Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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auf den Verkehr zu achten, überquerte ich die Straße und lief zu meinem Fahrrad. Dort schloss ich mit zittrigen Händen das Schloss auf. Ich wollte nur noch schnell nach Hause fahren und mich in meinem Zimmer verkriechen. Das war alles, an was ich denken wollte.

      Jetzt, hier an meinem Fenster stehend, lasse ich diesen Vormittag und den alten Professor mit seinem hysterischen Ausbruch immer wieder Revue passieren und das Ganze jagt mir immer wieder eine Gänsehaut über den Rücken. Da hilft auch kein Blick über das frisch aufspringende Grün der Wälder oder das Aufkeimen eines neuen Frühlings etwas. Ich spüre eine tiefgründige Unsicherheit wegen der Worte des Alten durch meine Adern kriechen und wie ein Holzsplitter in meinem Kopf sich festsetzen.

      Aufgebracht drehe ich mich um, gehe zu meinem Sofa und werfe mich hinein. „Alles Blödsinn“, brummele ich dabei vor mich hin und versuche mich zu beruhigen. „Alles völliger Quatsch.“

      Ich spring wieder auf und gehe an meinen Schreibtisch. Ein Blatt Briefpapier vor mich legend, beginne ich mit einem Brief an meine Brieffreundin Katrin aus Leipzig. Ich muss mir die Geschichte mit dem Professor von der Seele schreiben, um sie nicht weiter in mein Innerstes dringen zu lassen. Ich brauche etwas, was dieses unbeschreibliche Gefühl in mir zum Schweigen bringt, dass etwas an seiner Geschichte stimmen könnte.

      Es gibt für mich nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich versuche herauszufinden, was das Ganze auf sich hat oder ich vergesse das alles.

      Ich klebe eine Briefmarke auf das Kuvert und fühle mich langsam besser. Ich hatte auf drei Seiten mein Erlebtes niedergeschrieben und ahne, dass Katrin mir das alles sowieso nicht glauben wird. Aber wie immer wird sie wenigstens so tun und mir zurückschreiben, dass ich ihr ruhig weiter alles schreiben kann.

      Nun, da sich langsam wieder mein Verstand klärt, scheint mir die Geschichte nur noch verrückt zu sein und der alte Professor ebenso. Doch eines ist klar, er ist nicht der Einzige, der an einen Hexer, der dieses Haus bewohnt haben soll, glaubt. Aber er ist der Erste, der behauptete, dass dieser Hexer mit mir verwandt gewesen sein soll. Außerdem ist er der Einzige, Gott sei Dank, der glaubt, ich bin so etwas wie der wieder zu Fleisch gewordene Hexer von damals.

      „So ein verblödeter, hirnverbrannter Idiot“, schimpfe ich laut und voller Wut darüber, dass dieser Professor mich so aus der Fassung gebracht hatte, dass ich denke, ich platze.

      „Wer, ich?“, ertönt hinter mir eine Stimme, und das von dunkelbraunen Haaren umrahmte Gesicht meines Bruders erscheint im Türrahmen.

      Julian ist zwanzig und so ganz anders als ich. Dass wir Geschwister sind, glaubt uns keiner auf Anhieb. Er sieht verdammt gut aus, mit seinen braunen, welligen Haaren und den dunkelbraunen Augen in dem ebenmäßigen Gesicht. Dazu ist er schlank und wirkt, als wäre er Stammkunde in einem Fitnesscenter, obwohl er nur manchmal Fußball spielt. Außerdem ist er unser Schulprimus, hat sein Abi in der Tasche und ist seit Kurzem dabei, den Führerschein zu machen - und in diesem Augenblick hält er in seiner Hand das Fragenbuch der Fahrschule.

      Ich sehe das zwar als ein unkalkulierbares Risiko an, dass er mit einem Auto auf die Straße gelassen werden soll, aber leider habe ich kein Mitspracherecht.

      „Hey, Julian!“, rufe ich sofort und winke ihn herein.

      Wie immer trägt er seine Jeanshose nur halb auf seinem Hinterteil hängend. Dazu hat er ein schwarzes T-Shirt an, das ziemlich eng anliegt und seine breiten Schultern betont.

      Ich beneide ihn für sein Aussehen und frage mich immer wieder, warum ich so hell bin und auch noch Sommersprossen haben muss. Außerdem wirkt er immer irgendwie braun gebrannt und gesund, während ich blass und kränklich aussehe. Wo ich es in allem nur bis zur Hauptschule bringe, schlendert er mit Leichtigkeit durch das Gymnasium. Ihm fällt alles in den Schoß.

      Julian tritt mit verunsichertem Blick in mein Zimmer. Er ist es nicht gewohnt, von mir in mein heiliges Reich gebeten zu werden.

      „Kennst du einen Professor Knecht, der Vertretungen in Schulen gibt?“, frage ich ihn.

      Julian sieht mich dümmlich an. „Nö, warum?“

      Ich bin drauf und dran ihm zu erzählen, was mir an diesem Vormittag passiert war. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass Julian nur darüber lachen wird. Er war damals schon über den ganzen abergläubischen Unsinn wegen dem Haus mehr als belustigt und hatte mich lange damit aufgezogen, dass ich dem so viel Beachtung schenkte. So winke ich ab und versuche es auf einem anderen Weg.

      „Hat dich hier noch mal jemand wegen einem Hexer oder Zauberer angequatscht, der hier gewohnt haben soll?“

      „Meinst du die Geschichte von unserem seltsamen Ururgroßvater?“, antwortet Julian leichthin.

      Mich trifft fast der Schlag.

      Warum weiß er darüber Bescheid und ich nicht? Ich hasse es, wenn mein Bruder den Schlauen rauskehren kann und ich hasse es noch mehr, dass er nie etwas von sich aus preisgibt. Er hätte mir doch schon längst mal davon berichten können.

      Aber diesmal bin ich so neugierig, dass ich mich freiwillig klein und dumm stelle.

      „Du weißt davon?“, frage ich ihn.

      „Nah ja. Wissen ist wohl übertrieben“, meint er grinsend und setzt sich auf mein Bett.

      Bisher durfte er nicht mal auf meinem Sofa Platz nehmen. Genauso, wie er mich in seinem Zimmer nie duldet, so allergisch reagierte ich bisher darauf, wenn er meins betrat. Doch diesmal bringt mich das nicht in Rage und diesmal scheint er es auch gar nicht darauf angelegt zu haben, mich damit zu ärgern. Ganz im Gegenteil. Er scheint sich dort breitzumachen, um mir endlich von etwas zu berichten, das ihm schon länger auf der Seele brennt. Aber schon der erste folgende Satz macht mich dann doch wieder wütend. Aber nicht auf meinen Bruder.

      „Du weißt ja, dass wir beide immer alles als Letztes erfahren und du sowieso. Mama will nicht, dass du davon zu viel weißt.“

      „Wovon?“, stammele ich und komme mir vor, als hielte man mich in dieser Familie für nicht vollwertig. Ich beschließe, egal was Julian zu berichten hat, meiner Mutter, und vielleicht auch meinem Vater, gehörig die Meinung zu sagen. Ich bin schließlich schon siebzehn!

      „Ich weiß nicht, ob ich dir das wirklich sagen soll. Nachher …“ Mein Bruder wirkt plötzlich wirklich verlegen.

      „Was nachher?“, fauche ich und weiß nicht, ob er mich nur auf den Arm nehmen will.

      „Du weißt doch?“, stammelt er, nun noch verlegener und sieht auf seine Hände. „Wegen dieser Träume.“ Er sieht wieder auf und seine dunklen Augen verengen sich, als würden sie meine Reaktion zu ergründen versuchen.

      Ich sehe ihn verwirrt an. „Wegen der Träume?“

      Julian kann doch nur die schrecklichen Albträume aus meiner frühsten Kindheit meinen. Meine Mutter verbat ihm damals das Fernsehen, weil sie glaubte, dass er in meinem Beisein schlimme Filme ansah. Außerdem liebte er es, mir, sobald er lesen konnte, und das konnte er schon Ende der ersten Klasse fließend, vorzulesen. Doch auch das hatte Mama ihm schnell verboten, weil sie meinte, er lese mir nur Gruselgeschichten vor. Alles alter Kaffee und ewig her. Von meinen späteren Traumattacken kann er nichts wissen. Die habe ich immer für mich behalten.

      Ich fauche ihn an: „Nun mach mal ‘nen Punkt. Nur weil ich früher mal etwas schlecht schlief? Ich bin jetzt siebzehn Jahre alt. Da werde ich wohl nicht gleich vor Entsetzen zusammenbrechen und nachts aus dem Fenster springen, wenn du mir was von vor hundert Jahren erzählst“, sage ich und versuche all meinen Spott in diesen Satz zu legen.

      Julian lächelt verhalten und ich wundere mich etwas, dass er sich überhaupt die Mühe macht, vor mir so zu tun, als müsse er sich erst dazu durchringen, mir von allem zu erzählen. Sonst ist er mit mir keineswegs so zimperlich. Ich erinnere mich gut, wie er mir beim Zelten mit Christiane vor zwei Jahren eine überfahrene, schon brettharte Katze in den Schlafsack gesteckt hatte. Als ich abends hineinkletterte und meine Füße etwas Hartes, Felliges trafen, machte er sich doch auch keine Sorgen um mein Seelenheil.

      „Aber erzähl bloß keinem davon.