Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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vergiss das mit diesem Marcel. Er ist es nicht … und du wirst ihm niemals die gleichen Gefühle entgegenbringen wie mir. Das war eben offensichtlich. Wir sehen uns, wenn du aus dem Krankenhaus raus bist. Warte einfach auf mich.“ Er beugt sich schnell vor und küsst mich auf den Mund.

      Bevor ich reagieren kann, lässt er mich los. Mit wenigen Schritten ist er bei der Tür und ich sehe ihm nur entgeistert hinterher. „Schlaf gut! Schatz!“, flüstert er leise, da er an der Tür Gefahr läuft, von draußen gehört zu werden. Dabei betonte er überheblich das Wort „Schatz“. Er öffnet die Tür, sieht kurz hinaus, ob die Luft rein ist, wirft mir einen Handkuss zu und geht.

      Ich sitze nur mit zusammengepressten Lippen und völlig außer mir da. In meinem tiefsten Inneren spüre ich zwar das leichte Kribbeln, das seine Worte ausgelöst haben, aber meine Oberfläche schwört sich in diesem Moment Kurt Gräblers Fluch über uns niemals gewinnen zu lassen.

      Ich lasse mich in mein Kissen sinken und höre mein Herz immer noch bis zum Hals schlagen. Was war das für ein idiotisches Telefongespräch. Habe ich tatsächlich gerade Marcel gesagt, dass er bis zum Wochenende bei mir bleiben kann? Und habe ich ihn damit nicht sogar wieder in seinen Gefühlen bestärkt?

      Oh Mann! Tim weiß gar nicht, was wirklich bei diesem Gespräch gesagt wurde. Ich höre Marcel fragen: „Kann ich bei dir bleiben? Bis zum Wochenende?“

      Habe ich wirklich Ja gesagt? Da werde ich mir noch etwas einfallen lassen müssen, um diesen Ausspruch wieder ungültig zu machen. Außerdem muss ihn mein Gesäusel glauben lassen, er wäre mein Ein und Alles. Verdammt!

      Und Tim? Der dreht jetzt völlig durch. Erst schleicht er sich in mein Bett und will mit mir schlafen und dann haut er mir um die Ohren, dass er es auf alle Fälle sein wird und niemand sonst.

      Ich ziehe die Decke bis unter mein Kinn und spüre augenblicklich das Kribbeln in meinem Körper, das Tim in mir ausgelöst hatte, als er mich so berührte. Ich stöhne auf und drücke meine Hand auf die heiße, feuchte Stelle, die er mit seinem Finger bearbeitet hatte. Verdammt!

      Energisch ziehe ich die Hand zurück und drehe mich auf die Seite.

      Wir dürfen das nicht tun. Tim sagte selbst, dass auch er glaubt, dass unsere Gefühle von dem Alchemisten ausgelöst werden. Er hatte es zugeben. Er weiß es!

      Das wird keine gute Nacht. Was ist, wenn ich wirklich nichts gegen das Vermächtnis des Alchemisten tun kann? Tim scheint es drauf ankommen lassen zu wollen.

      Einerseits will alles in mir sich Tim hingeben und andererseits ist da eine Angst, die mich daran hindert, dem nachzugeben. Ich bin hin und her gerissen und weiß eins ganz genau: ich will nicht so enden, wie all die anderen Frauen.

      Irgendwann nach Mitternacht klingele ich völlig verzweifelt nach der Schwester und lasse mir wieder das Schlafmittel geben. Ich jammere, dass ich nur zu Hause schlafen kann und deswegen unbedingt bald nach Hause muss. Damit hoffe ich, wird man mir meinen Heimgang nicht streichen, wenn ich am nächsten Tag aussehe wie ausgespuckt.

      Aber auch mit dem Schlafmittel sind Tim und Marcel meine letzten Gedanken … und Kurt Gräbler. Dass Tim plötzlich so umgeschwenkt war, verunsichert mich sogar bis in den Schlaf hinein. Er muss etwas wissen, das er mir allerdings erst bei unserem nächsten Treffen sagen will.

      Unser nächstes Treffen …

      Ich sehne mich danach genauso, wie ich es fürchte. Was wird dann geschehen?

      Ich weiß es nicht.

      Am nächsten Tag, ich habe wieder einmal versucht meinen Kopf in Waschposition zu bringen, geht es mir dementsprechend schlecht. Ich ahne, dass es heute nicht gut für mich aussieht.

      Die Visite verläuft dann auch für mich erfolglos. Man vertröstet mich auf die Entscheidung des Oberarztes am Abend.

      Kurz nach Mittag kommen meine Eltern vorbei. Meine Mutter ist diesmal gefasster. Ich habe das Gefühl, dass mein Vater sie bearbeitet hat. Aber kurz nach ihnen betreten zwei Beamte in Zivil mein Zimmer. Sie stellen sich meinen Eltern und mir vor.

      „Polizeioberwachtmeister Krämer und Polizeiwachtmeister Edding. Wir würden gerne ihre Tochter Carolin über den Vorfall am vergangenen Donnerstag befragen. Sie kann ihre Aussage natürlich verweigern, wenn sie nicht gegen ihren Bruder aussagen möchte.“

      Meine Mutter setzt sich wie zu meinem Schutz auf mein Bett und sieht die Herren groß an, die ihre Dienstmarken wieder einstecken.

      „Ich finde nicht, dass sie etwas sagen soll. Oder?“ Sie sieht meinen Vater an, der nur brummt, dass irgendjemand aber sagen muss, was passiert ist.

      Ich sehe von einem zum anderen und bin wieder völlig überfordert.

      „Haben Sie Tim, den anderen Jungen, der dabei war, schon verhört?“, frage ich und meine Stimme zittert leicht. Ich weiß Tims Nachnamen nicht, obwohl ich ihn einmal bei einer der Schwestern gehört hatte.

      „Da kommen wir gerade her. Er wird jetzt mit seinem Vater nach Hause fahren.“

      Okay! Ich bin mir sicher, dass sie mir nicht sagen werden, was er ausgesagt hat. Aber mir ist klar, dass er bestimmt nicht viel Gutes über Julian von sich gab. Ob er wohl von Kurt Gräbler und unseren Träumen gesprochen hat und warum Julian das Ganze machte? Ich ärgere mich, dass wir nur uns und unsere Gefühle im Kopf hatten und kein Wort darüber verloren haben, was wir in genau diesem Fall sagen sollen.

      „Ich werde Ihnen alles erzählen, was ich weiß“, raune ich und sehe in das weiße Gesicht meiner Mutter. Sie wird nie wieder glücklich werden, wenn ich Julian des versuchten Mordes bezichtige. Also beginne ich von ihm und seinen Experimenten zu erzählen, bei denen er sich mehr als einmal verletzte und lasse durchscheinen, dass er sich vielleicht auch manchmal mit irgendwelchen schlimmen Dämpfen fast um den Verstand brachte, wenn wieder einmal ein Experiment schiefging. Dass er irgendwelche Tabletten einnahm, möchte ich nicht erwähnen, weil ich davon nichts Genaues weiß. Das sollen Mama und Papa entscheiden, ob sie das zu Protokoll geben.

      „Naja, und so war es dann auch wohl kurz vor seinem Ausraster“, erzähle ich weiter, während einer der Beamten an dem kleinen Tisch an der Wand alles auf einem Laptop mitschreibt.

      „Er mochte nicht, wenn ich mich mit Jungen traf. Außer mit seinem Freund Marcel. Und als er mich mit Tim sah, wurde er sehr wütend. Darum schleppte er ihn in das Labor …“ Von dem beabsichtigten Unfall mit dem Auto sage ich nichts. Das ist etwas, das ich ja nicht zwangsläufig wissen kann. „… und mich auch, um uns Angst zu machen. Er wollte halt nicht, dass wir uns weiter treffen. Er schlug Tim, damit er sagt, dass er mich nie wiedersehen wird und ich beschimpfte ihn so schlimm, dass er ausrastete und nach dem Messer griff. Er wollte Tim und mir eigentlich nur Angst machen, aber ich war so wütend und trat ihm zwischen die Beine. Dabei rutschte Julian mit dem Messer aus und schnitt mich. Er verband mich aber sofort und dann kam die Polizei und holte uns aus dem Labor.“

      „Marcel Blum ist der junge Mann, der die Polizei verständigte und zu dem Labor führte? Hat er auch in diesem Labor experimentiert?“

      Ich meinem Magen dreht sich alles. Auf Marcel soll auf gar keinen Fall ein schlechtes Licht fallen. „Nein, er wusste von dem Labor nur von mir.“

      „Und Sie waren oft in diesem Labor?“

      „Nein, nur einmal. Ich hatte durch Zufall gesehen, dass Julian auf dieses Grundstück fuhr und folgte ihm neugierig. Als er dann beim Fußballspielen war, ging ich in das Labor, um zu sehen, womit Julian immer seine Zeit verbringt.“

      „Und wer entdeckte das Labor auf Ihrem Grundstück?“

      Ich sehe von meiner Mutter zu meinem Vater. Mir hätte klar sein müssen, dass das Labor von Kurt Gräbler nun kein Geheimnis mehr ist.

      „Da ist eine Leiche drin“, sage ich leise.

      „Der Leichnam von Kurt Gräbler wurde geborgen und obduziert. Nächste Woche wird er beigesetzt. Wussten Sie schon länger von dem Toten?“

      Ich nicke nur und sehe auf meine Hände, die