Jay Baldwyn

Die Magie der Vergangenheit


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lange und ich sah auch den Wirt hinter der Theke stehen und der Pianist griff merkwürdig unbeteiligt in die Tasten. Jetzt hörte ich auch Pferde vor dem Fenster wiehern und das Gelächter von losen Frauenzimmern. Waren in der Ferne nicht auch Schüsse zu hören? Als der Qualm von Zigarren und Tabakpfeifen die Sicht erschwerte, rieb ich mir die Augen. Als ich diese wieder öffnete, war der Spuk vorbei. Im Saloon war es totenstill, und draußen hörte man nur den Wind heulen.

      »Na, mein Mädchen. Hattest du eine Vision?«, fragte Vati, als wäre es das Normalste der Welt.

      »Ich … ich weiß nicht. Mir war auf einmal, als hörte ich Stimmen und die typischen Geräusche eines Saloons«, stotterte ich. »Und dann war da noch ein Klavier, das sich irgendwie mechanisch anhörte, obwohl ein Pianist davor saß.«

      »Um jene Zeit gab es schon automatische Klaviere, die aber im Unterschied zum elektrischen Klavier dem Benutzer die Möglichkeit gaben, die Wiedergabe der Musik zu beeinflussen. Kunstspielklaviere wurden pneumatisch betrieben. Die Musik wurde durch gelochte Papierbänder, die sogenannte „Klavierrolle“ oder „Notenrolle“, als Trägermedium übertragen. Diese Notenbänder sind auswechselbar und waren im Musikalienhandel zu kaufen. Der Pianolist war bemüht, auf dem Pianola die Musik einer von Musikeditoren gezeichneten Notenrolle lebendig, dem Spiel eines Pianisten nahekommend, wiederzugeben.«

      »Aha«, sagte ich und wunderte mich, was mein Vater alles wusste.

      »Mach dir keine Gedanken, Christinchen.« Christinchen nannte er mich für gewöhnlich, wenn er es besonders gut mit mir meinte. »Du bist eben ein besonders sensibles Kind und entwickelst außergewöhnliche Fantasien. Da kann es schon mal vorkommen, dass man in solch einer Umgebung meint, die Vergangenheit sei zu neuem Leben erwacht. Als wäre man dabei gewesen.«

      »Ich finde es nicht gut, wenn du dem Kind Flausen in den Kopf setzt«, sagte meine Mutter. »Nicht dass ihre Mitschülerinnen sie noch für überspannt halten.«

      »Dazu müsste sie ja erst einmal erzählen, was sie gesehen hat. Aber meine Tochter ist klug genug, ihre wunderbare Begabung für sich zu behalten, nicht wahr?«

      Ich nickte eifrig. Dabei verstand ich nicht so recht, was da gerade vor sich ging. Mein Vater lobte mich für etwas, das ich nicht beeinflussen konnte, gab mir aber gleichzeitig den Rat, nicht darüber zu sprechen. Musste man sich denn für diese Art von Begabung schämen? Wurde man verspottet, falls man darüber sprach? In dem Falle wollte ich es wirklich für mich behalten. Es gab genügend Mädchen in meiner Klasse, die neidisch auf mich waren.

      »Ich schlage vor, wir gehen langsam zum Wagen zurück«, sagte meine Mutter. »Ich würde gerne etwas trinken. Geschäfte oder Restaurants gibt es hier ja nicht. Und wenn ich an die fünf Kilometer bis zum Highway 395 auf der unasphaltierten Schotterstraße denke, wird mir ganz anders.«

      »Das überstehst du schon, Schatz. So gut, wie du hinten gepolstert bist …«

      »Willst du damit sagen, dass mein Hintern zu dick ist? Na, vielen Dank.«

      »Nein, absolut nicht. Ich liebe jedes Pfund an dir. Aber wenn die Stoßdämpfer der alten Karre gelegentlich mal zu wünschen übrig lassen, ist das kein Beinbruch. Das hält dein süßer Hintern schon aus.«

      »Alte Karre, das ist das Stichwort. Nicht dass wir noch unterwegs liegen bleiben. Womöglich noch in der Nacht.«

      »Dabei ist der Sternenhimmel in dieser Gegend besonders atemberaubend ...«

      »Ach, manchmal habe ich das Gefühl, du nimmst mich nicht ernst«, maulte meine Mutter.

      »Doch, Schatz. Nichts liegt mir so am Herzen wie dein Wohl. Und das unserer medial begabten Tochter, natürlich.«

      »Das wird sich erst herausstellen. Vielleicht war es nur eine einmalige … Störung. Jedenfalls möchte ich jetzt zurückfahren.«

      »Ooch, ich dachte, wir machen noch den ghost walk am späten Abend mit«, beschwerte ich mich. »Der Touristenführer soll immer einige Geistergeschichten parat haben.«

      »Die so hanebüchen sind, dass er sie wahrscheinlich erfunden hat.«

      »Deine Mutter meint, es sei wohl ein Reklametrick, um den Mythos am Leben zu erhalten. Aber damit du beruhigt bist, kann ich dir einige Kostproben geben. Als ein Ranger einmal das Haus einer gewissen Annie Mendocini betrat, nahm er den Geruch von Knoblauch und den Dampf von kochendem Wasser wahr. Nur lebte und kochte dort seit Jahrzehnten niemand mehr. Im Spence-Gregory-Haus soll Berichten zufolge ein Geist Hand- und Fußabdrücke an der Decke hinterlassen. Und im Haus von James Cain, das als Parkhauptquartier immer noch in gutem Zustand ist, würde keiner der Ranger jemals übernachten, weil es der am meisten frequentierte Ort sein soll, was paranormale Phänomene angeht. Schüler, die sich auf einer Klassenfahrt befanden, haben angeblich Dutzende von Fotos von dem Haus gemacht. Aber auf keinem wäre anschließend etwas zu sehen gewesen.«

      »Jetzt reicht’s aber, Christian«, sagte meine Mutter böse. »Du verdrehst dem Kind noch ganz den Kopf.«

      »Blödsinn. Christine ist alt genug, sich mit derlei Dingen auseinander zu setzen. Die schönste Geschichte kommt ohnehin noch.«

      »Ja, finde ich auch. Bitte erzähl doch weiter«, bat ich.

      »Also, Mr. Cain hatte einst ein chinesisches Hausmädchen, auf das seine Frau so eifersüchtig war, dass sie es in einer Winternacht aus dem Haus jagte. Daraufhin soll man nie wieder etwas von dem Mädchen gesehen oder gehört haben. Als das Haus Jahrzehnte später von einem Parkranger bewohnt wurde, bekam dieser Besuch von Freunden mit ihren Kindern. Diese schliefen im ehemaligen Zimmer der Haushälterin. Obwohl keines die Geschichte des Hauses kannte, fragten sie am darauffolgenden Morgen den Ranger, wer die die nette Chinesin sei, die ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hat.«

      »Puh, ich bekomme eine Gänsehaut. Jetzt weiß ich wenigstens, worüber du dich mit dem unsympathischen Kerl unterhalten hast, während seine Frau wie ein Wasserfall auf mich einredete.«

      »Ach, Moni, du weißt doch, dass das dazugehört. An solchen Orten trifft man immer Leute, die meinen, noch einen draufsetzen zu müssen. Ich finde das ganz amüsant und denke mir meinen Teil.«

      »Und wenn Christine heute Nacht Albträume hat, ist dir das wohl egal?«

      »Mama, ich bin kein Baby mehr. Mit mir kann man wie mit einem Erwachsenen reden. Und solche Geschichten regen mich nicht auf. Da gibt es Filme, die ganz anders nachwirken.«

      Ich fand die Geschichten meines Vaters äußerst interessant. Zeigten sie mir doch, dass auch andere Menschen etwas wahrnahmen, was eigentlich nicht mehr da sein sollte. Demnach war ich nicht verrückt, was mich einigermaßen beruhigte.

      Kapitel 2

      Im darauf folgenden Jahr durfte ich wieder mitreisen. Diesmal ging es nach Peru. Meine Eltern wollten die alte Inkastadt Maccu Picchu besuchen. Der Flug von Frankfurt dauerte über fünfzehn Stunden – wiederum eine harte Herausforderung für mich –, und es gab noch einen zweistündigen Zwischenstopp in Paris. Wir flogen bis Lima und anschließend noch einmal fünfundsiebzig Minuten bis Cusco. Wenn wir gleich von Frankfurt nach Cusco geflogen wären, hätte die Reisezeit bis zu siebenundzwanzig Stunden gedauert, inklusive bis zu drei Zwischenstopps. Kaum zumutbar. Maccu Picchu musste vorerst warten, da es von Cusco dorthin noch einmal drei Stunden mit dem Zug waren. Der Flughafenshuttle brachte uns ins Yawar Inka Hotel in Cusco, einer Mittelklasseunterkunft mit Terrasse und Frühstücksbuffet. Von dort aus konnten wir relativ bequem die Sehenswürdigkeiten erkunden. Ich war todmüde ins Bett gefallen und hatte bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen. Beim Frühstück muss ich derart zerknirscht ausgesehen haben, dass meine Mutter mich darauf ansprach.

      »Du hast dich die ganze Nacht unruhig hin und hergeworfen. Hattest du schlechte Träume?«

      »Das kann man wohl sagen«, druckste ich verlegen herum. »Gleich mehrere. Zuerst träumte mir von einem prächtig geschmückten Inka, der von einer Reise ein heiliges Objekt, das wie ein Vogel aussah und in einem aus Stroh geflochten Kasten transportiert