verantworten kann.«
»Überhaupt nicht«, sagte Bruckner. »Er liegt weiterhin im Koma. Ein Spezialist aus Bremen hat sogar attestiert, dass Strass praktisch Hirntod sei.«
»Das ist immer bitter«, meinte ich. »Was haben die Opfer denn sonst noch, wenn nicht die Bestrafung des Täters.«
»Bestrafung!«, erwiderte Bruckner. »Ich denke, Sie können aus Ihrer Praxis Dutzende Fälle aufzählen, bei denen der Täter davongekommen ist oder sich nie verantworten musste, sich der Justiz auf die eine oder die andere Weise entzogen hat.«
Ich nickte. »Mag sein. Strass hat sich der Justiz entzogen, das kommt schon hin, auch wenn es nicht ganz freiwillig war.«
»Ich hoffe Sie fühlen sich nicht mehr schuldig?«, sagte Bruckner überrascht.
»Mich schuldig fühlen, weil ich ihm sein eigenes Zeugs gespritzt habe«, sagte ich abwehrend. »Sie haben das nicht verstanden. Ich habe mich nie schuldig gefühlt. Ich bedauere seinen heutigen Zustand, das ist nicht schön und hätte auch nicht sein müssen, aber schuldig fühle ich mich ganz sicher nicht. Es war Notwehr und fertig.«
Bruckner nickte. »Ich dachte nur, aber auch egal. Sie hätten sich trotzdem mal melden können.«
»Stimmt, entschuldigen Sie!«
»Schon gut, entschuldigen brauchen Sie sich nicht«, meinte Bruckner. »Ich hätte mich vielleicht auch von der Sache ferngehalten, Sie haben ja schließlich einen ganz anderen Job.«
»Und Sie?«, fragte ich. »Was ist ihr neuster Job, was machen Sie hier in der Gegend? Gab es einen Mord? Es würde mich interessieren, wir wollen in Nienstedten schließlich einen guten Kunden ansiedeln.«
»Es interessiert Sie?«, fragte Bruckner nachdenklich.
»Nein, ich wollte nur höflich sein«, antwortete ich.
Bruckner zögerte. »Ich bin auf dem Weg zu einer Toten.«
»Also doch ein Mord?«, stellte ich fest.
»Wenn das so einfach wäre«, sagte Bruckner.
»Jetzt wollen Sie mich neugierig machen. Sie sind gar nicht an einem Fall dran.«
»Doch, doch!«, sagte Bruckner schnell. Er griff sich in die Jackentasche, holte sein Notizbuch hervor, blätterte und hielt mir die aufgeschlagene Seite hin. »Zu dieser Adresse muss ich.«
Ich beugte mich vor und las die Anschrift. »Das liegt direkt an der Elbe, eines der Elbgrundstücke. Sebastian von Treibnitz! Kenn ich nicht. Geht es um Frau von Treibnitz?«
Bruckner schüttelte den Kopf. »Eine Angestellte.« Er blätterte eine Seite um und las mir den Namen vor. »Upp, Caroline. Es soll ein Unfall gewesen sein, mit einem Jagdgewehr.«
»Wer sagt das?«, fragte ich.
»Unsere Leute vom Kriminaldauerdienst. Es sind bereits Beamte Vorort. Mich hat man vor einer halben Stunde informiert. Ich habe Hartmann vorgeschickt. Sie kennen doch noch Florian Hartmann?«
»Wenn ich Nein sage, lassen Sie mich dann in Ruhe?«
»Sie haben doch gefragt, wohin ich des Weges bin«, sagte Bruckner beinahe empört, »ob ich an einem Fall dran sei.«
»Nein, nein, Sie haben angehalten«, erwiderte ich. »Ein netter Gruß im Vorbeifahren hätte es doch auch getan.«
Bruckner lachte kurz auf, dann wurde er gleich wieder ernst. »Es sieht nach Selbstmord aus.«
»Ein Jagdgewehr!«, sagte ich. »Eine Frau hat sich mit einem Jagdgewehr erschossen. So im Stile von Hemingway?«
»Ich wusste gar nicht, dass sich Hemingway erschossen hat.« Bruckner überlegte. »Doch stimmt, hat er. Ich verwechsele Hemingway immer mit Spencer Tracy.« Bruckner stutzte. »Was meinten Sie.«
»Das Jagdgewehr!«, antwortete ich. »Wenn Frauen sich erschießen, dann mit einer Pistole, wenn überhaupt. Selbstmord mit einer Schusswaffe ist nicht gerade typisch für eine Frau.«
»Interessanter Gedanke«, sagte Bruckner. »Dann sind Sie ja schon mitten im Fall.«
Er blätterte noch eine Seite in seinem Notizbuch um und begann sich etwas zu notieren.
»Schreiben Sie das auf?«, fragte ich.
»Ja, warum nicht? Mir wäre das nicht eingefallen, zumindest nicht sofort.«
»Sie wollen mich ködern«, rief ich. »Sie wollen mein Interesse wecken.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss jetzt arbeiten, ins Büro und heute Abend fahre ich nach Travemünde, Urlaub mit meiner Familie, man erwartet mich dort.«
»Sie machen Urlaub in Travemünde?«
»Nur ein paar Tage. Meine Frau und die Kinder sind schon dort.«
»Oh, wie geht es Ihrer Familie?«
»Danke, gut. Aber lenken Sie nicht ab«, erwiderte ich.
»Ich lenke gar nicht ab, ich bin nur höflich.« Bruckner ließ ein paar Sekunden verstreichen, bis er weitersprach. »Caroline Upp ist die Haushälterin derer von Treibnitz. Sie ist fünfunddreißig ...«
»Ich dachte sie sei tot?«, warf ich ein.
»Gut, sie war fünfunddreißig«, korrigierte sich Bruckner, »ledig, ja, mehr weiß ich noch nicht.«
»Mich würde das Anwesen interessieren«, sagte ich. »Wie heißen die Leute, von Treibnitz?«
*
Ich weiß nicht, ob Bruckner überrascht war, oder es als den Erfolg seiner Überredungskünste feierte. Eigentlich hatte er mich nicht überredet, und wenn doch, dann hatte er es sehr leicht. Ich folgte seinem roten Ford durch zwei Querstraßen und ein ganzes Stück am Elbufer entlang. Die Straße machte schließlich einen Knick, führte an einer weißen Mauer entlang, bis wir ein hohes gusseisernes Tor erreichten, das weit offenstand. Bruckner befuhr das Grundstück, ich folgte ihm mit meinem Century. Die Kiesauffahrt verlief in einem weiten Bogen bis hin zu der weißgetünchten Stadtvilla. Auf dem Grundstück gab es noch einen Garagentrakt und zwei Nebengebäude, die etwas von der Villa entfernt standen. Die Wege zwischen den Gebäuden waren ebenfalls mit Kies aufgeschüttet, mit weißem Kies. Weiße Gebäude mit roten Ziegeldächern. Der Garagentrakt hatte ein Flachdach. Bruckner verließ den Kiesweg, fuhr auf eine Rasenfläche und parkte dort, wo bereits zwei Streifenwagen und vier weitere Fahrzeuge standen. Die Nummernschilder verrieten die Polizeiwagen. Ein Transporter und zwei dunkelblaue Ford Mondeos. Der vierte Wagen hatte ebenfalls ein Hamburger Nummernschild. Es war ein wuchtiger Audi A8 ABT-Tuning in Silber mit Zwanzig-Zoll-Sportfelgen und verdunkelten Seitenscheiben. Der Wagen war rückwärts eingeparkt und so sah ich, dass in der Windschutzscheibe ein Aufkleber mit dem Äskulapstab haftete. Ich wunderte mich kurz über den protzigen Auftritt des Gerichtsmediziners. Ich fuhr an dem Audi vorbei und stellte meinen Century gleich hinter Bruckners Ford ab. Wir stiegen aus. Bruckner und ich sahen uns um. Der Park war riesig. Ich rechnete, begann im Kopf eine Aufteilung des Grundstücks, gab es aber auf. Einerseits war es Verschwendung, andererseits wäre es eine Sünde gewesen, eine solche Fläche auseinanderzureißen. Bruckner stieß mich an. Wir machten uns über den weißen Kies auf den Weg zur Eingangstreppe. Das Portal war nicht überfrachtet. Ein Vordach getragen von zwei Säulen, das ganze vier, fünf Meter hoch. Oben auf dem Vordach war die Balustrade eines Balkons zu sehen. Dahinter eine Reihe von bodentiefen Fenstern oder Türen mit weißen Holzrahmen und Sprossenscheiben. Das gesamte Gebäude hatte in den Fenstern diese Sprossenscheiben, die zum Stil passten. Vor zwei Jahren hätte ich die Bauausführung noch nicht unterscheiden können, doch jetzt war ich sicher, dass die Villa zum größten Teil im Jugendstil gehalten war. Die Treppe zum Portal hatte links und rechts eine geschwungene Balustrade, die mich an den Barkenhof in Worpswede bei Bremen erinnerte. Das Ganze war nur etwas mächtiger und größer und die beiden Säulen oben am Ende der Treppe fehlten dem Barkenhof natürlich. Gustav hatte im letzten Jahr tatsächlich ein Objekt in der ehemaligen Künstlerkolonie in Worpswede angeboten bekommen. Es gab einige Hamburger Interessenten. Am Ende hatte ein ehemaliger Kölner