Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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verhungern, immer wieder … und triffst dich mit diesem Marcel“, brummt er plötzlich verbittert auf. Seine dunklen Augen wirken noch dunkler. Er scheint langsam die Geduld zu verlieren.

      „Was?“, schießt es aus meinem Mund. Er ahnt nicht, wie sehr ich ihn will. Sein Blick macht mich schon konfus und wenn er mich berührt, bekomme ich echte Schwierigkeiten, ihm länger zu widerstehen. Wenn nicht die Gefahr bestünde, dass ich schwanger werde oder uns jemand überrascht, dann würde ich wahrscheinlich nicht lange zögern. Aber seine Geschichte, dass er mich schon immer wollte, gibt mir erst recht das Gefühl, richtig in meiner Annahme zu liegen, dass er sich so aufführt, weil ihn etwas dazu zwingt. Etwas Böses aus der Vergangenheit, das nichts mit Liebe und wirklicher Zuneigung zu tun hat. Zumindest nicht bei ihm. Ich weiß genau, was ich für ihn empfinde. Aber ich will auch bei ihm sicher sein.

      Ich sehe ihn an und erkläre ihm mit sanfter Stimme: „Tim, bitte! Wir dürfen dem jetzt noch nicht nachgeben. Ich nehme keine Pille und möchte nicht, dass es hier im Krankenhaus passiert, wo jeden Moment jemand reinschneien kann … oder an einer Straße auf einer Bank einer Wanderhütte.“ Ich klinge jetzt etwas ungehalten.

      Tim sieht mich aufgebracht an. „Und du redest von echten Gefühlen?“, zischt er und schiebt sich demonstrativ vom Bett und setzt sich wieder auf den Stuhl. Sein ganzes Gesicht zeigt den Ärger in ihm.

      Diese ganze Situation macht mich fertig. Sobald er sich von mir entfernt, bricht in mir die Angst aus, ihn zu verlieren. Dann glaube ich, ihm gar nicht länger vorenthalten zu dürfen, was er verlangt.

      „Hast du ein Kondom dabei?“, frage ich ihn und hoffe, ich werde nicht rot. Ich kann über so etwas irgendwie nicht sprechen wie übers Kuchenbacken. Wie ich schon erwartet habe, sieht er mich groß an und schüttelt den Kopf.

      „Also nicht. Und da denkst du, wir können mal eben miteinander schlafen?“

      Er antwortet nicht und sieht mich nur verdrossen an.

      „… und schwanger werden. Und ein neues Kurt Gräbler Kind kriegen“, raune ich entrüstet.

      „Neinnn!“, sagt er gedehnt und endlich scheint ihm klarzuwerden, was ich ihm da gerade zu verstehe gebe. „Ich weiß doch auch nicht. Wenn du in meiner Nähe bist, kann ich nur noch daran denken. Du bist so kühl und beherrscht und ich komme damit nicht klar. Ich will mit dir zusammen sein, ich träume davon und es macht mich völlig fertig“, sagt er und seine Wangen bekommen Farbe. Er sieht mich nicht an und es scheint ihm peinlich zu sein. Plötzlich scheint seine Fassade zu bröckeln und sein großtuerisches Gehabe Risse zu bekommen.

      Seine Worte bestätigen meinen Vorbehalt noch. Das Ganze ist eine reine Bettgeschichte für ihn. Das hat doch nichts mit echten Gefühlen zu tun. Scheinbar geht ihm das auch gerade auf. Er flüstert nachgebend: „Aber vielleicht hast du recht. Vielleicht sind wir das gar nicht?“ Seine schwarzen Augen heften sich wieder in mein Gesicht und ich atme einmal tief durch. Erleichtert schlage ich vor: „Das sollten wir erst mal herausfinden. Wir haben wegen diesem Alchemisten so gelitten und fast unser Leben gelassen. Es wäre schrecklich, wenn er uns immer noch manipuliert. Findest du nicht auch?“

      Tim starrt mich nur an.

      „Wir sollten einfach erst mal freundschaftlich miteinander umgehen, bis wir uns sicher sind.“

      „Tzzz! Kannst du das so einfach?“, unterbricht er mich. „Ich nicht. Ich will richtig mit dir zusammen sein. Wir gehören zusammen! Wegen dir bin ich hier! Ich habe mir hier gerade einen Job gesucht und eine kleine Wohnung gemietet. Alles wegen dir! Aber bestimmt nicht, um mit dir Bruder und Schwester zu spielen.“ Seine Worte klingen anklagend und schüren mein schlechtes Gewissen.

      Ich versichere ihm: „Natürlich nicht. Wir sind Freunde! Wir werden uns so oft treffen, wie es geht und du kannst jederzeit zu uns kommen, da bin ich mir sicher. Immerhin ist dein Vater kein Fremder für meine Mutter. Und dann finden wir gemeinsam heraus, was mit uns los ist“, sage ich und halte das für einen annehmbaren Weg, der mich beruhigt.

      Tim sieht auf seine Hände, die er ineinander verknotet hat. Dann nickt er und sieht auf. „Das ist okay. Solange ich dich treffen kann. Aber weißt du …?“ Er setzt sich auf und etwas scheint sich an ihm zu wandeln. „Seit der Sache im Labor habe ich nicht mehr von Kurt Gräbler geträumt. Ich bin diese schreckliche Angst los und das Gefühl, dass ich, wenn ich versage, das mit meinem Leben bezahle. Das hielt mich die ganzen letzten Jahre wie in einem Gefängnis gefangen. Carolin, ich bin davon befreit und möchte einfach neu anfangen. Mit dir! Ich glaube, dieser Alchemistenscheiß ist für immer vorbei.“

      „Oder es fängt erst an. Mit uns!“

      Über Tims Gesicht huscht ein genervter Ausdruck und er steht langsam auf. Sein Blick wandelt sich. Er sieht mich nicht an, als er zischt: „Du bist so schrecklich pessimistisch. Was soll mit uns anfangen?“

      Ich weiß nicht, ob ich aussprechen soll, was mir in diesem Moment durch den Kopf geht. Aber ich wage es dann doch. „Das, was unsere Eltern durchmachten und unsere Großeltern. Das erneut eine neue Generation für diesen Alchemisten gezeugt wird, vielleicht um ihm dann die Möglichkeit zu geben, zu vollenden, was bei uns misslang.“ Ich muss an die Bücher des Alchemisten denken, in denen steht, dass er seine Nachfahren braucht, um sie als Gefäß missbrauchen zu können, in das er schlüpfen kann, wenn ihm danach ist.

      Tim sagt nichts. Er sieht mich nur verdrossen an.

      Ich wage noch weiter zu gehen. „Ich will auch mit dir zusammen sein. Aber bitte lass uns erst herausfinden, was uns so zueinander hinzieht. Und bevor wir das nicht wissen, sollten wir einen rein freundschaftlichen Umgang hegen und uns die Chance geben, uns näher kennenzulernen.“

      Weil Tim mich nur anstarrt, füge ich ein: „Bitte!“ hinzu.

      Vielleicht gibt uns das die Möglichkeit, einen anderen Weg zueinander zu finden. Einen, der mehr dem entspricht, was ich mir für meine erste Beziehung wünsche.

      Mir kommt die Zeit endlos vor, bis er endlich zustimmend nickt. Er wirkt nicht überzeugt, sagt aber auch nichts mehr dagegen. Stattdessen raunt er: „Morgen holt mich mein Vater ab und nimmt mich mit zu sich nach Hause. Er hat eingesehen, dass er mich nicht ignorieren kann.“ Seine Stimme hat einen schneidenden Unterton. Doch dann besinnt er sich und klingt sanfter, als er hinzufügt: „Ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde ihn ausfragen, wie es damals mit ihm und unseren Müttern war. Vielleicht bin ich dann schlauer und wir bekommen eine Antwort auf deine Befürchtungen.“

      Das sind erfreuliche Nachrichten. Tims Vater - und auch Julians - hat beschlossen sich wenigstens um einen seiner Söhne zu kümmern.

      „Wirst du ihm von Julian erzählen? Er ist auch sein Sohn“, frage ich, bewusst das Thema von meinen Befürchtungen ablenkend.

      „Ich schau mal, wie es so läuft. Aber irgendwann bestimmt. Und ich möchte wissen, was mit seinen anderen Kindern ist. Ob die auch Träume haben, die nicht ihre eigenen sind.“

      Daran habe ich noch nie gedacht. Vielleicht sind sie die nächste Generation? Was für ein schrecklicher Gedanke. Sollte es so sein, müssen wir das Ganze ein für alle Male stoppen. Wie auch immer.

      „Gut, dann lass uns das abwarten“, sage ich und spüre, wie etwas in meinem Inneren schwermutig wird. Ich bin nicht überzeugt, dass ich das Richtige tue. Ich habe Angst, dass Tim sich deswegen von mir abwenden könnte und sich eine andere sucht. Was hatte er gesagt? Er glaubt, mit mir wird es etwas Besonderes sein, nicht wie bei all den anderen. Für Tim ist Sex kein Neuland wie für mich.

      Diese Erkenntnis ist nichts für meine schwachen Nerven. Lasse ich nur eine Sekunde zu, Tim in den Armen einer anderen zu wissen, dann bleibt mir die Luft weg und etwas bäumt sich in mir wie ein Wildpferd auf.

      „Okay, wenn du meinst?“, raunt er. Aber ich sehe ihm an, wie wenig begeistert er ist. „Aber einen Abschiedskuss?“, bittet er.

      Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich bereit ist, sich auf den Deal einzulassen. Seine Augen sagen etwas anderes. Aber ich will nichts mehr, als ihn noch einmal küssen. Ein letztes Mal und dann werden wir sehen, was er bei seinem