Thomas Neukum

Marina


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       Als hätte diese große Wut mich vom Bösen geläutert,

       von Hoffnung entleert, öffnete ich mich

       angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne

       zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt.

      Albert Camus, „Der Fremde“

      Prolog

      Schon so lange hörte Marina das launische Meer mal gegen die schroffen Steilküsten schlagen, mal über den weichen Sand streicheln, dass sie nicht mehr wusste, ob sie es liebte oder hasste. Die Sonne reiste unermüdlich in den Westen, und alle Tage verzitterten still.

      Heute Nacht mischte sich die Portugiesin allerdings in ihrem ersparten Ausgehkleid unter englische, spanische und besonders deutsche Urlauber vor dem nervigen Hintergrund süß gluckernder Musik. Der Hotelangestellte, der am marmornen Säulenbogen wachte, ließ sie gewohnheitsmäßig in das unüberdachte Klubareal schlüpfen. Alleine stand Marina in der Ecke nahe der dunkel polierten Bar und den Toilettentüren.

      Sie war eins siebzig groß und sehr schlank, fast mager, während ihre Schenkel ein Maß an kräftigen Bewegungen verrieten. Vielleicht beneideten oberflächliche Frauen sie dafür, dass sich fast alles Körperfett in ihren Brüsten verdichtete, aber Marina fühlte sich deswegen beim Zubettgehen oder Aufstehen nicht sehr viel glücklicher. Ihr Haar wellte sich in glänzendem Maronenschwarz bis unter die Schulterblätter. Doch ihre Haut war für eine Südländerin hell und ähnelte der so vieler angebräunter Mitteleuropäerinnen. Zugleich schimmerten ihre Augen atlantikblau. Ihre gesamte Erscheinung strahlte sogar noch den Reiz jugendlicher Frische aus, und wer ihrem Blick begegnete, sah ein gesundes Geschöpf, was sie aber nicht war.

      Ein nicht unattraktiver Mittdreißiger, den Marina ohne ein einziges Wort als Deutschen erkannt hatte, erwiderte verstohlen ihren Flirt. Dabei besaß er genügend Aufmerksamkeit, um für seine modisch bebrillte Frau nach zwei Gläsern Vinho Verde noch einmal ganz leger vom Tisch aufzustehen und in den Barbereich zu schlendern. Sie hatte die Figur von vielen Urlauberinnen, die gerne mal ein Stündchen Tennis spielten und gerne aßen. Vergnügt scherzte sie mit einem dabeisitzenden schwulen Pärchen, das zufällig wie sie beide morgen abreisen würde.

      Während eine schwarz-weiß betuchte Bardame gemäß Bestellung säuberlich die Cocktailfrüchte zersäbelte, flüsterte der Feriengast unauffällig Marina zu: „You're very beautiful. Spanish?“

      Sie nippte an ihrem Wasserglas und antwortete in einem klargefärbten Deutsch, dem höchstens eine Art brandenburgischer Akzent beigemischt war: „Portugiesisch. Ich komme von hier aus der Algarve.“

      Etwas verwirrt fragte er: „Dann gehörst du zum Fachpersonal?“

      „Nein“, lehnte sie sich mit keinem anderen Schmuck als einem Halskettchen gegen die Wand, „ich mag einfach nur kosmopolitische Stellungen.“ Das alles war für sie selber Gehabe, und als sie kurz den Blick der mixenden Hotelangestellten spürte, wuchs ihre insgeheime Unruhe noch mehr. Doch von dem Mann erhielt sie ein williges Lächeln.

      Er spähte über die Schulter, bevor er aus der Hosentasche für das gelbsilberne Fruchtgesöff zahlte, das seine Hand wie einen schnapsgeäderten Pokal anhob. „Der hier ist für meine Frau. Ich werde sie selig ausgeknockt ins Bett schleppen“, drehte er sich an Marina vorbei, „und alleine zurückkommen. Dir gebe ich nachher etwas wirklich Nettes aus.“

      „Das darfst du dann überspringen. Jede Viertelstunde ist kostbar“, wartete sie.

      Als er das bombige Getränk durch die nicht sehr eng gesäte Menge zu seiner plaudernden Frau brachte, honorierte das schwule Pärchen dies schmunzelnd mit Applaus. „Wie charmant er sich doch zeigt!“, spöttelten die beiden.

      „Ja, nicht?“, nahm die bereits Beschwipste den halben Liter mit geschmackvoll beringten Händen entgegen. „Wo findet man das noch, dass der Ehemann sein Schätzchen abfüllen will?“

      Er sah sie die Lippen um den hineingesteckten dicken Trinkhalm schließen, stellte sich erst mal seinen Stuhl schräger zurecht und erwiderte beim Hinsetzen: „Das macht noch den härtesten Büronacken weich. Ich will nur, dass du dich mal restlos entspannst.“

      Zwischenzeitlich hatte es den Anschein, als müsste sie aufgeben. Doch ein, zwei kleine rüchige Rülpser brachten ihr Erleichterung, sie verzichtete auf den Trinkhalm und ließ es sämig über den Glasrand in sich quellen.

      Der Ehepartner blinzelte Marina zu. Das gezierte Rumstehen quälte sie mit Spannungsgefühlen, die sie umso inniger abreagieren wollte. Himmelwärts sah sie die teilweise erleuchteten Zimmerfenster des Hotels, an das diese Mauern für Feiern rangebaut waren. Der kurzärmlige Türsteher am allerdings offenen Säulenbogen, ein jüngerer muskulöser und bestenfalls mittelgroßer Portugiese mit der Hautbräune von Zimtkaffee, wandte schon seit den Abendschatten seinen kurzhaarig getrimmten Kopf immer wieder mal zu Marina.

      Nachdem die deutsche Urlauberin ausgetrunken hatte, linste aber auch sie in deren Richtung und stemmte sich auf der Tischplatte nach oben: „Mannomann, mir staut sich 'ne ganz schöne Ladung hinter der Bauchbinde. We-welches ist noch die Damentoilette?“

      „Komm, Schätzchen, du schwankst alleine im Stehen. Ich geh besser mit dir zusammen gleich aufs Zimmer“, erhob er sich und bot ihr seinen Arm an. Zögernd schaute er jedoch auf die Schwulen mit ihren dreiviertel leeren Gläsern: „Wollt ihr denn noch hier sitzen bleiben?“

      „Warum nicht? Weißt du, wir werden mit dieser Kurzweil deiner Herzerkorenen sicher keinen Kummer bereiten“, schienen sie ihn zu ermahnen und gleichzeitig gewähren zu lassen. Trotzdem geriet er irgendwie in Verlegenheit.

      „Nee, natürlich nicht“, dusselte die Sturzbetrunkene, „wir seh'n uns morgen.“

      Ihr falscher Kavalier stützte sie und peilte mit ihr eine Innentür an, die direkt ins Hotel führte. Bevor sie darin verschwanden, sah Marina noch die Gelegenheit, zeichengebend mit dem Finger auf sich und nach draußen zu weisen. Er schickte ihr ein Nicken zurück.

      Dann scharwenzelte sie zum Säulenbogen.

      „Hier“, hielt ihr der wachestehende Südländer hin, „nimm wenigstens wieder den Schlüssel fürs Gerätehäuschen. Ich will nicht sehen, wie du's gegen 'ne Wand oder Pinie gelehnt treiben musst.“

      „Na, gib her. Ich lege ihn danach wieder auf das Gesims. Und danke, Rolando“, steckte sie das Schlüsselchen in ihr Kleid. Dann trat sie in ihren Schnürsandaletten auf den asphaltierten dunklen Vorplatz hinaus.

      Erfrischend spürte sie den salz- und gräserduftenden Wind der abkühlenden Erde zu ihr lispeln. Gleichwohl durchkribbelte sie ein Unwohlsein so stark, dass sie abwechselnd ihre Hände ballte und spreizte. Endlich kam aus dem glimmenden Haupteingang die leicht hemdflatternde Silhouette des Deutschen zu ihr gelaufen.

      „Wo hast du deine Handtasche?“

      „Wo du hingeschielt?“, entgegnete sie. „Ich hab keine.“

      „Eine Frau ohne Handtasche? Du musst wirklich was Besonderes sein.“

      „Dann lass es mich auch fühlen. Komm“, gabelte sie seine Finger in ihre, „hier rüber.“

      Sie schlenzten mehrere Meter weiter hinten um eine Ecke herum. Vor einer glattgezimmerten Brettertür stocherte Marina nach dem Schlüsselloch.

      „Und du gehörst sicher nicht zu den Leuten hier?“

      „Ich bin mir sicher, dass ich nicht zum Hotel gehöre. Der hier ist geborgt“, drehte sie den Schlüssel um.

      In dem fensterlosen Häuschen griff sie an der Wand entlang nach dem Kippschalter für das Licht, das weiß in ihre Pupillen blitzte, und verschloss die schnurrende Tür wieder hinter ihnen. Zwischen Gerätschaften wie Spitzhacke, Eimer und zusammengerollten Maschenzäunen unter angeschraubten Regalen stand vor ihnen ein pistaziengrüner Rasentraktor.

      „Noch hat der Arbeitsalltag nicht wieder begonnen“, lächelte der Urlauber verwegen.

      „Los, küss mich!“

      Er