Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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T-Shirt gleiten und spüre seine heiße Haut und seine Muskeln. Seine Hand läuft über meinem Bauch und ich fühle, wie sie mich sanft streichelt.

      Tim ist vergessen.

      Es ist Marcel, der mein T-Shirt wieder an seinen Platz zieht und sich aufsetzt. „Jetzt ist Schluss! Wir müssen auch ein bisschen an deinen Zustand denken.“ Er lächelt mich an und seine Stimme hat wieder diesen Unterton, den ich mittlerweile liebe.

      Ich bin völlig verwirrt davon, dass er dem Ganzen ein Ende setzt und sich Gedanken um meinen Zustand macht. Ich hatte den völlig vergessen und Marcel zu stoppen war mir auch keine Sekunde in den Sinn gekommen.

      Er zieht mich aus dem Bett und gibt mir einen schnellen Kuss. „Wir gehen jetzt an die frische Luft, um wieder etwas klarzuwerden.“

      Ich muss lachen. „Zum Klarwerden oder zum Abkühlen?“

      Aus meinem Schrank fische ich eine kurze Hose und tausche sie gegen meine lange, ohne Marcel anzusehen, der sich irgendwann abgewandt haben muss und aus dem Fenster sieht.

      „Fertig!“, rufe ich und er dreht sich zu mir um.

      „Gehen wir.“ Er nimmt meine Hand und zieht mich aus dem Raum, die Treppe hinunter und aus der Eingangstür hinaus in den Sonnenschein. Es ist warm und strahlend blauer Himmel lässt alles klar und wunderschön aussehen.

      Mir kommt in den Sinn, dass ich das alles fast nicht mehr hätte sehen können, wenn der Schnitt mit dem Messer nur ein wenig tiefer gegangen wäre.

      Wir gehen über den Hof, an dem Speicher vorbei, in den Garten. Ohne zu zögern, ziehe ich Marcel über den Rasen zu der Stelle, an der Kurt Gräblers Labor war. Der Rasen weist Reifenspuren auf, die sich quer durch unseren Garten ziehen.

      Mein Vater muss uns gesehen haben und folgt uns. „Sie haben gestern Erde in das Loch geschüttet. Es war wohl einsturzgefährdet. Nun ist alles vorbei.“ Er klingt erleichtert.

      Ich sehe auf die dunkle Erde, die das Viereck ausfüllt, das vorher mal der Eingang mit der Pelikantür gewesen war. Vielleicht ist wirklich alles vorbei. Ich habe keine Albträume mehr. Ist die alchemistische Macht gebrochen?

      Als wenn es mich für den Wunsch strafen will, fällt mir Tim ein. Er hat vielleicht mittlerweile auf meine SMS geantwortet.

      „Ich gehe mal auf die Toilette. Ich bin gleich wieder da“, raune ich Marcel zu, von einer plötzlichen Unruhe ergriffen.

      Er hält mich fest und gibt mir einen Kuss.

      Vor meinem Vater habe ich damit immer noch ein kleines Problem und der Blick meines Vaters sagt mir, dass er auch eins damit hat.

      Marcel hingegen lächelt mich nur an und zwinkert mir zu. Ihm scheint völlig bewusst zu sein, was er meinem Vater damit antut, jetzt, wo wir nicht mehr im Krankenhaus sind, sondern als wirkliches Paar das normale Leben meistern wollen.

      Langsam schlendere ich durch den Sonnenschein zum Haus zurück. Zwei unserer Katzen liegen auf der Terrasse im Schatten der Engelstrompete, die etwas durstig aussieht. Am Abend wird mein Vater sie gießen müssen. Es ist sowieso verwunderlich, dass sie die Urlaubszeit meiner Eltern überlebte. Ich hatte sie nicht einmal gegossen. Aber es hat auch ein paar Mal geregnet, was wohl ihr Leben rettete.

      Als ich außer Sichtweite bin, werden meine Schritte unweigerlich schneller und als ich in meinem Zimmer stehe und das Handy in meiner Hand spüre, werde ich richtig nervös.

      Aber es ist doch nur eine SMS, die mich erwartet. Mehr nicht.

      Ich schalte das Handy an und gebe den Pin ein. Dann warte ich. Aber es tut sich nichts.

      Ich lege es nachdenklich zur Seite. Vielleicht dauert es nur etwas länger bis eine Datenübertragung stattfindet, beruhige ich mich. Vielleicht sollte ich erst ins Badezimmer gehen und danach noch mal schauen.

      Meine Füße tragen mich ins Badezimmer, aber in meinem Kopf rotieren die Gedanken. Aus dem Spiegel sieht mich eine Gestalt an, die mich erschreckt. Meine Haare hängen kraftlos an meinem Kopf herunter und der Verband wirkt wie eine graue Halskrause. Meine Stimmung sinkt ins Bodenlose.

      Nach einem Handtuch greifend, muss ich dem Abhilfe schaffen.

      Ich wickele es über den Verband und stelle mich ans Waschbecken, mit dem Kopf unter den Wasserhahn gebeugt. Vorsichtig lasse ich Wasser über meine Haare rieseln und wasche sie eilig mit Schampon, um es wieder abzuspülen, bevor jemand mich bei der Aktion überraschen kann. Der Verband wird trotzdem nass. Aber ich fühle mich schon besser.

      Schnell kämme ich mich und föhne grob die Haare durch. Den Rest wird die Sonne erledigen müssen. Aber ich schwöre mir, dass am Abend eine Dusche fällig ist.

      Nun kehre ich in mein Zimmer zurück. Aber ich habe Angst. Wenn ich von Tim immer noch keine SMS bekommen habe, wird das meine Stimmung wieder in Untiefen fallen lassen. Das darf nicht sein. Es muss jetzt eine Antwort auf mich warten.

      Aber als ich das Handy in die Hand nehme, ist immer noch keine Nachricht von ihm drauf.

      Ich schalte es aus und werfe es auf den Schreibtisch. Vielleicht ist er auch nur zu sehr mit seinem Vater beschäftigt? Das wäre doch eigentlich gut. Sie haben schließlich viel nachzuholen.

      Aber ich muss zugeben, dass ich wütend bin. Draußen wartet Marcel auf mich und ich hänge am Handy, wie ein Junkie, und warte auf eine SMS von Tim, wie auf meine Droge. Wie dumm ist das? Wie blöd bin ich eigentlich?

      Ich schüttele den Kopf und gehe in den Garten zurück.

      Marcel hat uns zwei Liegestühle in den Schatten der Pflaumenbäume gestellt und liegt ausgestreckt und seine Kappe tief ins Gesicht gezogen wie schlafend da.

      Ich gehe zu ihm und lege mich in den anderen Liegestuhl.

      Er wendet mir den Kopf zu und lugt unter seiner Kappe hervor. „Alles okay?“

      Ich nicke und schließe die Augen.

      „Deine Haare sind nass“, stellt Marcel fest.

      „Ich habe sie gewaschen. Sie sahen schrecklich aus“, antworte ich ein wenig zu barsch und spüre Marcels verunsicherten Blick. Ich kann mir denken, dass er meinen Stimmungswechsel gar nichts versteht. Wie soll er auch?

      Aber er lässt es auf sich beruhen und ich bin froh, mich einfach meinen Gedanken hingeben zu können, die sich ausschließlich um Tim drehen.

      Am Abend holt uns Marcel eine Pizza. Meine Eltern sind bei den Nachbarn, die einen Geburtstag feiern, auf dem sie nicht fehlen können. Das Ganze ist seit Monaten geplant gewesen.

      Mich würde interessieren, wie weit unsere Nachbarn über die Geschehnisse bei uns Bescheid wissen. Aber ich denke, sie wissen nichts von Julians Urlaub hinter Gittern. Ich kenne meine Eltern zu gut und kann mir nicht denken, dass sie jemanden hinter das wacklige Gerüst unserer Familie schauen lassen.

      Marcel und ich machen nach dem Essen, das wir draußen auf der Terrasse genossen haben, einen Spaziergang durch den kleinen Wald, der an das Feld angrenzt, das wiederum unseren Garten begrenzt.

      Marcel hatte mir am Nachmittag viel von seiner Arbeit als Werkzeugmechatroniker erzählt und wie das mit dem Schichtbetrieb abläuft. So erfuhr ich, dass er in der nächsten Woche Frühschicht hat. Wir hatten uns auch über die neue Schule unterhalten, die ich nun besuchen werde und was ich für einen beruflichen Werdegang einschlagen möchte. Mir wurde da das erste Mal klar, dass ich nun, ohne Kurt Gräbler und seinem Fluch im Nacken, mich auf das wirkliche Leben konzentrieren muss. Ich habe keinerlei Ausreden mehr.

      Während wir Hand in Hand durch das Waldstück schlendern, erzählt mir Marcel von seinen Zukunftsplänen. Es gibt so viele Orte, an die er reisen will und er will eine eigene Wohnung mit einem schönen Balkon oder einem kleinen Garten haben und einen Hund.

      Alle seine Ausführungen tragen kein „ich“ mehr, sondern nur noch ein „wir“.

      Es ist schön, so klar in seinem Leben bestand zu haben. Es beruhigt mich und gibt mir ein Gefühl von Ewigkeit. Zumindest von seiner Seite.