Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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Schnitt wurde mit richtigen Stichen zusammengenäht und sieht schrecklich aus. Julian hatte meine Halsschlagader tatsächlich nur um Haaresbreite verfehlt. Gruselig! Mir kommt das Bild von Frankensteins Monster in den Sinn, dem mit ähnlichen Stichen der Kopf festgenäht worden war.

      Ich wanke zu meinem Bett zurück und klettere wieder unter die Decke.

      Christiane sitzt wieder auf dem Stuhl und hält erschüttert ihre Tasche umklammert. „Das ist ja ganz schlimm“, sagt sie kleinlaut. „Du Arme!“

      Ich bin auch geschockt, will das aber vor Christiane nicht zeigen. Sie ist noch weißer als ich und wirkt völlig verstört.

      „Ich bin selbst schuld. Ich hätte Julian nicht in die Eier treten sollen“, sage ich und will mit meinem derben Ausruf dem Ganzen die Schärfe nehmen.

      „Du hättest dabei draufgehen können“, stammelt Christiane und scheint sich gar nicht wieder einkriegen zu wollen. „Dass Julian so weit geht!“

      Stimmt! Ich hatte natürlich nicht erwähnt, dass dies sein Ziel war. Nur Tims Hartnäckigkeit hatte ihn davon abgehalten und weil er ihm nicht sagte, was er wissen musste. Und natürlich Marcel, der mich wirklich rettete.

      Eine Schwester kommt mit einer weißen Schale ins Zimmer, in der sich Verbandsmaterial und einige Flaschen befinden.

      „So, da wollen wir mal wieder einen Verband anlegen“, sagt sie und lächelt freundlich.

      Es ist nicht die, die mir das schlechte Gewissen macht und ich hoffe, die hat für heute frei.

      Das Ganze geht superschnell und tut gar nicht weh. Mir fällt ein, was der Arzt gesagt hatte.

      „Was für ein Tag ist heute?“

      „Montag“, antwortet sie und legt alles wieder in die weiße Schale zurück.

      „Der Doktor hat gesagt, er entscheidet morgen, ob ich bald gehen kann.“

      Sie nickt: „Dann kannst du Mittwoch oder Donnerstag auschecken. Möchtest du das?“

      Ich nicke. „Auf jeden Fall. Das wäre echt klasse.“

      „Nah, dann hoffen wir mal, dass das klappt.“ Sie geht wieder und ich weiß, dass ich alles dransetzen muss, dass der Arzt mit mir zufrieden ist.

      „Waaas?“, tobt Christiane los. „Du willst damit“, sie zeigt auf meinen Hals: „schon nach Hause?“

      „Wenn sie mich lassen“, erwidere ich nur.

      Langsam öffnet sich erneut die Tür und wir schauen beide, wer das sein kann.

      Eine rote Rose mit weißem Schleierkraut und einem roten Stoffherzen, schön in Folien eingeschlagen und mit rotem Schleifenband verziert, schiebt sich als erstes durch die Tür. Dann folgt breit grinsend Marcel.

      Ich werfe verunsichert einen schnellen Blick in Christianes Richtung, die eigentlich nicht weiß, dass Marcel und ich hier als Paar gelten. Ich hatte es noch nicht erwähnt.

      Ihre Kinnlade macht sich gerade wieder selbstständig.

      Marcel kommt an mein Bett und beachtet Christiane gar nicht. „Hey, wie geht es dir, Süße?“ Er legt eine Hand auf meine Wange und küsst mich auf den Mund.

      „Besser“, antworte ich ihm, als er wieder von mir ablässt. Ich freute mich wirklich, ihn zu sehen und ich liebe seine Art, mit mir umzugehen. Er ist so ruhig und sanft. Und ich bin unendlich froh, dass ich so empfinde. Nach Tim war ich mir den ganzen Nachmittag nicht sicher gewesen, wie ich mich Marcel gegenüber verhalten werde.

      Er gibt mir die Rose und haucht mir ein „Ich liebe dich!“ zu, dass Christiane bestimmt nicht überhört hat.

      „Danke!“, antworte ich ihm peinlich berührt, weil er seine Gefühle immer wieder vor mir ausbreitet, und nehme die Blume entgegen. „Das ist so lieb von dir.“

      Es ist unglaublich, wie lieb und gefühlvoll Marcel ist und ich muss an Tim denken und seine übersprudelnde Art.

      Ein Blick zu Christiane zeigt mir, dass sie immer noch mit ihrer Kinnlade kämpft.

      „Kannst du mir eine Vase holen?“, spreche ich sie an und sie steht auf, als hätte ich einen Knopf an einer Fernbedienung gedrückt, der sie den Befehl ausführen lässt.

      „Ich gehe schon“, sagt Marcel und kommt ihr zuvor. Er verschwindet durch die Tür auf den Gang, um den Schrank mit den Vasen zu suchen.

      Christiane lässt sich wieder auf den Stuhl fallen und findet auch ihre Sprache wieder. „Das ist doch wohl eher der Grund, warum du mit Tim nicht zusammen sein kannst. Das ist echt voll krass! Seit wann seid ihr beiden denn zusammen?“

      „Naja, eigentlich erst seit gestern. Du weißt doch, dass Marcel die Polizei zu dem Labor geführt hat. Er hat mich da rausgetragen und ins Krankenhaus begleitet. Scheinbar hat er auch die ganze Zeit an meinem Bett verbracht. Ich habe das erst gestern richtig mitbekommen. Ich war wohl manchmal wach, habe aber nichts richtig gecheckt. Und dann hat er gestern …“ Weiter komme ich nicht. Marcel gleitet wieder ins Zimmer zurück und holt aus dem Badezimmer noch Wasser, kommt zum Bett und stellt die Rose in die Vase.

      „So schön!“, beteuere ich nochmals und nehme seine Hand, um ihn auf meine Bettkante zu ziehen. Es ist komisch. Ich will ihn glücklich sehen und ihm meine Zuneigung zeigen. Ist das mein schlechtes Gewissen oder der Drang, dem Konter zu bieten, was vielleicht in mir haust und mich in Tims Arme treibt.

      Christiane sitzt nur da und starrt uns an, als wären wir Geister.

      Marcel lässt seine Augen unaufhörlich über mein Gesicht gleiten und ich werde nun doch etwas nervös, mir meiner Defizite bewusst. Ich sehe immer noch so schrecklich aus.

      „Ich habe dich so vermisst“, raunt er und gibt mir noch einmal einen Kuss. Christiane ignoriert er dabei erneut völlig.

      „Ich dich auch“, sage ich und kann nicht verhindern, dass mein Blick zu Christiane abschweift.

      Die hat sich wieder im Griff, kneift die Lippen aufeinander und nickt mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck, als wolle sie sagen: „Ja klar! Ganz doll hast du ihn vermisst.“ Zu meinem Glück sagt sie aber nichts. Sie setzt sich nur zurück und sieht uns an, als wären wir Schauspieler in einer Daily Soap, in der die nächste Intrige nicht lange auf sich warten lässt.

      „Ich kann vielleicht am Mittwoch schon gehen“, versuche ich ein Gespräch in Gang zu bringen.

      „Mittwoch?“, sagt Marcel mit leuchtend Augen. „Das ist ja super! Ich werde mir freinehmen und dich dann abholen. Weißt du schon wie spät?“

      So weit ist es eigentlich noch gar nicht. Aber dass er sich sofort bereit erklärt, mich abzuholen, ist wieder typisch.

      „Weiß ich noch nicht. Das ist auch noch nicht ganz sicher.“

      Marcel nickt nur verstehend. „Wäre aber wirklich schön.“

      Ich ziehe Christiane mit ins Gespräch, um der ganzen Situation etwas Normalität abzuringen.

      „Was sagen die anderen, weil ich nicht da bin? Weiß jemand, was passiert ist, und dass ich im Krankenhaus bin und Julian im Gefängnis?“

      „Ne, nicht wirklich. Zumindest hat noch keiner etwas gesagt. In der Zeitung stand zwar etwas von einem Übergriff auf zwei Jugendliche, die mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Aber keiner weiß, um wen es sich handelt und ich habe nichts gesagt, weil die Polizei mir das verboten hat.“

      Ich sehe sie groß an. Diese Auflage muss ihr schwer zu schaffen machen.

      Nun schaltet Marcel sich ein und berichtet von einer Ausführung der Geschichte, die im Internet steht. Wir versuchen zu ergründen, was man mit mir und Julian in Verbindung bringen kann. Da wir aber Ferien haben, fällt es ja nicht weiter auf, dass wir nicht mit Anwesenheit glänzen. Schließlich könnten wir auch im Urlaub sein.

      Die Tür öffnet sich erneut und eine Schwester sieht ins Zimmer. Sie weist freundlich darauf