Mara Dissen

Du bist böse


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mich zu einem Sessel. Wenn sie die unerträgliche Atmosphäre erfasst hat, und dafür bestehen bei mir keine Zweifel, so lässt sie sich das jedenfalls nicht anmerken.

      „Warum sind Sie hier, Frau Butt, und was machen die Polizisten in unserem Garten? Ich denke doch, dass das Polizisten sind. Wer sonst?“, stammele ich und versuche, mich in dem ernsten Gesicht der Beamtin zu orientieren. Krampfhaft umklammere ich nun mit beiden Händen die Revers meiner Jacke. Zum ersten Mal empfinde ich das Sitzen in diesem Sessel als ausgesprochen unangenehm. Tief in die satte Polsterung eingesunken, die Beine ohne Bodenkontakt im freien Raum baumelnd, fühle ich mich mickrig, ausgeliefert, hilflos, ohne letzten Rest an Selbstwertgefühl.

      „Frau Stolpe, ich habe Ihrem Mann bereits berichtet, dass es Fragen zum Tod Ihres Sohnes gibt und meine Kollegen und ich, hier vor Ort, Antworten auf die Fragen suchen. Dabei brauchen wir natürlich Ihre Unterstützung, Ihre und die Ihres Mannes. Ich wollte gerade mit Ihrem Mann ein Gespräch beginnen, aber nun sind Sie dazu gekommen. Es wäre doch sinnvoll, wenn wir das Gespräch gemeinsam führen könnten. Möchten Sie sich umziehen und dann dazu kommen? Sie waren scheinbar nicht vollständig angezogen, als man Sie gestern ins Krankenhaus einlieferte, und jetzt fühlen Sie sich verständlicherweise unwohl“, lächelt sie mich einfühlsam an. „Ihr Mann könnte uns ja in der Zwischenzeit einen Kaffee kochen. Gehen Sie doch einfach voran, zeigen Sie mir den Weg, und ich trage Ihnen die Reisetasche nach.“

      „Nein, nicht nötig“, stoße ich lauter als erforderlich hervor und bin erstaunlich schnell auf meinen kurzen Beinen. Energisch reiße ich ihr die Tasche aus der Hand. „Ich bin sofort wieder hier. Ja, ich möchte mich unbedingt umziehen. Danke für Ihr Verständnis.“ Hektisch laufe ich auf die geschwungene Treppe zu, die ins Obergeschoss führt und erfasse gerade noch, wie die Kommissarin erstaunt eine Augenbraue hebt. Auf dem Weg zu meinem Schlafzimmer zermartere ich mir das Hirn, wo ich meine blutverschmierte Bluse entsorgen könnte. Nicht auszumalen, die Kommissarin hätte mich begleitet und in überbordender Hilfe meine Tasche geöffnet. Die werden doch heute nicht das Haus durchsuchen, fährt mir der Schreck siedendheiß in die Glieder. Erschöpft lasse ich mich auf mein Bett fallen, ziehe die Tasche heran und entnehme zögernd meine Bluse. Kurz, aber nur ganz kurz, vergrabe ich mein Gesicht in den verkrusteten, dunkelroten Flecken, um das Kleidungsstück entsetzt von mir zu werfen. Entschlossen sammle ich es wieder auf und stopfe es unter meine Matratze, wohlwissend, dass es sich um kein originelles Versteck handelt.

      Als ich wenige Minuten später, frisch umgezogen, auf dem oberen Treppenabsatz unbemerkt das Gespräch meines Mannes und der Polizistin belauschen kann, wird mir klar, weshalb sich dieses große Polizeiaufgebot bei uns breitgemacht hat. Was hatte ich denn auch anderes erwartet?

      „Ich bin da“, hauche ich unnötigerweise, stelle den Stuhl, den ich hinter mir hergezogen habe, neben den Sessel und nehme darauf Platz. Nicht noch einmal werde ich in dem Sessel versinken und mich in meinem eigenen Haus wie ein entmündigtes Wesen fühlen. Frau Butt betrachtet mich schweigend, mitfühlend. Ich glaube, sie mag mich. Frank mag mich nicht.

      „Ich habe eine Frage an dich. Ich möchte sie dir alleine stellen. Kommst du bitte mit in die Küche? Es dauert nicht lange“, wende ich mich fast wie um Erlaubnis bittend an die Kommissarin. Frank reagiert einfach nicht, und Frau Butt ignoriert meine Frage und unser Verhalten auf gekonnte Weise. Noch immer wortlos, schenkt sie mir eine Tasse Kaffee ein. Kaffeekochen hat Frank also hinbekommen.

      „Frau Stolpe, Sie haben ja eben in meinem Gespräch mit Ihrem Mann gehört, weshalb ich mit meinen Kollegen hier bin. Ja, jetzt schauen Sie nicht so erstaunt. Ich habe sie da oben auf dem Absatz gesehen“, fügt sie mit einem leichten Anflug von Lächeln hinzu. Jetzt ist es gut, dass ich nicht in diesem überdimensionalen Sessel sitze. Ich wäre aus Scham noch tiefer in ihm versunken. Mein Gott, wie geht das Ganze jetzt hier weiter? Konzentrier dich, reiß dich zusammen, hämmert mir meine innere Stimme ein.

      „Was wollen Sie von uns? Sie belagern hier einfach unser Haus und unser Grundstück, stellen unglaubliche, entsetzliche Vermutungen auf. Was soll das? Können Sie uns nicht in Ruhe trauern lassen? Wir müssen den Tod unseres Sohnes in uns wahrnehmen, das Gefühl dieses entsetzlichen Verlustes zulassen. Und jetzt stehen sie alle hier rum und quälen uns zusätzlich mit diesen unfassbaren Behauptungen.“ Meine innere Stimme konnte sich nicht gegen meine Aggression durchsetzen. Wild und angriffslustig starre ich die Frau an.

      „Frau Stolpe, Herr Stolpe, erzählen Sie mir doch einfach über Ihren Sohn. Was war er für ein Kind, wie haben Sie mit ihm gemeinsam die Zeit verbracht? Gibt es etwas, was Sie besonders an ihm geliebt haben? War es ein ruhiges Kind, verspielt oder eher lebhaft, vielleicht manchmal etwas zu wild? Ich möchte gerne mehr über Ihren Sohn erfahren. Geht das? Schaffen Sie das?“ Als hätte ich nie zu ihr gesprochen, übergeht sie meinen Gefühlsausbruch.

      Franks Kopf schnellt in die Höhe. Seinem hochroten Gesicht ist anzusehen, dass er wütend ist, sich nicht auf das Gespräch einlassen will. Wahrscheinlich befürchtet er die entstehende unangemessene Atmosphäre eines Kaffeeklatsches. Es ist ihm nicht möglich, über sein totes Kind zu reden, nicht jetzt.

      „Ja, das schaffe ich“, komme ich meinem Mann mit einer Antwort zuvor.

      Frau Butt lächelt mir aufmunternd zu und schweigt erwartungsvoll. Sie ist geschult genug, um zu wissen, dass sie jetzt nicht weiter in uns dringen darf. Sie ist geschickt vorgegangen. Statt uns mit bohrenden Fragen in die Enge zu treiben, übergibt sie uns den Erzählpart. Sie dürfte auch erfahren genug sein, sich aus den Erzählungen ein Bild zu machen, aber welches? Langsam führt sie ihre Kaffeetasse an den Mund, ohne mich aus den Augen zu lassen. Es fasziniert mich, wie es ihr gelingt, den heißen Kaffee zu trinken, und mich gleichzeitig mit ihren Augen einfühlsam anzulächeln. Plötzlich verspüre ich das unbändige Bedürfnis, über meinen Sohn zu sprechen, nicht mit irgendjemandem, aber mit dieser Frau. Mit Elli habe ich oft über Leif gesprochen, eigentlich ständig. Das war aber etwas vollkommen anderes, als das Gefühl, das mich jetzt überkommt.

      „Leif war ein Wunschkind“, schießt es förmlich aus mir heraus. „Mein Mann und ich wollten unbedingt ein Kind. Das heißt, mein Mann wollte zwei und ich nur eins. Wir konnten uns da nie drüber einig werden. Eigentlich begann unsere Unstimmigkeit aber schon bei dem einen Kind. Wir konnten uns nicht auf einen Namen einigen. Mein Mann wollte, dass unser Sohn Leif getauft wird, und ich wollte, dass er Milan heißt. Wissen Sie was Milan bedeutet? Nein? Der Liebe, der Angenehme. Leif ist übersetzt der Nachkomme, der Erbe. Ist doch klar, wer sich durchgesetzt hat, wenn Sie sich hier umsehen, was mein Mann mit seinem Geld geschaffen hat. Schnell nachvollziehbar, dass diese Schätze vererbt werden müssen, an einen Jungen namens Leif natürlich.“ Es gelingt mir nicht, ein sarkastisches Lächeln zu unterdrücken. Ich weiß genau, wie ich bei diesem Grinsen jetzt aussehe, benötige keinen Spiegel. Frank hat es mir allzu oft mit bildhaften Adjektiven beschrieben. Ich möchte so nicht aussehen, nicht jetzt. Ich möchte über mein Kind reden und dabei sollen Sticheleien, bösartige, gemeine Anfeindungen außen vor bleiben. Es soll ein schönes, friedvolles Bild werden, das ich zeichne, das sich wohltuend wie ein dünner Schleier über all das Grauen legt, ein kunstvoll errichtetes Gerüst, an dem man sich hochhangeln kann, bevor der Absturz in die emotionale Tiefe droht. Schnell versuche ich, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen und bedecke meinen Mund zusätzlich mit meiner rechten Hand. Frank hat meine Entgleisung natürlich gehört und augenscheinlich auch gesehen. Angewidert schaut er mich an und schüttelt den Kopf.

      „Mach nur ruhig weiter“, ist alles was er von sich gibt und das Wohnzimmer über die Terrasse verlässt.

      „Bleib hier. Du kannst dich nicht immer der Verantwortung entziehen, wenn es um dein Kind geht, das du gezeugt hast, zeugen wolltest, falls du dich noch erinnerst. Du kannst ruhig hierbleiben. Leif stört dich nicht mehr. Er ist tot, kapierst du? Tot!“, schreie ich hinter ihm her. Mein Gott. Entsetzt beiße ich auf meine Unterlippe und schlage die Hände vors Gesicht. Der Weinkrampf kommt völlig unerwartet. Vor wenigen Minuten habe ich mich doch noch so stark gefühlt, wollte die Erinnerungen an Leif zulassen und jetzt dieses erbärmliche Verhalten. Wahrscheinlich verlieren die Medikamente, die man mir im Krankenhaus verabreicht hat, so langsam ihre Wirkung. Ich weiß