Karl Olsberg

Das Dorf: Der Golem (Band 5)


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      „Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Ich hab eine Idee: Wie wär’s, wenn ich Golina frage? Sie ist doch eng mit Margi befreundet. Vielleicht weiß sie, was los ist.“

      „Meinst du? Woher sollte sie es denn wissen?“

      „Sie ist immerhin ein Mädchen und versteht besser als wir, wie andere Mädchen denken.“

      „Na gut, wenn du meinst, dann frag sie.“

      Endlich haben sie drei Hühnereier beisammen und laufen rasch zurück zum Haus von Golinas Eltern Bendo und Agia, das gegenüber dem von Primos Vater liegt. Golina und Margi rühren Getreide, Zucker, Milch und die Eier zu einem Teig zusammen, und kurz darauf steht eine Torte auf dem Tisch.

      „Hm, die sieht aber lecker aus!“, sagt Ruuna, als sie kurz darauf mit Willert das Haus betritt. Primos Vater Porgo, der Schmied, und Kolles Eltern Nimrod, der Bibliothekar, und Delfina sind ebenfalls schon da, so dass es in dem Bauernhaus ziemlich eng ist.

      „Hier, ich habe euch ein Geschenk mitgebracht!“ Die Hexe legt ein Blatt Papier und einige Pilze auf den Tisch. „Das ist mein supergeheimes Spezialrezept für Torte, und die nötigen Spezialzutaten. Ihr müsst nur noch Eier, Zucker, Milch und Mehl zugeben.“

      „Äh, danke!“, sagt Golina, die sich offensichtlich noch gut daran erinnern kann, welche Wirkung Ruunas Torte bei ihrem letzten Besuch im Wald auf Primo hatte.

      Der Kuchen schmeckt köstlich, und während sich die Freunde fröhlich über ihre überstandenen Abenteuer unterhalten, vergisst Primo, wie langweilig ihm sein Leben vorhin noch erschien.

      „Wisst ihr noch, wie Magolus das Enderauge auf den Kopf gefallen ist?“, fragt Willert. Alle lachen.

      „Und wie Kolle Birta einen Kinnhaken verpasst hat, so dass sie aufs Kirchendach geflogen ist?“, ruft Ruuna. Das Gelächter ist diesmal noch lauter, nur Kolle und Margi scheinen das nicht ganz so lustig zu finden. Da fällt Primo wieder ein, was er vorhin mit Kolle besprochen hat.

      „Warum bist du eigentlich in letzter Zeit immer so traurig, Margi?“, platzt es aus ihm heraus.

      Schlagartig wird es still im Raum. Margi wird rot, während Kolle aussieht, als sei er kurz davor, sich in einen Nachtwandler zu verwandeln.

      „Entschuldigung“, versucht Primo die Lage zu retten. „Eigentlich wollte ich das ja heimlich Golina fragen, weil sie schließlich ein Mädchen ist und genauso seltsam wie Margi, und deshalb dachten Kolle und ich, sie versteht vielleicht ...“

      „Soso, du findest mich also seltsam!“, sagt Golina. Ihrem Blick nach zu urteilen ist sie nicht besonders erfreut darüber.

      „Ja ... das heißt nein, ich meine ...“, stammelt Primo.

      „Du also auch?“, fragt Ruuna Margi.

      Alle sehen überrascht die Hexe an.

      „Was meinst du?“, fragt Willert erschrocken. „Bist du etwa auch manchmal traurig?“

      „Natürlich bin ich das!“, sagt Ruuna unbekümmert. „Es ist doch ganz normal, dass man hin und wieder Heimweh hat!“

      „Heimweh?“, fragt Kolle und dreht sich zu seiner Freundin um. „Stimmt das? Du hast Heimweh?“

      Margi nickt. „Ja, manchmal.“

      „Gefällt es dir denn nicht hier bei uns?“

      „Doch, sehr sogar. Aber ... es ist hier immer so feucht, und manchmal auch recht kühl. Mir fehlt die Wüste. Es ist der schönste Ort der Welt!“

      Das erscheint Primo, der sich noch gut an die Strapazen mehrerer Wüstendurchquerungen erinnert, etwas übertrieben, doch er ist klug genug, ihr nicht zu widersprechen.

      „Und du, Ruuna?“, fragt Willert. „Sehnst du dich auch nach der Wüste?“

      „Nö, Wüste find ich blöd“, erwidert Ruuna, die genau wie Margi aus dem Wüstendorf stammt. „Ich hab manchmal Heimweh nach dem Sumpf. Da roch es immer so gut, und es wuchsen dort die herrlichsten Giftpilze!“

      „Wie wär’s, wenn ihr einen Ausflug in eure alte Heimat unternehmt?“, schlägt Kolles Vater Nimrod vor.

      Ruunas Augen leuchten. „Au ja! Da könnte ich meine Vorräte an Zutaten für Zaubertränke auffrischen: Spinnenaugen, Sumpfpilze ... Hättest du Lust, Schatzi?“

      Willert nickt. „Natürlich. Wenn es dir Freude macht.“

      „Was meinst du, Kolle?“, fragt Margi. „Wollen wir die beiden ein Stück begleiten? Wir könnten ein oder zwei Nächte in meinem alten Haus wohnen, wenn Wumpus, unser Priester, nichts dagegen hat.“

      Kolle lächelt. „Natürlich! Ich bin ja so froh, dass es nur Heimweh war, das dich so traurig gemacht hat! Ich dachte schon ...“

      „Was dachtest du?“

      „Dass du mich vielleicht nicht mehr magst.“

      „Typisch Jungs!“, sagt Margi und gibt Kolle einen Kuss. „Glaubst du mir jetzt, dass ich dich immer noch mag?“

      „Äh, ja“, sagt Kolle und läuft rot an.

      „Was ist mit dir?“, fragt Primo Golina.

      „Willst du etwa wissen, ob ich dich auch noch mag?“

      „Äh, nein, aber ...“

      „Aha! Du findest mich also seltsam, und es ist dir egal, ob ich dich noch mag!“

      „Nein, nein, natürlich nicht! Ich dachte bloß ... ich wollte wissen, ob du ... ob wir Ruuna, Willert, Kolle und Margi begleiten wollen.“

      „Was soll ich denn im Sumpf und in der Wüste?“

      „Ich dachte, du hättest vielleicht auch Heimweh ... ich meine natürlich, Fernweh ...“

      „Fernweh? Was soll das denn sein? Du redest manchmal wirklich Unsinn!“

      Damit ist die Diskussion beendet. Gleich am nächsten Tag machen sich Kolle, Margi, Willert und Ruuna gemeinsam auf den Weg. Primo, Golina und Porgo begleiten sie bis zum Ostfluss und wünschen ihnen eine gute Reise. Als Primo die vier im Wald am anderen Flussufer verschwinden sieht, fühlt er eine dumpfe Traurigkeit in sich, eine tiefe Sehnsucht nach fernen Ländern und Abenteuern. Seufzend dreht er sich um und folgt seiner Freundin und seinem Vater zurück in das kleine Dorf am Rand der Schlucht, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat und das er wahrscheinlich nie wieder verlassen wird.

      2. Hoher Besuch

      Während der nächsten zwei Tage starrt Primo immer wieder sehnsuchtsvoll aus dem Fenster. Im Dorf ist es auch so schon langweilig, aber ohne Kolle ist es noch schlimmer. Wenn Golina fragt, was mit ihm los ist, seufzt er und behauptet, es sei nichts. Sie scheint ihm zu glauben.

      Den dritten Tag über treibt sich Primo auf der Wiese östlich des Dorfs herum. Golina hat er erzählt, dass er Jarga dabei helfen will, die Schafe zu scheren. Die Schäferin macht ihm allerdings klar, dass sie auf seine Hilfe keinen Wert legt - schon gar nicht, wenn er dabei die ganze Zeit hinter ihren Schafen herläuft und immerzu „Bleib doch stehen, du dummes Vieh!“ brüllt.

      In Wahrheit gibt es für Primo kaum etwas Langweiligeres, als Schafe zu scheren. Er sehnt sich nach seinem Freund und ist hier auf der Ostwiese, um nach ihm Ausschau zu halten. Doch als die Sonne untergeht, ist von Kolle, Margi, Ruuna und Willert nichts zu sehen. Als die ersten Unnghs der Nachtwandler erklingen, kehrt er missmutig zurück ins Dorf.

      Am vierten Tag regnet es, so dass die Monster auch tagsüber die Gegend unsicher machen und die Dorfbewohner in ihren Häusern bleiben. Als seine Freunde abends immer noch nicht zurückgekehrt sind, macht sich Primo ernsthafte Sorgen.

      „Ach was, denen wird schon nichts passiert sein“, sagt Golina unbekümmert. „Immerhin haben sie Kolle dabei, der unheimlich stark ist, und Ruuna, die zaubern kann, und Margi, die so viel weiß. Nicht zu vergessen Willert, der geschickt ist und sich mit