Friedrich von Bonin

Die Wahrheit ist immer anders


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stahlen sie. Immer häufiger trafen sie sich mit Eduards Schwester Kathrin und dann gingen sie zu Dritt in die Läden.

      „Heute gibt es Eier bei Racke“, begrüßte ihn Andrea, als er in ihre Wohnung kam und schon rannten sie los, um welche zu ergattern. Eduard hatte sein Geld in der Tasche.

      „Pro Person eines Haushaltes kann ich vier Eier abgeben, sie kosten pro Stück zwei Millionen Mark“, gab Herr Racke bekannt, als sie an der Reihe waren.

      „Wir sind vier im Haushalt“, log Eduard frech, „wir beide, meine Schwester Kathrin und Anni, meine Cousine.“

      „Hier sind sechzehn Eier, macht 32 Millionen Mark“, damit reichte der Inhaber die Tüte mit den wertvollen Eiern über den Tresen. Eduard gab ihm drei Zehnmillionenscheine und einen Schein zu fünf Millionen.

      „Für die restlichen drei Millionen packen Sie mir bitte Brot ein“, bat er. Herr Racke sah stirnrunzelnd nach hinten in den Laden.

      „Ja, für drei Millionen bekommen Sie drei Weißbrote, die habe ich auch noch“, antwortete er, ging nach hinten und holte die drei Brote, in Tüten eingepackt.

      Glücklich verließen sie den Laden und sahen sich an.

      „Wollen wir nicht mit der Straßenbahn zu Kathrin fahren und zu dritt ein Festmahl abhalten?“ schlug Andrea vor.

      „Aber wir haben kein Geld mehr für die Straßenbahn“, wandte Eduard ein.

      „Macht doch nichts, wir steigen hinten ein und hoffen, dass keiner kontrolliert“, Andrea war unbedenklicher, wenn es um Schwarzfahren ging und allmählich hatte sich auch Eduard daran gewöhnt. Was half es auch, sie hatten kein Geld, als er es verdient hatte, war es noch so viel wert, dass sie auch eine Fahrkarte hätten zahlen können, jetzt war es so weit entwertet, dass sie alles für Lebensmittel hatten ausgeben müssen.

      Kathrin war hell begeistert, als sie mit den Eiern ankamen.

      „Seht mal, ich habe Kartoffeln auf dem Feld gefunden, auf dem wir früher mal zusammen waren, jetzt können wir uns Kartoffeln braten und die Eier dazu essen, das gibt ein Festmahl“, sagte sie.

      Beim Essen sprachen sie über Politik. Weder Andrea noch Kathrin trauten sich abends allein auf die Straße. Banden von ehemaligen Soldaten zogen plündernd und prügelnd durch die Stadt, niemand war vor ihnen sicher, aber die waren noch die harmloseren. Gefährlicher waren die Politischen von rechts und links. „Vaterlandsverräter“ nannten die nationalistischen Banden die Politiker, die den Friedensvertrag von Versailles unterschrieben hatten, und Vaterlandsverräter waren ihnen vor allem die Kommunisten, die eine Diktatur des Proletariats errichten wollten nach dem Vorbild der russischen Revolution. Wehe, wer in eine Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Parteien geriet, gleich, ob Mann oder Frau, alt oder jung, er wurde unweigerlich in die Prügelei einbezogen und nicht selten gab es Tote.

      „Hier, in der Vorstadt, ist es Gottseidank noch ruhig“, sagte Kathrin, „aber bei dir in der Innenstadt muss es furchtbar zugehen.“ Sie sah Andrea an.

      „Man gewöhnt sich daran“, antwortete sie, „man darf eben nicht in diese Schlägereien geraten, ich gehe ihnen bisher immer mit Erfolg aus dem Weg.“

      „Aber in die Versammlungen der Kommunisten gehen wir schon“, warf Eduard ein, „es gibt einen Unterschied zwischen ihnen und den Nationalisten. Das sind Leute, die den Krieg genau analysiert haben und jetzt der Meinung sind, dass die Kriege für die reichen Leute geführt werden. Wir sollten uns daran nicht beteiligen. Aber wenn sie sich mit den Nationalisten prügeln, sehen wir zu, dass wir nicht dabei sind.“

      2.

      Alfons Hellmann studierte wie Andrea und Eduard Jura. Immer öfter stellte Eduard fest, dass Hellmann wie zufällig neben ihnen saß, abwechselnd neben Andrea und ihm. Irgendwann sprach er Eduard an:

      „Entschuldigen Sie bitte, ich bin Alfons Hellmann, ich suche eine Gruppe, mit der ich mich auf das Examen vorbereiten kann. Kann ich nicht mit Ihnen und Fräulein de Hourot zusammen lernen?“

      Diese Frage war nicht ungewöhnlich, immer wieder taten sich die Studenten in den letzten Semestern zusammen, um den Examensstoff gemeinsam zu lernen und dann auch zusammen durch das Examen zu gehen. Andrea und Eduard hatten vor kurzem mit den Vorbereitungen angefangen und so musterte Eduard den Kommilitonen vor sich. Alfons Hellmann war ein großer schlanker Mann in seinem Alter, blondhaarig, mit einer hohen Stirn und blauen Augen. Ganz kurz fuhr Eduard der Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf, dass der andere sehr viel besser aussah als er und ihm bei Andrea möglicherweise würde gefährlich werden können. Aber Hellmann nahm diesem Gedanken sofort die Spitze:

      „Meine Freundin würde sich gerne auch anschließen, wir wären dann zu viert. Wollen wir uns nicht heute Nachmittag treffen und zu viert darüber reden?“

      „Gerne, ich weiß nicht, ob Andrea vielleicht schon etwas Anderes vorhat, aber wenn nicht, treffen wir uns um drei Uhr hier.“

      „Abgemacht.“

      Die beiden trennten sich und zu viert trafen sie sich am Nachmittag in der Mensa, in der um diese Zeit viele Kommilitonen Kaffee tranken. Alfons Hellmann kam mit einer jungen Frau an, die fast ebenso groß und schlank wie er war, allerdings dunkelhaarig mit braunen Augen.

      „Das ist Fräulein Agnes Mantermann, das sind Fräulein Andrea de Hourot und Herr Eschenburg“, stellte er vor, aber Andrea unterbrach ihn.

      „Wenn wir zusammen lernen wollen, wäre es nicht sinnvoller, wir duzten uns von Anfang an?“, fragte sie, „ich heiße Andrea, das hier ist Eduard, Agnes habe ich verstanden und du heißt Alfons?“

      Hellmann nickte.

      „Ich wollte das auch vorschlagen, wir werden ja doch einige Zeit miteinander verbringen“, Agnes Mantermann hatte eine klangvolle Altstimme und lächelte Andrea und Eduard freundlich an.

      „Also gut, wenn wir die Formalien erledigt haben, können wir vielleicht anfangen, einen Lernplan aufzustellen.“

      Alfons Hellmann erwies sich als guter Organisator, sie hatten sich sehr schnell über die Reihenfolge des Lernstoffes geeinigt, um dann über sich selbst zu erzählen.

      Alfons Hellmann war aus alter Königsfelder Familie, seine Eltern waren auch nach dem Krieg noch reich, sie hatten ausgedehnte Felder an der Stadtgrenze von Königsfeld, die sie verpachteten, anders als Eschenburg, dessen Eltern kurz vor ihrem Tode die Firma hatten aufgeben müssen. Ihnen war nichts geblieben als das Haus, in dem Eduard jetzt wohnte. Sehr schnell entdeckten Hellmann und Eschenburg ihre Begeisterung für das Schachspiel. Eduard hatte es an der Front in den kampfarmen Zeiten tage- und nächtelang mit den Offizieren seiner Einheit gespielt und schlug am Schluss die meisten Gegner. Alfons hatte sich im Krieg nicht sonderlich hervorgetan, er hatte die ganzen vier Jahre in der Etappe verbracht. Nach dem Krieg hatte er das Turnierspiel wieder aufgenommen, das er als Schüler begonnen hatte und war noch jetzt ein gefragter und gefürchteter Partner. Die Spannung war groß, als sie sich zu ihrem ersten Spiel niedersetzten. Erleichtert stellten sie fest, dass keiner dem anderen weit überlegen war, das erste Spiel ging an Alfons Hellmann, aber Eduard Eschenburg revanchierte sich gleich darauf. Entgegen der ersten Übereinkunft duzten sich die jungen Männer zwar von Anfang an, nannten sich aber bei ihren Nachnamen.

      Hellmann war schon seit seinen Schülertagen in der Partei, wie er das nannte. Diese Partei, Zentrum genannt, so erklärte er Eduard Eschenburg immer wieder, war vor allem friedlich gesonnen. Nie wieder Krieg, das hatten nicht nur die Kommunisten und die Sozialisten auf ihren Fahnen, auch die konservativen Politiker vom Zentrum wollten Frieden halten.

      „Und hast du schon mal ein Mitglied des Zentrums auf der Straße gesehen, wie er sich mit Kommunisten oder extremen Nationalisten prügelt?“, fragte er Eschenburg, und der musste einräumen, nein, durch Gewalttaten waren die noch nie aufgefallen.

      „Warum geht Ihr, Andrea und du, nicht mal mit zu einer unserer Versammlungen?“, fragte Hellmann weiter, „schaden kann das nicht, du wirst nicht dümmer und vielleicht überzeugen wir dich ja“, ergänzte er mit einem freundlichen Lächeln, „dann haben wir ein Mitglied