Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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hatte. Aber das ist nur ein unbestimmtes Gefühl in meinem Inneren.

      So springe ich auf und knuffe meinen Bruder lachend. „Ach, Hexenverbrennung. So ein Blödsinn! Das hätte doch die Polizei herausgefunden. Viel mehr Menschen hätten darüber gesprochen und Zeitungen hätten darüber berichtet. Mal ganz davon abgesehen, dass die Geschwister, Verwandten und Bekannten von diesem Kurt die Geschichte doch damals ganz anders hinterfragt hätten.“

      Julian sieht mich skeptisch an. „Aber was meintest du mit jemandem, der darüber genau Bescheid weiß?“, fragt er, als wäre er sich nicht ganz sicher, ob ich ihm nicht nur etwas vormache. Er kennt mich einfach zu gut.

      „Das war nur Spaß!“, rufe ich und grinse Julian frech an. „Ich kenne auf jeden Fall keinen. Du?“, frage ich und greife nach meiner Schultasche, als wäre es nun wirklich an der Zeit, diesen Unsinn zu lassen und die Hausaufgaben in Angriff zu nehmen.

      Julian steht langsam auf und schüttelt den Kopf. „Nö, ich sage ja, dass der bestimmt wieder nach Ägypten gegangen ist.“ Er dreht sich noch einmal zu mir um und seine dunklen Augen verengen sich zu Schlitzen, die mich so seltsam mustern, dass alles in mir zusammenschrickt. Eine Sekunde lang habe ich das Gefühl, dass Julian mich durchschaut.

      Ich sage, als wäre das meine feste Meinung: „Vielleicht brauchte irgend so ein Ölscheich einen fähigen Laboranten zum Ölpunschen? Die haben bestimmt besser gezahlt als die Bauern hier. Da hat unser schlauer Verwandter gedacht, da geh ich lieber wieder.“

      Julian grinst steif und nickt.

      Mir kommt mit einem Mal der Gedanke, dass er mir noch irgendetwas verschweigt, genauso wie ich ihm. Aber ich wische den Gedanken schnell fort und füge noch, mich etwas dumm und unwissend stellend, hinzu: „Nah, den Verstand eines Ärchemästen oder wie das heißt, hast du bestimmt von diesem Kurt geerbt. Ich auf jeden Fall nicht.“ Ich spiele damit darauf an, dass Julian schon immer mit Chemiebaukästen herumhantiert hatte.

      Der scheint eine Sekunde zu erstarren. „Alchemist heißt das“, knurrt er und reißt die Tür auf. Dort dreht er sich noch einmal um, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. „Und, was war jetzt mit diesem Professor, nach dem du gefragt hast?“

      „Ach nichts! Gar nichts! Wir hatten bei dem heute nur Vertretung und der war echt schrecklich. Mehr nicht!“, antworte ich, die Unbekümmerte spielend.

      Ich bin froh, dass Julian endlich mein Zimmer verlässt. Nachdenklich gehe ich zum Fenster und stelle schnell die Blumen und alles Kram, was ich immer auf der Fensterbank ablege, auf den Schreibtisch. Das Fenster weit öffnend, sauge ich gierig die frische Luft in meine Lunge und rede mir ein, dass auch dieser Professor von der Geschichte gehört haben muss, die Opa meinen Eltern erzählt hatte. Aber das erklärt noch nicht, was wirklich aus diesem Kurt geworden war.

      Je mehr ich mir einzureden versuche, dass die Geschichte mit der Hexenverbrennung nur Blödsinn ist, umso heftiger schleicht sich in mir ein Interesse an dieser Geschichte ein. Mehr noch! Es scheint mir auf seltsame Weise der Wirklichkeit zu entsprechen, als wäre ich dabei gewesen. Und der Name Kurt …!

      Gibt es einen Zusammenhang mit „meinem“ Kurt?

      Mit Erschrecken baut sich in mir die Gewissheit auf, dass da tatsächlich eine Verbindung bestehen könnte.

      Ich beginne entsetzt, diese Geschichte als unwahr abzutun, aus einer Art Schutz heraus vor einem Wissen, das unbedingt tief in meinem Inneren verborgen bleiben muss. Aber es will dort nicht bleiben und Fetzen eines immer wiederkehrenden Albtraumes drängen hoch.

      „Kurt, hilf mir!“, höre ich wieder die panische Stimme in meinem Kopf schreien, während der Himmel von Staub und Rauch übersät ist und kreischend Bomben neben uns einschlagen.

      Beide Hände an die Schläfen gelegt, schließe ich die Augen und versuche den innerlichen Druck loszuwerden, der sich in mir aufbaut, als hätte jemand eine Tür zu einem verborgenen Wissen aufgestoßen und ich konnte sie nicht schnell genug wieder zuschmeißen. Ich will nicht an diesen Traum denken. Etwas aus dem Inneren, das hinter der Tür haust, war aber offensichtlich herausgedrungen und der Rest drängt nun unerbittlich gegen die Tür.

      Verzweifelt dränge ich die Furcht und das Entsetzen, das diesen Traum begleitete, wann immer ich ihn träumte, zurück. Es darf sich nicht in meinen Tag einschleichen, wenn ich ein einigermaßen normales Leben führen will.

      Aber es scheint zu spät zu sein. Die Mühlen scheinen schon zu mahlen und ich kann es nicht mehr aufhalten.

      Als ich nach einiger Zeit innerlichen Kampfes die Augen öffne und nach draußen sehe, habe ich einen Entschluss gefasst. Ich muss dem Ganzen auf die Spur kommen. Es muss einen Weg geben, mehr darüber zu erfahren, um diesen innerlichen Druck endlich loszuwerden und Klarheit in die ganze Geschichte zu bringen. Diese Geschichte mit der Verbrennung von diesem Kurt Gräbler muss ich klären. Denn wenn doch etwas Wahres dran ist, muss ich wissen, ob Kurt Gräbler und mein Kurt ein und dieselbe Person sind. Außerdem habe ich das Gefühl, es ist besser, das nächste Mal gegen solche Menschen wie diesen Professor gewappnet zu sein und sie mit Argumenten umstimmen zu können. Denn man weiß ja nie, zu was solche Leute fähig sind. Und ich muss mich irgendwie schützen.

      Ein seltsamer Gedanke, der sich da im mir ausbreitet.

       Ich muss mich schützen! Mir darf nichts passieren!

      Ich schließe das Fenster wieder und stelle die Blumen und alles andere ordentlich auf den kalten Marmor zurück.

      Als ich mich an meinen Schreibtisch setze, zittern meine Hände kaum noch. Der Entschluss, endlich nicht mehr die Augen zu verschließen und Nachforschungen betreiben zu wollen, lassen mich ruhiger werden.

      Ich greife nach meiner Schultasche und zerre meine Hefte und Bücher auf die Tischplatte, um mit meinen Hausaufgaben zu beginnen.

      Erstaunlicherweise kann ich mich an diesem Nachmittag sogar gut auf meine Hausaufgaben konzentrieren. Sehr gut sogar. Alles geht müheloser als sonst. Keine Gedanken an Christiane und die anderen Mädchen aus meinem Trupp drängen sich zwischen mich und meine Matheaufgaben. Kein Gedanke an den unbekannten Jungen, den ich irgendwann treffen werde, lässt mein Herz höherschlagen. Kein verrückter Professor macht mir Angst. Es gibt nur die Hausaufgaben und mich. Ein Zustand, der mir in meinem Leben noch nie so untergekommen ist.

      Mit der Absicht, meinem Unwissen, den alten Zeiten gegenüber, entgegen zu treten, öffnet sich mir plötzlich eine Welt der Ruhe.

      So werde ich auch schnell fertig und fühle mich, als könne mich nichts mehr erschüttern.

      Inzwischen kam meine Mutter nach Hause. Ich hörte ihren entfernten Ruf: „Hallo! Ich bin wieder da!“

      Nun ertönt ihr zweiter Ruf, der mir sagt, dass seit dem ersten schon wenigstens eine Stunde vergangen sein muss. „Kinder … Essen!“

      Was habe ich die ganze Zeit gemacht?

      Auf einem Zettel vor mir sehe ich Strichlinien, die mit Namen verbunden sind. Ein Stammbaum meiner Familie.

      Ich habe meinen Namen und Julians unten auf die Seite gesetzt. Darüber steht mein Vater Niklas und meine Mutter Sophie. Darüber sehe ich die Namen Willy und Martha, Oma und Opa also. Neben Oma steht allerdings auch noch der Name Otto und die beiden sind verbunden mit dem Namen meiner Mutter. Opas Name wirkt ausgeschlossen und allein.

      Mich überkommt nach langer Zeit so etwas wie Trauer. Was hatte Opa getan, dass er so gestraft wurde? Glaubte er doch immer, eine Tochter zu haben, so stellte sich erst kurz vor seinem Tod heraus, dass er niemals Kinder hatte. Was für eine schreckliche Enthüllung.

      Über den Dreien steht mit einem riesigen Nichts dazwischen der Name Kurt. Aber wo gehört dieser Kurt hin, den man als Hexer bezeichnet hatte? Ich weiß es nicht und hoffe, es herausfinden zu können.

      Ich erhebe mich und schiebe den Zettel in mein Englischbuch. Auch Englisch war heute gar nicht so schwer gewesen.

      Ich trabe nach unten. Mein Magen schreit nach Füllung und mir fällt ein, dass mein Mittagessen ausgefallen war. Aber das ist nichts Ungewöhnliches.