Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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ist klar, dass mein Vater damit nicht zurechtkommt. Aber ich bin 17 Jahre alt und da ist es verständlich, dass ich irgendwann in nächster Zeit einen festen Freund haben werde, der auch mal bei mir schläft.

      Ein erschreckender Gedanke schießt mir durch den Kopf. Ich drehe mich zu Marcel um, weil mir erst jetzt klar wird, was er eigentlich meinen Eltern gesagt hatte. Er wird heute Nacht bei mir schlafen und wenn sie das nicht erlauben, dann nimmt er mich mit zu sich. Sie müssen denken, dass wir miteinander schlafen wollen. Was sonst tuen junge Leute zusammen, wenn sie sich ein Bett teilen?

      Mir versagen fast die Beine.

      „Carolin, ist alles in Ordnung?“, fragt Marcel und sieht mich verdattert an. „Du wirst so blass.“

      „Geht schon“, murmele ich nur und gehe ohne ein weiteres Wort die Treppe zu meinem Zimmer hoch.

      „Carolin?“, höre ich meine Mutter irritiert rufen.

      „Ich kümmere mich um sie. Das ist alles noch ein wenig zu viel“, höre ich Marcels dunkle Stimme und gehe auf mein Zimmer zu. Als ich die Tür öffne, scheint mir durch das Fenster heller Sonnenschein entgegen. Das Zimmer ist aufgeräumt und das Bett frisch bezogen.

      Augenblicklich geht es mir besser. Ich liebe diesen Raum und er ist meine Zuflucht vor der Welt da draußen.

      Langsam schlurfe ich zu meinem Sofa und lasse mich darauf fallen.

      Marcel kommt ins Zimmer, stellt meine Tasche an die Seitenwand und sieht sich um. Er kennt meinen Zufluchtsort noch nicht.

      Verlegen lächelt er mich an, kommt zu mir und setzt sich neben mich. Vorsichtig schiebt er seinen Arm um mich und zieht mich an sich. „Hey, mein Schatz. Was ist denn plötzlich los? Es ist doch alles okay. Ich bin doch bei dir.“

      Er hat recht. Was ist mit mir los? Auch wenn er heute Nacht bei mir bleibt, warum erfasst mich deswegen Panik? Er wird nichts von mir verlangen, was ich ihm nicht freiwillig geben will. Er ist Marcel und nicht Tim! Und es wäre ja nicht die erste gemeinsame Nacht und im Krankenhaus hatten wir auch oft zusammen auf dem Bett gelegen und uns nicht nur im Arm gehalten. Marcel hatte mich dabei immer tiefer in einen See von Gefühlen gezogen, der immer mehr überzulaufen drohte. Seine Küsse und Berührungen brachten mich oftmals ganz schön ins Schwitzen, wenn er auch nicht das getan hatte, was Tim schon mit mir tat.

      Ich will doch mehr von Marcel. Warum macht mich das jetzt so nervös?

      „Es geht schon wieder. Ich muss mich nur ein wenig erholen“, seufze ich und lasse mich ganz in seinen Arm fallen. Wovor habe ich eigentlich solche Angst?

      Meine Mutter will an diesem Tag tatsächlich ein richtiges Essen kochen. Sie kam in mein Zimmer, um uns das mitzuteilen und sah mich und Marcel auf dem Sofa sitzen, dicht aneinandergeschmiegt. Sie hat deswegen sogar gelächelt.

      Da sie selbst etwas kocht, bereite ich Marcel darauf vor, dass dies ein fragwürdiges Erlebnis werden kann. Er sieht das gelassen und ich bin von seiner ruhigen, ausgeglichenen Art wieder beeindruckt. Sie ist imstande, über uns ein weiches Tuch zu legen, das mein unruhiges Innere immer mehr besänftigt.

      Es geht mir langsam wieder besser. Der erste Schock, dass ich ernsthaft meinem ersten Mal entgegensehe, ist überwunden. Marcel kümmert sich rührend um mich und ist eher zurückhaltend mit Zärtlichkeiten. Irgendwann sorgt er dafür, dass ich mich lang auf dem Sofa ausstrecke und mich ausruhe, während er meine Tasche ausräumt und mein Handy ans Ladekabel legt.

      Nun kniet er sich vor mein Sofa. „Ich hole dir was zu trinken. Was magst du?“, fragt er und ich bitte um ein Glas Wasser.

      Er schlüpft durch die Tür aus dem Zimmern und ich höre ihn die Treppe hinunterpoltern.

      Unschlüssig stehe ich auf und finde mich an meinem Handy wieder. Ich muss es erst einschalten und den Pin eingeben, bevor es wieder zum Leben erwacht und mit einem schrillen Ton eine ankommende SMS ankündigt. Sie ist von Christiane. Nicht von Tim. Dabei hat er doch meine Nummer.

      Statt Christianes SMS zu öffnen, zieht mich etwas zu meiner Jacke und ich greife in die Tasche. Ein zerknüllter Zeitungsabschnitt, von dem mich eine Nummer anlacht, kommt zum Vorscheinen. Tims Telefonnummer. Ich vergleiche sie mit der, die ich bei unserem zweiten Treffen an der Wanderhütte in mein Handy abgespeichert hatte. Es ist dieselbe. Also muss Tim noch das gleiche Handy haben.

      Die Hoffnung, dass Tim sich nicht bei mir gemeldet hat, weil er ein neues Handy mit neuer Nummer hat, auf dem meine Nummer nicht vorhanden ist, stirbt somit. Mein Herz beginnt beunruhigt zu pochen und ich werfe einen Blick zur Tür. Schnell schreibe ich Tim eine SMS.

      „Ich bin zu Hause und es geht mir gut. Wie geht es dir?“

      Die Tür geht auf und Marcel kommt mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser herein. Er ist länger weg gewesen, als nötig und ich denke mir, dass er erneut mit meinen Eltern gesprochen hat.

      „Christiane hat mir geschrieben. Ich schreibe ihr eben zurück“, sage ich schnell.

      Marcel nickt und stellt die Gläser auf den Schreibtisch, um sie mit Mineralwasser zu füllen.

      Mir fällt es schwer, Christiane zu schreiben, weil ich gar nicht weiß, was ich ihr mitteilen sollte. „Bin zu Hause. Marcel ist bei mir. Wir telen Montag“, schreibe ich in Windeseile.

      Ich mache das Handy wieder aus, um Antworten nur dann lesen zu können, wenn ich allein bin und lege es beiseite.

      Marcel lächelt mir entgegen und mein erneut aufgewühltes Innere beruhigt sich allmählich wieder. Er hat eine beschwichtigende Wirkung auf mich, die mir immer wieder guttut.

      Jetzt steht er lächelnd da und wartet darauf, dass ich zu meinem Sofa zurückkehre, damit er mir mein Glas Wasser reichen kann, bevor er neben mir Platz nimmt. Ich bin gerne mit ihm zusammen und wenn es nicht diese unglaublich heftige Zuneigung zu Tim gäbe, dann wäre ich mir sicher, Marcel auch wirklich lieben zu können. Da ich und Tim aber nie zusammenkommen dürfen, werde ich mit Marcel zusammen sein und wahrscheinlich auch mit ihm schlafen … irgendwann.

      Dennoch habe ich Tim gerade geschrieben … heimlich, als wolle ich fremdgehen.

      Ich sollte mich wirklich auf das konzentrieren, was offensichtlich besser für mich ist.

      Marcel legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich. Ich sinke tief seufzend an seine Brust und beschwöre das Gefühl herauf, froh zu sein, weil er bei mir ist. So soll es bleiben. Ich will mit ihm glücklich sein.

      Marcel strahlt eine unglaubliche Ruhe aus und verlangt nichts. So sitzen wir auf dem Sofa und meine anfängliche Unsicherheit und mein Unwohlsein legen sich in dem starken Arm, der mich umfangen hält. Seine Hand umschließt meine und sein Gesicht liegt in meinen Haaren und ich spüre seinen warmen Atem, der meine Haare leicht verwirbelt. Aber ansonsten bleibt Marcel zurückhaltend und wir hängen beide unseren Gedanken nach.

      Meine wandern erbarmungslos wieder zu Tim. Warum hat er sich die letzten Tage nicht einmal gemeldet? Waren seine Worte von Zusammengehörigkeit nur leeres Geschwätz? Ich fühle mich von ihm wie betrogen und versetzt. Es schmerzt mich und macht mich wütend, weil er mir so viel versprochen hatte. Damit weckte er in mir eine Sehnsucht und Hoffnung, dass wir wirklich zusammengehören, und es nichts mit dem Alchemisten zu tun hat.

      Aber was ich auch versuche, ich kann das Gefühl, mit ihm zusammen sein zu wollen, nicht unterdrücken.

      Aufgebracht setze ich mich auf und sehe Marcel an, der mich mit seinen grauen Augen mustert. „Alles in Ordnung?“, fragt er verunsichert und ich nicke. Aber ich kann nicht mehr ruhig sitzen. Der Gedanke, dass Tim mich abgeschrieben hat, erschüttert mich und nimmt mir die Luft.

      „Komm, lass uns Essen gehen“, murre ich und ziehe ihn vom Sofa.

      Scheiß was auf Tim. Ich habe doch Marcel und er ist alles, was ich will. Fertig.

      Meine Eltern sind beim Essen wie ausgewechselt. Sie verhalten sich wieder normal und außer dem gar nicht so üblen Essen ist es wie in alten Zeiten, bloß mit Marcel an meiner Seite, statt Julian.

      „Was