Laryssa I. Bieling

Miramahelia


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Mr. Prittel, >>es wimmelte doch nur so vor Personen.<< Überall liefen menschenähnliche, halb durchsichtig Gestalten herum, teilweise angezogen wie in Madame Tussauds Gruselkabinett. Einige davon waren klein wie Kinder, andere übernatürlich groß. In der frühmorgendlichen Dämmerung und der leicht neblig verwaschenen Sicht waren ihre Gesichter nur schwer erkennbar. Sie schienen etwas oder jemanden zu suchen, denn jedes Türschild wurde von ihnen gelesen.

      >>Ja sehen sie denn nicht, was hier auf den Straßen los ist?<<, stutzte Mr. Prittel.

      >>Das ist ja schlimmer als in der Vorweihnachtszeit!<<

      Der alte Mann schüttelte fassungslos den Kopf, warf ihm einen ungläubigen Blick zu und tickte mit seinem Zeigefinger an seine Schläfe.

      >>Ich glaube langsam sie spinnen! Falls sie aber doch alle Tassen im Schrank haben, sollten sie vielleicht einen Optiker aufsuchen oder einen Beruhigungstee trinken! Reichlich ungesund, wenn sie alles doppelt und dreifach sehen. Ich gebe ihnen meine Karte. Sie werden sie irgendwann noch einmal brauchen. Wenn nicht für eine neue Brille, dann für etwas anderes.<< Ein merkwürdiger Typ dachte Mr. Prittel still bei sich. Irgendwie sprach er in Rätseln. Der alte Mann griff erstaunlich flink in seine Tasche. Dort zog er eine goldene Visitenkarte heraus, drückte sie ihm in die Hand, drehte sich auf seinem Absatz um und war weg. Kurzum verschwand er genauso schnell, wie er gekommen war. Mit der Karte in der Hand stand er nun wie angewurzelt da. Was für ein Name:

       Prof. Dr. Dr. Valim Rachmjenitsch

       Optiker und Experte für Antiquitäten

      Rachmjenitsch wohnte im Woldengrove End, fußwärts fünf Minuten von der Square Stone Gasse entfernt. Komisch, das war quasi fast um die Ecke und tatsächlich kannte man sich nur von Weitem. Alles nur Zufall dachte er sich, dann verstaute er die Karte in seinem Portemonnaie.

      Das merkwürdige Treiben auf der Straße wurde immer unruhiger. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend ging er wieder rein und schloss kurzerhand die Tür zu. Aus sicherer Entfernung sah er aus dem Schaufenster und bemerkte, dass sich immer mehr dieser Wesen auf den Straßen tummelten. Nun kamen sie auch direkt vor sein Schaufenster, schauten neugierig, beschnüffelten das Fensterglas und tuschelten miteinander. Er war sicher, das hier hatte nichts mit Halloween zu tun und deutete auf etwas anderes hin. Beim Betrachten der Gestalten fiel ihm auf, dass sie, je heller es draußen wurde, immer hektischer und transparenter erschienen. Als wenn ihnen die Zeit davon liefe! Was hatte das alles zu bedeuten und nach wem oder was suchten sie?

      Als er so vor sich hin- und herdachte und sich den Kopf darüber zerbrach, was das Ganze auf sich haben könnte, fiel ihm aus heiterem Himmel ein alter verstaubter Brief mit einem roten Siegel vor die Füße, der merkwürdigerweise an keinen Adressaten gerichtet war. Dennoch fühlte sich Mr. Prittel aufgefordert in diesen geheimnisvollen Umschlag zu schauen. Er brach das Siegel, klappte das gelbliche Pergamentpapier auf und begann eine goldene Schrift zu lesen:

       Robert Prittel,

       du hast diesen Brief geöffnet, nun lies genau, denn nach dem Lesen verschwinden alle geschriebenen Worte im Nichts! Sie suchen nach deinem Sohn, aber hab keine Angst sie können ihn nicht sehen, denn er trägt das Amulett! Rede nicht mit ihnen und tue so, als würdest du sie nicht sehen, dann bist du uninteressant. Wenn die Gestalten nicht finden was sie suchen, verschwinden sie wieder. Spätestens, wenn gleich die frühmorgendliche Dämmerung vorbei ist, sind sie weg. Sie kommen aber irgendwann wieder.

      Gerade hatte Mr. Prittel zu Ende gelesen, da sah er, wie sich die goldene Schrift vom Blatt erhob, in der Luft tänzelte und sich auflöste. Der Briefumschlag mit Siegel und das Papier zerfielen zu Staub und nichts erinnerte mehr daran, dass er eben noch in seinen Händen gelegen hatte. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Diese seltsamen Gestalten suchten nach seinem Sohn! Hatte er die letzten zehn Jahre nicht Ruhe gehabt und das Ganze, was damals in der Silvesternacht passiert war, längst vergessen? Waren die letzten Jahre nicht ohne jegliche Vorfälle gewesen und hatte er nicht genau deshalb völlig verdrängt, dass dieser Tag kommen könnte? Völlig durcheinander hastete er zur Tür seines Lädchens und hängte das Schild >>geschlossen<< auf. Anschließend sprang er in seinen Wagen und fuhr unverzüglich nach Hause, immer noch in der Hoffnung, alles wäre nur Einbildung. Als er in die Auffahrt von Nummer 7 einbog, bemerkte er, dass es tatsächlich Wirklichkeit war und die Vergangenheit ihn einholte. Mitten auf einem alten hölzernen Briefkasten hockte ein riesiger Rabe, der ihn mit seinen Augen fixierte. Abgelenkt von diesem bohrenden Blick rammte er den Gartenzaun. Eine fette Schramme, die von der Vordertür bis zum Heck reichte, zierte nunmehr seinen Wagen.

      >>So ein Mist!<<, schrie er. Wütend kurbelte er die Fensterscheibe runter und klatschte kräftig in die Hände.

      >>Hau schon endlich ab!<< Der Rabe aber blieb sitzen. Er schaute mit einem neugierigen Blick hinter Mr. Prittel her, der die Haustür öffnete.

      >>Puh, das wäre geschafft!<<, sprach er laut zu sich und schlug die Tür hinter sich zu. Im gleichen Moment hörte er auch schon die Stimme seiner Frau.

      >>Darling, wieso bist du schon da?<< Fest entschlossen sich nichts anmerken zu lassen betrat er das Wohnzimmer und rief seiner Frau entgegen.

      >>Ich bin ja heute auch schon viel früher weggegangen. Ich habe mir gedacht, ich nehme mir den Rest des Tages frei!<<

      Mr. Prittel versuchte sich wie immer zu geben und schaltete den Fernseher an.

      >> … und hier noch die aktuelle Meldung des Tages. In den gesamten Stadtbezirken von London haben sich elektrische Geräte wie Uhren, Ampeln, Radios etc. verselbstständigt. Das alles geschah in der frühmorgendlichen Dunkelheit und hielt bis zur Auflösung der Dämmerung an. Besonders die Tierwelt reagierte empfindlich. Erschreckte Einwohner berichteten der Notrufzentrale von wild gewordenen Haustieren wie umherflatternden Wellensittichen, fauchenden Katzen und bellenden Hunden. Erst seit circa einer Stunde ebbt die Nachrichtenflut ab. Wie Tierkundler bestätigen, reagieren Haustiere nur dann panisch, wenn sie direkte Gefahren wittern. Eine Erklärung dafür wäre akute Angst, zum Beispiel vor einem Erdbeben. Tiere nehmen bevorstehende Katastrophen schon Stunden vorher war. Diese Sorge kann jedoch allen Bürgern und Bürgerinnen genommen werden. Seismografen geben keinerlei Hinweise, die darauf hindeuten würden. Experten im Lande können sich nicht erklären warum und worauf die Tierwelt so extrem reagierte und wieso ausgerechnet elektrische Geräte betroffen waren und nun schalten wir weiter zu Morven Brinnings aktueller Wettervorhersage. Morven, gibt es einen Hinweis, ob wir heute noch mit einem kleinen Wetterumschwung in Richtung Gewitter zu rechnen haben? Vielleicht sind die Tiere ja einfach nur wetterfühlig!<<

      >>Schwer zu sagen Brent. Heute ist ein Tag an dem alles anders ist als sonst. In den Nachmittags- und Abendstunden sind eindeutig dichte Nebelschwaden aufgrund zu hoher Luftfeuchtigkeit zu sehen. Schon in den Morgenstunden wurden im gesamten Umkreis von London für circa zwei Stunden extrem hohe Werte gemeldet. Die sich heute Abend ankündigende Luftfeuchtigkeit wird aber wohl alles toppen. Man wird die Hand vor Augen nicht mehr sehen können. Wir raten deshalb den Einwohnern von London vor Beginn der Dämmerung in ihren Häusern und Wohnungen zu bleiben.<<

      Mr. Prittel stockte vor Schreck der Atem und saß da, als hätte er einen Bügel verschluckt. Radios spielen verrückt? Tiere reagieren, als ob jemand in die Wohnung eindringen würde? Sonderbare Gestalten? Ein Rabe sitzt auf dem Briefkasten und beobachtet ... Es wurde brenzlig.

      Mrs. Prittel betrat mit dem Tablett für das zweite Frühstück das Wohnzimmer. Es war schwierig sich so zu verstellen, dass sie nichts merken würde. Er musste sich also etwas überlegen, denn wenn diese Gestalten noch einmal wiederkommen würden, musste Larris in Sicherheit sein, aber wie sollte er das schaffen ohne das seine Frau irgendetwas davon spitz bekam?

      In Gedanken versunken starrte er auf den Kalender im Wohnzimmer und zwirbelte mit seinen Fingern in seinen dichten schwarzen Haaren. Doch was war das? Da war ein roter Kringel um eine Zahl herum gekritzelt.

      Sein eben noch im Haar zwirbelnder Zeigefinger wanderte gezielt zu seiner Brille, die er auf seiner Nase