie sich der neue Fall entwickeln könnte. An ein vollkommenes Abschalten ist nicht zu denken. Halblaut spricht sie vor sich her, als sie die Treppe des Reviers heruntergeht: „Du hast es nicht anders gewollt. Einmal Kommissarin, immer Kommissarin.“

      Hilferuf

      Die Sonne strahlt vom durchgehend hellblauen Himmel. Anna Klettner kann auf dem Weg zur Arbeit nicht das kleinste Wölkchen entdecken. Das Wetter scheint es sehr gut zu meinen mit dem Rheinsberger Weihnachtsmarkt, der am späten Nachmittag beginnen soll. Ganz anders als vor zwei Jahren. Damals tobte ein Sturm. Doch es ist nicht allein die Witterung, die darüber entscheidet, ob der Markt zum Erfolg wird. Noch ist nicht einmal klar, ob er überhaupt stattfinden kann.

      Sicherlich ließe sich ein Ersatz für den ermordeten Weihnachtsmann-Darsteller finden. Doch die Mitglieder des Ortsbeirats haben große Bedenken, das dreitägige Fest mit Verkaufsbuden, Kinderkarussells und Auftritten mehrerer Chöre durchzuziehen. Immerhin hat jemand erst vor zwei Tagen den allseits beliebten Gerd Oertel umgebracht.

      Wie die Kommissarin vorhin in den halbstündlichen Nachrichten der Prignitz-Ruppiner Lokalwelle von Antenne Brandenburg gehört hat, will der Beirat im Verlauf des Vormittags entscheiden, ob der Markt trotzdem über die Bühne gehen soll. Ortsvorsteher Sören Albig hatte in einem kurzen Statement um Verständnis gebeten, falls es zur Absage kommen sollte.

      Während der gut halbstündigen Fahrt von ihrem Wohnort Neuruppin nach Rheinsberg sammelt die leitende Ermittlerin die bislang vorhandenen Fakten. Es gibt also einen Toten, den wohl die meisten Rheinsberger mochten. Nicht zuletzt beim weiblichen Geschlecht war er äußerst beliebt. Gerd Oertel war Lebenskünstler und Genießer. Illegalen Drogen aber hatte er den Kampf angesagt. Im Leichnam haben die Gerichtsmediziner Morphium und Codein in letaler Dosis gefunden. Wahrscheinlich ist, dass er ausschließlich Codein zu sich genommen hat, von dem sein Körper einen Teil in Morphium umwandelte. Gegen Mittag wird klar sein, ob sich das Gift im Wein befand. Auch könnten sich Spuren an der Flasche befinden. Die Fingerabdrücke von Sabine Breyer hatte sie gestern Abend noch genommen, denn die sind ganz sicher auf der Flasche und können von vornherein als unverdächtig gelten.

       Wenn das Gift im Rotwein war, dann nahm der Täter billigend in Kauf, dass weitere Menschen ums Leben kommen. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass Oertels Bekannte nicht mittrank. Weshalb greift ein Mensch zu solchen Mitteln? Es liegt nahe, dass der todbringende Anschlag etwas mit Oertels Engagement gegen Drogen zu tun hat. Was hatte der Unnachgiebige herausgefunden?

      Später Vormittag. Hilfskommissar Dennis brütet schon seit Stunden über den Facebook-Profilen der vielen Freundinnen von Gerd Oertel. Doch er hat bisher nichts in irgendeiner Weise Verdächtiges gefunden. Und von den sieben Mitarbeiterinnen der Prinz-Heinrich-Apotheke sind nur zwei bei Facebook registriert. Eine davon ist die Apothekerin und Chefin Franziska Redlich.

      Wahrscheinlich ist der Zettel mit der Apotheken-Rufnummer doch nur ein Zufall. Verwertbare Fingerabdrücke haben die Spezialisten an dem Stückchen Papier nicht gefunden. Nach Ansicht der Schriftsachverständigen in Potsdam war es mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Frau, die die Nummer aufgeschrieben hat. Wahrscheinlich selbstbewusst und eher jung, meinen sie. Doch solche Angaben seien mit Vorsicht zu genießen, hat ihn seine Chefin gewarnt.

      Bevor sich die Kommissarin mit dem Praktikanten auf den Weg zum Italiener an der Ecke machen, schaut sie nach, ob neue E-Mails eingetroffen sind. Tatsächlich, die Spurensicherer haben Wort gehalten und ihr termingerecht die Weinflaschen-Ergebnisse geschickt. Allerdings werden sie ihr nicht allzu sehr weiterhelfen. Auf dem Glas befinden sich lediglich Fingerabdrücke von Oertel und seiner Freundin. Der Täter hat offensichtlich ganze Arbeit geleistet. Trotzdem ist Anna Klettner nicht komplett enttäuscht über das Ermittlungsergebnis. Ihre Kollegen sind sich sicher, dass das Morphium in flüssiger Form durch den Korken in die Flasche gespritzt wurde. Winzige Metallpartikel-Anhaftungen deuten darauf hin, dass das Gift mit einer medizinischen Kanüle in die Flasche gelangt war.

      Auf dem Weg zur Pizzeria versucht Dennis, seine Chefin aufzuheitern. Ihre Mundwinkel hängen im tiefen Keller. Der Praktikant macht ein paar Polizistenwitze, die er erst vor wenigen Tagen gehört hatte. Anna Klettner reißt der Geduldsfaden: „Es ist schon möglich, dass diese extra tollen Witze für Dich neu sind, ich kenne sie seit Jahren. Also verschone mich doch bitte damit und denke lieber über die Fakten nach!“

      Die Pizza schmeckt der Kommissarin heute nicht so recht. Es liegt nicht an der Qualität, denn die stimmt hier immer. Schuld ist die Tatsache, dass sie keine zündende Idee hat, in welche Richtung die Ermittlungen zu lenken sind. Vielleicht bringen die Kanülen sie weiter.

      Dennis hat offenbar dieselbe Idee gehabt und will möglichst schnell damit punkten. Er lässt sich nicht einmal die Zeit, den Bissen herunterzuschlucken: „Solche Kanülen werden in Arztpraxen verwendet, es gibt sie aber bestimmt auch in Apotheken. Schließlich sollten wir noch daran denken, dass auch manche Diabetiker sich selbst Insulin spritzen.“

      Anna Klettner grinst: „Ich bewundere, wie Du die ganze Zeit redest und den Bissen dabei gekonnt im Mund von links nach rechts bewegst. Das hat etwas von einer wiederkäuenden Kuh, oder soll ich besser sagen, von einem wiederkäuenden Bullen?“ Sie lässt den jungen Kollegen nicht erneut zu Wort kommen, setzt eine strenge Miene auf und sagt: „Spaß beiseite. Mit den Arztpraxen und Apotheken hast Du recht. Was die Zuckerkranken betrifft, glaube ich, dass sie eher eine sogenannte Pistole verwenden, die das Insulin unter Druck in den Körper schießt. Doch es gibt nun schon zwei Indizien, die unseren toten Weihnachtsmann in die Nähe einer Apotheke rücken. Erst der Zettel, dann die Kanüle. Wir sollten die Prinz-Heinrich-Apotheke im Friedrichzentrum mal genauer unter die Lupe nehmen.“

      Eine halbe Stunde später stehen die beiden Ermittler der Apothekerin Franziska Redlich gegenüber, die sich zu wundern scheint: „Nanu, was will denn die Polizei von uns?“

      Anna Klettner beruhigt: „Es handelt sich nur um ein paar Routinefragen. Sie haben ja sicherlich von der Sache mit dem toten Weihnachtsmann gehört.“

      „Ja, habe ich. Gerd Oertel hat bei uns ab und an Grippemittel gekauft. Das meiste war homöopathisch oder auf Pflanzenbasis. Der arme Kerl, ist er denn wirklich ermordet worden oder…“

      Die Kommissarin fällt der Apothekerin ins Wort: „Ich darf Ihnen nichts zum Stand der Ermittlungen sagen. Das verstehen Sie doch. Wir sind vor allem hier, weil ein paar Meter von dem Toten entfernt dieser Zettel lag, auf dem die Telefonnummer Ihrer Apotheke steht. Kennen Sie vielleicht die Handschrift?“

      Franziska Redlich schaut sich das nun in einer Folie verschweißte Stückchen Papier genau an: „Nein, diese Handschrift sagt mir nichts. Kann es nicht einfach ein Zufall sein, dass jemand den Zettel mit unserer Nummer dort verloren hat?“

      „Ist schon möglich“, erwidert die Ermittlerin. „Noch eine Frage. Wie werden bei Ihnen Opiate verwahrt? Dabei meine ich auch Codein.“

      Die Geschäftsfrau ist sich offenbar keiner Schuld bewusst. Schnell, doch ohne übertriebene Hast, antwortet sie: