Friedrich von Bonin

Die Wahrheit ist immer anders


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verstanden hatte und er setzte zu weitläufigen Erklärungen an, die ich aber ebenfalls nicht verstand. Unser Verhältnis kühlte wieder ab, als ich Hanna nach Hause brachte, die er zwar erst für meine Begriffe zu aufdringlich bewunderte, deren Ablehnung er aber sehr bald spürte. Hanna hatte nachgerade Angst vor ihm. Ein kalter böser Mensch sei mein Vater, er wirke auf sie, als hätte er keine Gefühle mehr, hatte sie mir einmal gesagt, als sie mitbekam, wie er meine Mutter herablassend und verachtungsvoll behandelte. Ich hatte versucht, ihn zu verteidigen, der Beruf des Oberstaatsanwaltes habe seine Gefühle verkümmern lassen, aber ich merkte selbst, wie ich immer mehr Abstand zu ihm hielt.

      Vor allem Hanna war es, die zögerte, zu ihm in die Villa zu ziehen.

      „Warum sollen wir uns das antun?“ fragte sie, „wir können uns eine schöne Wohnung mieten und später, wenn wir mehr Geld haben, ein eigenes Haus kaufen. Wir wollen Kinder haben, stell dir mal vor, sie würden von deinem Vater erzogen.“

      Schließlich hatten wir dann doch eingewilligt, zu sehr widerstrebte es mir, meinen Vater allein in dem riesengroßen Haus zu lassen, und Hanna sah meinen Standpunkt ein. Wir zogen daher ein, mein Vater ließ die ehemalige Wohnung meines Großvaters renovieren, entfernte alle Möbel, in denen er mit meiner Mutter gewohnt hatte und die wir nicht übernehmen wollten, aus dem Haus und richtete sich äußerst spartanisch ein.

      Ich klopfte an seine Wohnzimmertür und trat ein. Mein Vater saß in seinem alten Lehnstuhl am Fenster, das er geöffnet hatte und sah hinaus. Die Heizungen waren voll aufgedreht.

      „Guten Tag, Vater“, begann ich, „kannst du nicht das Fenster schließen, wenn du heizt? So heizt du die Winterluft, das ist umweltschädlich und kostet Geld.“

      Langsam drehte er den Kopf und sah mich an.

      „Guten Tag, mein Sohn, kannst du deinen alten Vater denn nicht einmal begrüßen, ohne ihm Vorwürfe zu machen?“

      Ich sah ihn schweigend an. Er ließ sich das schlohweiße Haar immer länger wachsen, es fiel schon über die Ohren, auffällig, weil er, solange er berufstätig war, die Haare immer sehr kurz geschoren getragen hatte. Unter der hohen, tief durchfurchten Stirn mit den buschigen ebenfalls weißen Augenbrauen darunter sahen mich die kalten blauen Augen durchdringend an.

      „Franz, ich habe dich nicht gebeten, mich zu besuchen, um mit dir über meine Heizgewohnheiten zu sprechen. Man hat mir berichtet, dass meine ehemaligen Kollegen umfangreich gegen dich ermitteln. Was ist denn da los? Und ich hätte es gewünscht, dass du mir von dir aus berichtest, wenn du so schwer beschuldigt wirst.“

      „Ja, die Staatsanwaltschaft in Königsfeld ermittelt gegen mich, sie haben jetzt Anklage erhoben“, antwortete ich zurückhaltend.

      „Schon Anklage erhoben? Aber was werfen sie dir denn vor?“

      „Sie behaupten, oder vielmehr dein Nachfolger, Oberstaatsanwalt Pagelsdorf, wirft mir umfangreiche Bestechungen von Politikern und Staatssekretären vor.“

      „Pagelsdorf, soso“, brummte er und sah mich immer noch kalt an, „wie lange weißt du denn schon, dass er hinter dir her ist?“

      „Vor ungefähr eineinhalb Jahren hat er mein Büro durchsucht, ich habe damals Rechtsanwalt Hummerdorf, meinen ehemaligen Kommilitonen, beauftragt, der hat die Akte eingesehen und die Vorwürfe für wenig haltbar gehalten.“

      „Hummerdorf? Aber das ist ein rein wirtschaftsrechtlich ausgerichteter Anwalt, der hat doch von Strafrecht nicht die geringste Ahnung.“

      „Ja, das hat er mir auch gesagt, aber in die Akte der Staatsanwaltschaft sehen könne er schon, hat er gesagt.“

      „Aber deinen alten Vater zu informieren, damit er vielleicht mal mit Pagelsdorf spricht, auf die Idee bist du nicht gekommen, nein?“

      Die Stimme meines Vaters war immer ein tiefer Bariton gewesen, eine sehr gute Rednerstimme, wie alle, die ihn beruflich kannten, mir erklärten. Im Alter war sie einige Töne nach oben gerutscht, jetzt hatte sie einen schrillen Anflug.

      „Aber Vater, warum sollte ich dich damit belästigen, die

       Sache erschien mir wirklich nicht bedeutend genug.“

      „Aha, unbedeutend also, und vor welchem Gericht bist du nun angeklagt? Wenn die Sache so unbedeutend ist, bestimmt vor dem Einzelrichter des Amtsgerichtes?“

      „Nein, Pagelsdorf hat sie vor der großen Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichtes angeklagt“, antwortete ich und wich seinem Blick aus, der immer noch, kalt und blau, auf mir ruhte. Ich wusste, was kam.

      „Vor der Wirtschaftskammer? Und dann wagst du es, deinem alten Vater mit Sprüchen wie unbedeutend zu kommen? Pagelsdorf klagt nie vor der Kammer an, wenn er seiner Sache nicht sicher ist. Und worum geht es?“

      Ich beschrieb ihm die Vorwürfe, die ich heute Morgen gelesen hatte.

      „Stimmt das denn alles?“

      „Mein Gott, Vater, du weißt, was ich tue. Ich vertrete die Interessen der Wirtschaft gegenüber der Politik. Das ist Lobbyarbeit. Wenn alle Lobbyisten in Deutschland angeklagt würden, hätten die Staatsanwaltschaften die nächsten zwanzig Jahre für nichts anderes mehr Zeit.“

      Mein Vater setzte zu einer Suada über die Lobbyistenarbeit im Allgemeinen und über meinen Anteil daran im Besonderen an, für den er mich verurteilte und verachtete, eine Rede, die ich schon hundert Mal von ihm gehört hatte. Mein Blick irrte ab. Wie oft hatte ich hier in diesem Zimmer bei meinem Großvater gesessen und mir seine Erinnerungen angehört, immer in dieser angenehmen und sonoren Stimme, gleichmäßig und beherrscht und freundlich. Und hier saß ich im gleichen Zimmer und musste mir die Grundkritik meines Vaters an meinem Leben anhören. Mitten in seiner Rede stand ich auf und verließ seine Wohnung, ohne auf sein strenges „wohin willst du, hör mir gefälligst zu!“ zu achten. Die Erinnerung an meinen Großvater hatte beruhigende Wirkung auf mich gehabt, ich wollte ihr weiter nachhängen und ging in mein Arbeitszimmer.

      8.

      Wie vermisste ich jetzt meinen Großvater, seine freundliche Art. Wieder saß ich in meinem Zimmer und entging der Gegenwart, der Anklage und zog mich zurück in die Erinnerung an ihn. Ich sah fast körperlich sein lächelndes Gesicht mit den neugierigen Augen auf mir ruhen, ich fühlte seine mitleidende Art. So hatte er mich angesehen, wenn ich mir das Knie aufgeschlagen hatte bei dem Versuch, auf dem Fahrrad fahren zu lernen. Erst hatte er mir Jod auf das Knie getupft, es brannte furchtbar, dann ein Pflaster darauf geklebt und dann mir Geschichten erzählt, „von früher“, wie wir sie nannten.

      „Ja weißt du“, setzte er die begonnene Erzählung fort, „ich habe dann Andrea geheiratet, deine Großmutter. Kathrin, deine Großtante, hat sie erst etwas misstrauisch angesehen, sie wollte ihr ja den Bruder wegnehmen, aber Andrea hat sie sofort in ihr Herz geschlossen. Wir alle haben nach der Heirat in dieser Villa gewohnt, die damals etwas heruntergekommen war, nicht so gepflegt wie heute, aber wir haben uns wohl gefühlt. Anni hat, das muss 1923 gewesen sein, eine Stellung in München gefunden und uns verlassen. Wir waren damals sehr traurig, aber ich konnte mit meinem Verdienst als Maurer mein und Kathrins Studium finanzieren und als wir, Andrea und ich, die beiden Examen hatten, das war 1925, haben wir geheiratet.

      III.

      1.

      Andrea und Eduard waren jetzt unzertrennlich. Sie saßen zusammen in den Vorlesungen, sie gingen zusammen nach Hause, meistens in die Wohnung Andreas, weil die in der Nähe der Universität lag. In den Semesterferien arbeitete Eduard weiter als Maurer und verdiente gutes Geld. Mehr und mehr jedoch bemühte er sich, seinen Lohn am Ende des Tages sofort in bar ausgezahlt zu bekommen und lief, so schnell er konnte, zu Andrea, holte sie ab und beide rannten zu dem nächsten Lebensmittelhändler. Bekam Eduard morgens für einen Tag Arbeit den Gegenwert von hundert Weißbroten, so bekamen sie nachmittags, nachdem der Lohn ausgezahlt war, im Laden dafür höchstens noch den Gegenwert von zwanzig Broten. Die Inflation hatte das Deutsche Reich fest im Griff, jeden Tag, jede Stunde sank der Wert des Geldes. Bekam Eduard zu Anfang noch am Ende des Tages fünf Reichsmark ausgezahlt, so betrug sein Lohn ein halbes Jahr später eine Million Mark,