Stefan Zweig

Magellan


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Selbstbeschränkung geworden, daß ein Alexander längst bis an die Grenzen Afghanistans und tief hinab bis nach Indien vorgedrungen war, verloren sind die trefflichen Karten, die Weltbilder der Römer, verfallen ihre Heerstraßen, ihre Meilensteine, die bis tief nach Britannien und Bithynien reichten, vernichtet ihr vorbildlicher politischer und geographischer Nachrichtendienst; verlernt ist die Fähigkeit des Reisens, erstorben die Lust des Entdeckens, armselig geworden die Kunst der Schiffahrt; ohne jedes weite, jedes kühne Ziel, ohne richtigen Kompaß und klare Karten schleichen in ängstlicher Küstenfahrt kleine Fahrzeuge von Hafen zu Hafen, immer in Sorgnis vor Stürmen oder den ebenso gefährlichen Piraten. Bei einem solchen Tiefstand der Kosmographie und mit solch kläglichen Schiffen war es noch zu früh, die Ozeane der Erde zu bezwingen und überseeische Reiche zu erobern. Ein Menschenalter der Aufopferung mußte erst nachholen, was Jahrhunderte der Gleichgültigkeit versäumt hatten. Und Enrique – dies seine Größe – war entschlossen, sein Leben zu opfern für die zukünftige Tat.

      Nur ein paar verfallene Mauern stehen noch von dem einstigen Schlosse von Kap Sagres, das Prinz Enrique erbaut und das ein höchst undankbarer Erbe seiner Wissenschaft, Francis Drake, geplündert und zerstört hat. Durch die Schatten und Schleier der Legende ist es heute kaum mehr möglich, in den Einzelheiten zu erkennen, in welcher Weise Prinz Heinrich den Welteroberungsplänen Portugals vorgearbeitet hat. Nach den (vielleicht romantischen ) Berichten seiner heimischen Chronisten ließ er sich sämtliche Bücher und Mappen aus allen Weltteilen kommen, berief arabische und jüdische Gelehrte und befahl ihnen, bessere Instrumente und Tabulaturen anzufertigen. Jeder Schiffer, jeder Kapitän, der von einer Reise kam, wurde ausgefragt, alle diese Mitteilungen und Kenntnisse wurden sorgsam in einem Geheimarchiv gesammelt und gleichzeitig eine Reihe von Expeditionen ausgerüstet. Unermüdlich wird die Kunst des Schiffbaus gefördert; in wenigen Jahren erwachsen aus den ursprünglichen »barcas«, diesen kleinen offenen Fischerbooten mit achtzehn Mann Besatzung, wirkliche »naos«, breite Kutter von achtzig und hundert Tonnen, die auch bei schwierigem Wetter im offenen Meere fahren können. Dieser neue, seetüchtige Typus des Schiffs bedingte wiederum einen neuen Typus des Seefahrers. Dem Steuermann gesellt sich ein »Meister der Astrologie« bei, der nautische Fachmann, der Portolane zu lesen, die Deklination zu bestimmen und die Meridiane einzuzeichnen weiß; Theoretik und Praktik greifen schöpferisch ineinander, und allmählich wird auf diesen Expeditionen aus bloßen Fischern und Schiffern ein Geschlecht von Seefahrern und Entdeckern systematisch herangebildet, dessen Taten der Zukunft vorbehalten sind. Wie Philipp von Mazedonien seinem Sohn Alexander die unwiderstehliche Phalanx zur Eroberung der Welt, so hinterläßt Enrique seinem Portugal die besten, die modernsten Schiffe seiner Zeit und die trefflichsten Seeleute zur Eroberung des Ozeans.

      Aber es gehört zum tragischen Schicksal der Vorläufer, daß sie an der Schwelle sterben, ohne selbst das gelobte Land zu schauen. Enrique hat keine einzige der großen Entdeckungen erlebt, die sein Vaterland in der Geschichte der Weltentdeckung unsterblich machten; in seinem Todesjahr (1460) ist im äußern, im geographischen Raum kaum etwas Wahrnehmbares erreicht. Die vielgerühmte Entdeckung der Azoren und Madeiras war in Wirklichkeit nur eine Wiederentdeckung (schon 1351 verzeichnet sie der Portolano Laurentino). An der Westküste sind seine Schiffe nicht einmal bis zum Äquator hinabgelangt, ein kleiner, nicht sehr ruhmreicher Handel hat begonnen mit weißem und hauptsächlich mit »schwarzem Elfenbein«: das heißt, man raubt an der Senegalküste massenhaft Neger, um sie auf dem Sklavenmarkt in Lissabon zu verkaufen, und findet etwas Goldstaub – dieser kleine unzulängliche Anfang ist alles, was Enrique von seinem geträumten Werke gesehen. In Wahrheit ist der entscheidende Erfolg aber schon errungen. Denn nicht in der erreichten Distanz liegt damals der erste Triumph der portugiesischen Seefahrt, sondern in der moralischen Sphäre: in der Steigerung der Unternehmungslust und in der Vernichtung einer gefährlichen Legende. Jahrhunderte – und jahrhundertelang hatten die Seeleute gemunkelt, hinter dem Kap Non – zu deutsch: dem Kap Nichtweiter – sei Seefahrt unmöglich. Dahinter beginne sogleich »die grüne See der Dunkelheit«, und wehe dem Schiff, das sich in diese tödlichen Zonen wage. Von der Glut der Sonne siede und koche in jenen Wendekreisen das Meer. Sofort gerieten die Planken und Segel in Brand, jeder Christenmensch, der versuche, das »Land Satans« zu betreten, das wüst sei wie eine Kraterlandschaft, würde sofort zum Neger. So unüberwindlich war durch solche Fabeln diese Angst vor einer Südfahrt geworden, daß der Papst, um Enrique nur überhaupt Seeleute für seine ersten Expeditionen zu verschaffen, jedem Teilnehmer vollen Sündenablaß zusichern mußte; dann erst gelang es, ein paar Verwegene für diese ersten Entdeckungsfahrten anzuwerben. Welcher Jubel darum, als Gil Eannes 1434 dies angeblich unüberwindliche Kap Non umsteuert und von Guinea melden kann, daß der hochberühmte Ptolemäus als arger Fasler entlarvt sei, »denn es geht hier so leicht zu segeln wie bei uns zu Hause und das Land ist äußerst reich und schön«. Damit ist der tote Punkt überwunden. Nun braucht Portugal nach Mannschaft nicht mehr zu fahnden, aus allen Ländern melden sich Abenteurer und Abenteuerlustige. Jede neue geglückte Fahrt macht die Seefahrer verwegener, plötzlich ist eine Generation von jungen Menschen zur Stelle, denen das Abenteuer mehr gilt als das Leben. »Navigare necesse est, vivere non est necesse« – der alte Seemannsspruch hat wieder Gewalt bekommen über die Seelen. Und wo immer eine neue Generation geschlossen und entschlossen am Werke ist, verwandelt sich die Welt.

      Nur den Augenblick des letzten Atemholens vor dem großen Sprung bedeutet darum der Tod Enriques. Aber kaum hat der energische König João II. den Thron bestiegen, so setzt ein Anschwung ein, der alle Erwartungen übertrifft. Was bisher ärmlicher Schneckengang gewesen, wird mit einmal Sturmlauf und Löwensprung. Während man es gestern noch als grandiose Leistung verzeichnete, wenn innerhalb von zwölf Jahren die wenigen Meilen bis Kap Bojador ersegelt wurden und man nach abermals zwölf Jahren langsamen Vordringens glücklich Kap Verde erreicht hatte, bedeutet nun ein Vorstoß von hundert, von fünfhundert Meilen nichts Ungewöhnliches mehr. Vielleicht nur unsere Generation, welche die Eroberung der Luft miterlebt, wir, die wir ebenso im Anfang schon gejubelt, wenn nur drei, nur fünf, nur zehn Kilometer vom Champ de Mars ein Aeroplan in der Luft sich halten konnte, und die ein Jahrzehnt später schon Kontinente und Ozeane überflogen sahen, nur wir vielleicht können den glühenden Anteil, den erregten Jubel ganz begreifen, mit dem ganz Europa den plötzlichen Vorstoß Portugals ins Unbekannte begleitete. 1471 ist der Äquator erreicht, 1484 landet Diego Cam bereits an der Mündung des Kongo, und endlich 1486 erfüllt sich der prophetische Traum Enriques: der portugiesische Seefahrer Bartolomeu Diaz erreicht die Südspitze Afrikas, das Kap der Guten Hoffnung, das er freilich um der Stürme willen, denen er dort begegnet, zunächst noch Cabo tormentoso, das stürmische Vorgebirge, tauft. Aber wenn ihm auch das Wetter die Segel zerfetzt und den Mast zerspellt, der kühne Konquistador steuert entschlossen weiter. Schon ist er an die Ostküste Afrikas gelangt, und von hier könnten ihn mohammedanische Piloten leichthin nach Indien weiterbringen – da meutert die Mannschaft: genug sei für diesmal erreicht. Verwundeten Herzens muß Bartolomeu Diaz zurück, durch fremde Schuld den Ruhm verlierend, als erster Europäer den Seeweg nach Indien bezwungen zu haben, und ein anderer Portugiese, Vasco da Gama, wird um dieser Heldentat willen in Camoens' unsterblichem Gedicht gefeiert werden; wie immer bleibt der Beginner, der tragische Initiator, vergessen über dem glücklicheren Vollender. Immerhin: die entscheidende Tat ist getan. Zum erstenmal ist die geographische Gestalt Afrikas endgültig bestimmt, zum erstenmal gegen Ptolemäus bewiesen und erwiesen, daß der freie Seeweg nach Indien möglich sei. Den Lebenstraum Enriques haben seine Schüler und Erben ein Lebensalter nach ihrem Meister erfüllt.

      Mit Staunen und Neid wendet die Welt jetzt ihren Blick diesem kleinen unbeachteten Seevolk im letzten Winkel Europas zu. Während sie, die Großmächte Frankreich, Deutschland, Italien, in unsinnigen Kriegen einander zerfleischten, hat Portugal, dieses Aschenbrödel Europas, seinen Lebensraum um das Tausendfache und Zehntausendfache erweitert; keine Anstrengung kann seinen unermeßlichen Vorsprung mehr einholen. Über Nacht ist Portugal die erste Seenation der Welt geworden, es hat sich durch seine Leistung nicht nur neue Provinzen, sondern ganze Welten gesichert. Ein Jahrzehnt noch und diese kleinste unter Europas Nationen wird den Anspruch erheben, mehr Weltraum zu besitzen und zu verwalten als das Römische Reich selbst zur Zeit seiner größten Ausbreitung.

      Selbstverständlich muß ein derart übersteigerter imperialistischer Anspruch bei dem Versuch seiner Durchsetzung sehr bald die Kräfte Portugals erschöpfen. Jedes Kind könnte errechnen, daß ein so winziges Land,