Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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Hatte ich mir das nicht versprochen, wenn ich jemals das Vermächtnis unseres Vorfahren loswerde?

      Die Tür meines Zimmers öffnet sich und die Nachtschwester kommt herein. Sie sieht, dass ich nicht schlafe: „Haben Sie Schmerzen? Brauchen Sie etwas?“

      „Ich kann nicht schlafen“, sage ich kleinlaut. Lauthals herumzujammern liegt mir eigentlich nicht.

      „Ich hole Ihnen ein Schlafmittel“, antwortet die Schwester nur freundlich und geht.

      So einfach ist das also. Ich werde mich mal wieder mit Schlaftabletten ausknocken.

      Die Schwester kommt wieder und gibt mir einen winzigen Becher aus Plastik mit einer weißen Tablette. Dazu reicht sie mir ein Glas Wasser.

      Ich setze mich auf und schlucke brav meinen Garanten für einen guten Schlaf.

      „So, nun werden Sie bestimmt zur Ruhe kommen“, sagt sie noch und will gerade gehen, als mir noch etwas einfällt.

      „Was mache ich, wenn ich auf die Toilette muss?“

      Die Schwester dreht sich genervt um und kommt zurück an mein Bett. „Nah, ich denke, wir sollten dann sofort gehen. Sonst schlafen Sie unterwegs ein.“ Ihr Lächeln wirkt aufgesetzt.

      Ich nicke. Dabei stelle ich mir die Frage, wie das in den letzten Tagen abgelaufen war. Aber ich verdränge das Thema lieber, da sich sofort Marcel wieder in meine Gedanken schleicht und ich ihn mit einer Pipipfanne an meinem Bett stehen sehe. Ich kann nur hoffen, dass Marcel nichts damit zu tun hatte, wenn ich für kleine Königstiger war.

      Es fällt mir unendlich schwer aufzustehen und die Schwester hilft mir. Mein Kreislauf weiß erst nicht, ob er linksrum oder rechtsrum drehend ist. Aber dann geht es doch einigermaßen und ich gehe die wenigen Schritte zu der Seitentür, die mich ins Bad bringt. Der Blick in den Spiegel über dem Waschbecken erschreckt mich zutiefst. Mann, muss Marcels Liebe groß sein. Ich sehe aus wie das letzte Nachtgespenst.

      Die Schwester bleibt vorsichtshalber bei der Tür stehen und wartet, bis ich fertig bin, um mich zu meinem Bett zurückzubringen.

      Ich krieche unter die Decke und bin froh, mich wieder ausstrecken zu können und vertraue meinen bleischweren Körper der Obhut der Matratze an. Ich sehe der Schwester nach und lalle noch ein „Danke“, bevor mich der Schlaf packt und in die Dunkelheit zieht.

      Als ich wach werde, zwitschern draußen die Vögel und heller Sonnenschein durchflutet mein Zimmer.

      Im ersten Moment weiß ich gar nicht, wo ich bin. Doch dann schießt mir alles wie ein Blitz durch meine Gehirnwindungen.

      Marcel … Tim … Julian.

      Ich stöhne auf, als ich mich aufsetzen will. Mein Hals schmerzt. Mir fällt meine Wunde ein, die ich von Julians Übergriff davongetragen habe. Einen Moment reißt mich die Erinnerung in ein Tief und ich schließe betroffen die Augen. Mit aller Macht versuche ich das Erlebte zu verdrängen und mich einem neuen Tag, ohne die Schrecken aus der Vergangenheit, zu stellen. Die sind vorbei.

      Ich versuche erneut mich aufzusetzen. Langsam schiebe ich mich hoch und lasse das Karussell ausdrehen, das in meinem Kopf rotiert. Als die Welt endlich stillsteht, ziehe ich langsam die Decke an die Seite und schiebe die Beine über den Bettrand. Mir fällt ein, dass ich schon einmal wach gewesen bin - irgendwann in den frühen Morgenstunden. Da hatte eine Schwester nach mir geschaut.

      Ich hebe den linken Arm und besehe mir die Stelle, auf der ein Pflaster über eine zusammengerollte Kompresse geklebt ist. Das ist noch ein Überbleibsel von dem komischen Teil für den Infusionsschlauch, der am vergangenen Abend gezogen wurde.

      Einige Minuten bleibe ich nur sitzen und sehe auf die Tür, die ich erreichen will. Ich muss es bis ins Bad schaffen.

      Eigentlich soll ich klingeln. Das hatte mir zumindest die Schwester heute Morgen eingebläut.

      Tatsächlich schaffe ich es, auf die Füße zu kommen und die tragen mich sogar die wenigen Schritte bis zu der Badezimmertür. Als ich sie öffne und eintrete, fällt mein Blick auf die winzige Dusche, die ich in der Nacht nicht wahrgenommen hatte. Ein unbändiger Wunsch nach heißem Wasser und Sauberkeit erfüllt mich. Ich muss schon stinken wie ein Iltis.

      Während ich mich auf die Toilette fallen lasse, überlege ich, ob ich wohl duschen kann. Soll ich die Krankenschwester fragen? Und wenn die dann „Nein“ sagt? Das will ich auf gar keinen Fall riskieren.

      Ich bediene die Toilettenspülung und lasse meine Pyjamahose fallen, die eh schon auf halbmast hängt. Ich öffne blind die Knöpfe der Jacke, da ich nicht an mir herunterschauen kann und stelle mich unter den Brausekopf, der das Wasser nur auf meine Schultern rieseln lässt.

      Es ist ein unglaublich schönes Gefühl.

      Seife finde ich in einem kleinen Eckregal.

      Ich wasche mich und stellte fest, dass es mir schon bessergeht.

      Der Versuch, meinen Kopf vornüber zu beugen, misslingt allerdings gründlich. Meine Haare zu waschen muss also noch warten.

      Ich stelle das Wasser ab und lege mir das Handtuch um, das auf seinen Einsatz wartend an einem Harken hing. Zähneputzen klappt auch schon ganz gut und nach dem Kämmen finde ich mich nicht mehr ganz so erschreckend. Nun fehlt nur noch ein Frühstück und ich werde wieder Zweige abbrechen können. Zum Bäume ausreißen wird es noch nicht ganz reichen. Aber ich habe wieder das Gefühl, mein Leben in den Griff bekommen zu können … und ich werde nach Tim fragen. Vielleicht kann ich ihn bald besuchen?

      Meinen Vorsatz, es heute noch zu tun, verschiebe ich fürs Erste. Es verursacht mir ein flaues Gefühl in Bauch und der Gedanke, es noch zu verschieben, lässt mich gleich wieder ruhiger werden.

      Als ich aus dem Badezimmer schlurfe, trifft mich fast der Schlag. Vor meinem Bett steht Tim. Er hat eine meiner Zeitschriften in der Hand, die mir wohl von Marcel dort hingelegt worden waren. Jetzt sieht er mir entgegen und legt sie langsam wieder auf den Nachttisch zurück.

      Er sieht noch blasser aus als sonst und seine dunklen Haare glänzen in der Sonne, die hinter ihm durch das Fenster ins Zimmer scheint und ihn beleuchtet, wie einen Heiligen.

      Ich stehe wie angewurzelt da und bin mir nicht ganz sicher, ob meine Beine mich weitertragen werden. Meine Knochen drohen sich augenblicklich in Götterspeise zu verwandeln.

      „Tim!“, hauche ich nur.

      „Carolin!“ Tims Stimme klingt kratzig und dumpf. Seine schwarzen Augen durchdringen mich und scheinen bis in meine Seele zu reichen. Mit wenigen Schritten ist er bei mir, greift nach meinem Arm und zieht mich an sich. Er hält mich umschlungen, als wäre es das letzte Mal in unserem Leben und wenn wir uns loslassen, werden wir zu Nebel und lösen uns auf.

      „Ich dachte, wir überleben das nicht“, höre ich ihn an meinem Ohr stammeln. „Ich dachte, du überlebst das nicht. Du hast so geblutet …“

      An meinem Hals spüre ich einen stechenden Schmerz. Dennoch presse ich mich an ihn und seine Arme legen sich noch fester um meinen Körper. Ich spüre den Verband, der um seine Brust geschlungen ist.

      „Dieser Typ, der dich aus dem Labor trug, war bei mir und sagte mir, dass du es überstehen wirst und Julian in Untersuchungshaft sitzt“, raunt Tim mit etwas festerer Stimme.

      „Ja, das war Marcel“, flüstere ich nur, zu mehr nicht fähig. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie Marcel und Tim zusammengetroffen sind. Aber es ist wohl typisch für Marcel, sich die Mühe zu machen und Tim über alles zu informieren. Hätte er es auch getan, wenn er wüsste, wie ich zu Tim stehe?

      Ihn jetzt so nah bei mir zu haben, seine Arme um mich geschlungen zu fühlen, seine Stimme zu hören und seinen heißen Atem an meinem Ohr zu spüren, lässt mein Herz höherschlagen. Sein Geruch lullt mich ein und wirkt wie eine Droge. Ich fühle unter seinem T-Shirt den Verband, der um seinen Oberkörper geschlungen ist und schiebe ihn vorsichtig etwas von mir ab, um ihn ansehen zu können.

      Über seiner Augenbraue klebt ein Pflaster und drum herum schillert seine Haut in blassen Regenbogenfarben.