Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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auf dem die letzten Tage Marcel gesessen hatte, und sieht mich nur an.

      Am liebsten würde ich zu ihm gehen und mich auf seinen Schoß kuscheln, um ihm wieder ganz nah zu sein. Oder noch besser, ich wünsche mir, dass die beiden an meiner Tür stehenden Personen sich in Luft auflösen und wir wieder allein sind.

      Ich schäme mich für meine Gefühle und meine Gedanken und ziehe meine Freundin Christiane an der Krankenschwester vorbei ins Zimmer. „Schön, dass du mich besuchen kommst.“

      Ich freue mich wirklich, sie zu sehen.

      Die Schwester geht und schließt leise die Tür hinter sich. Ich registriere das und hätte gerne gewusst, was in ihrem Kopf vor sich geht. Gut, dass sie mich nicht mit Tim gesehen hat, wie Christiane vorher.

      Die hält mich mit beiden Händen an den Oberarmen fest und sieht mich von oben bis unten an. „Oh, Mann! Ich fasse nicht, was alles passiert ist“, stammelt sie betroffen. „Als die Polizei bei mir auftauchte, dachte ich erst, ihr hättet einen Unfall gehabt. Doch ich wurde richtig verhört und sie fragten mich über Julian und sein Labor aus. Ich musste ihnen alles erzählen, was ich wusste und als ich ihnen sagte, dass du und Julian verreisen wolltet, da sagten sie mir, dass das nicht stimmt und sie dich suchen würden. Dieser Typ aus dem Golf war auch bei ihnen. Ich musste ihnen sagen, wo das Labor von Julian ist und sie schossen los. Echt, ich war völlig verängstigt. Und dann kamen sie und sagten mir, dass sie dich und einen Jungen ins Krankenhaus gebracht hätten und nahmen mich mit, um die Adresse von deinen Eltern herauszufinden. Ihre Nummer auf deinem Handy funktionierte aber nicht, als wir sie damit erreichen wollten.“ Christiane klingt außer sich und stammelt: „Poor! Dass Julian sowas macht!“ Sie lässt mich los und dreht sich langsam zu Tim um. „Ist das der andere Junge? Ich habe ihn mit dir das eine Mal an unserem Haus vorbeifahren sehen.“

      Ich muss wieder ins Bett zurück. Meine Kräfte versagen völlig. Ich bin froh, als ich wieder unter die Decke krabbeln kann.

      Christiane bleibt mitten im Raum stehen und sieht immer noch Tim an, der blass und mitgenommen auf dem Stuhl hockt. Unser stürmisches Zusammentreffen lässt seine schwarzen Augen immer noch leuchten und der Blick, mit dem er mich ansieht, lässt meine durcheinandergeratenen Gefühle nicht zur Ruhe kommen. Ich atme tief durch und wende mich wieder Christiane zu. „Julian wollte nie mit mir verreisen. Er hat mich und Tim in sein Labor verschleppt, um Kurt Gräbler wieder auferstehen zu lassen.“

      Christianes Blick gleitet wieder zu mir und ihre Kinnlade klappt auf, wie die Tür eines Backrohrs. „Was?“ Ihr Blick läuft wieder zu Tim zurück.

      Ich verstehe ihre unausgesprochene Frage: Warum Tim? Was hat er damit zu tun?

      „Tim ist Julians Halbbruder“, erkläre ich ihr.

      „Was?“, ruft Christiane wieder. „Sein Halbbruder? Oh Mann! Das ist echt irre!“

      Sie muss sich setzen und schiebt sich am Fußende auf das Bett, mit dem Rücken an den eisernen Handlauf gelehnt, sodass sie einen freien Blick auf mich und Tim hat. In ihrem Kopf scheint es zu rattern.

      „Aber wusste Julian das? Er war so wütend, als ich ihm von dir und ihm …“ sie nickt zu Tim hin „erzählte. Der ist völlig ausgeflippt!“

      „Ich denke, er hatte Angst, dass ich mich mit Tim zusammentue und er dann sein Vorhaben nicht mehr so leicht ausführen kann“, erwidere ich und fühle mich schon wieder schlapp. Mein Magen grummelt und mir fällt ein, dass ich noch gar nichts gegessen habe. Als ich mich umsehe, bemerke ich auf dem Tisch an der gegenüberliegenden Wand ein Tablett, das zugedeckt seinen Inhalt verbirgt. Das ist bestimmt mein Frühstück. Wahrscheinlich hatten die Schwestern gedacht, dass Marcel mich versorgen wird, wenn ich wach werde und sich nicht die Mühe gemacht, noch einmal nach mir zu schauen. Sie wussten schließlich nicht, dass der erst heute Nachmittag kommen wird.

      Mein Blick gleitet zu Tim.

      Der sitzt nur da und sieht mich weiter an, als wäre ich der Mittelpunkt seines Universums. Sein Blick macht mich nervös und ich wende mich schnell meiner Freundin zu. „Christiane, kannst du mir bitte das Tablett holen?“ Damit reiße ich sie wohl aus ihren Gedanken.

      „Was?“, fragt sie zum dritten Mal und schaut sich dann erst um, was ich wohl gemeint habe. Sie steht auf und holt das Tablett.

      Ich drücke auf meiner Fernbedienung herum, bis das Rückenteil sich soweit hochgefahren hat, dass ich bequem sitzen kann. Dann ziehe ich das Tablett, das an meinem Tischchen befestigt ist, über mein Bett.

      Christiane setzt mein Frühstück darauf und macht den Deckel ab.

      Ich sehe auf ein Kännchen Kakao und zwei Weißbrotscheiben, einem Stück Butter und Marmelade. Ich schiebe mir das Brot ohne Aufstrich in den Mund und trinke einen Schluck Kakao.

      Tim hievt sich schwerfällig aus dem Stuhl und kommt unschlüssig an mein Bett.

      Ich höre verwirrt auf zu kauen.

      „Ich gehe dann mal wieder. Ich werde wohl morgen entlassen. Vorher komme ich noch mal bei dir vorbei, wenn das okay ist“, murmelt er.

      Ich verschlucke mich fast an meinem Weißbrot. Ich will nicht, dass Tim geht. Niemals wieder soll er von meiner Seite weichen. Aber ich sage nur: „Schade! Wir haben noch so viel zu besprechen. Komm doch nach dem Mittagessen noch mal vorbei. Bitte! Ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen!“

      Er nickt nur.

      Mir wird bis dahin hoffentlich etwas „Wichtiges“ einfallen.

      „Okay, dann sehen wir uns später noch.“ Etwas zögerlich gibt er mir einen Kuss auf die Wange. Es ist eigentlich nur ein Hauch.

      Ich schiebe schnell meine Hand in seinen Nacken, wobei das Tablett mit dem Kakao bedrohlich wackelt und ziehe ihn zu mir herunter. Als unsere Lippen sich treffen, durchläuft es mich wie ein Blitz. Wäre Christiane nicht da, würde ich ihn in mein Bett zerren.

      „Hallo, ich bin auch noch da“, höre ich die in diesem Augenblick entrüstet maulen.

      Tim befreit sich von meinem Griff und lächelt mich verlegen an. An seinem Gesichtsausdruck sehe ich, dass es ihm nicht bessergeht als mir.

      „Okay, dann bis nachher“, säusele ich und grinse.

      Tim nickt nur und eilt aus dem Zimmer.

      „Was war das denn? Ich glaube ich spinne“, faucht Christiane, die Ungehaltene spielend. Doch dann lacht sie. „Das ist also dein Freund? Wann hättest du mir von ihm erzählt?“

      Was soll ich sagen? Gar nicht. Bis heute war er nicht mein Freund. Und wenn sie die Krankenschwester fragt, wird die das bestätigen. Denn die hat bei der Frage, wer mein Freund ist, einen ganz anderen im Sinn. Ich kann nur hoffen, dass sie ihre Schicht heute beendet hat, wenn Marcel kommt.

      Marcel! Verdammt!

      Über mich stürzt eine Welle beklemmender Gefühle herein.

      „Du musst mir alles erzählen. Ich sterbe vor Neugierde. Als mich heute Morgen deine Mutter anrief und mir erzählte, dass du jetzt besucht werden kannst, bin ich gleich hergefahren. Und dann treffe ich dich in wilder Umarmung mit diesem Tim. Ich dachte erst, ich bin im falschen Zimmer!“ Christiane lacht auf.

      Mir ist nicht zum Lachen. Mir wird plötzlich bewusst, was eigentlich passiert. Ich habe gestern Marcel noch voll die Hoffnungen gemacht und heute …?

      Was ist das zwischen mir und Tim? Wenn ich an ihn denke, fühle ich es in meinem Körper kribbeln und sehne mich nach seinen Berührungen. Es ist das reinste Gefühlschaos, das beim Gedanken an ihn in mir auflodert. Aber in meinem Kopf drängt eine Ahnung hoch, dass sich dies irgendwie unwirklich anfühlt, gestellt und manipuliert von etwas, was in uns lauert. Vielleicht von Kurt Gräbler und seinem Wunsch, immer wieder sein Blut zusammenzuführen.

      Ich schüttele benommen den Kopf und versuche diesen Gedanken wegzuschieben. Das kann nicht sein. Tim und mich verbindet mehr!

      Ich sehe Christiane an und sie wartet scheinbar auf meine Erklärung für alles. Also beginne ich