Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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bin wütend auf ihn, und das öffnet mich voll und ganz Marcel. Was soll ich mit einem unzuverlässigen, treulosen, verlogenen Tim, wo ich Marcel an meiner Seite habe?

      Der bleibt plötzlich stehen und dreht mich zu sich um, damit er mir in die Augen sehen kann. „Stimmt irgendwas nicht? Du bist manchmal gar nicht anwesend.“

      Ich erschrecke. Merkt man mir das so an oder ist Marcel einfach nur extrem aufmerksam?

      „Nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin vielleicht etwas irritiert, weil du mich so lieb in dein Leben einbaust, als wären wir schon ewig zusammen.“

      Das ist nicht gelogen. Wenn es auch nicht der wirkliche Grund ist, warum sich meine Gedanken so oft auf Wanderschaft begeben.

      Marcel sieht mich groß an. Seine Hände halten meine Oberarme umfasst, als hätte er Angst, ich könnte ihm davonlaufen. „Oh! Ähm! Dir ist das vielleicht nicht klar, aber du bist auch schon lange in meinem Leben präsent. Nur ich war es nicht in deinem. Und das vergesse ich manchmal. Tut mir leid.“ Ein Schleier zieht sich über sein Gesicht und ich spüre durch seine warmen Hände seine Anspannung. „Wenn ich dir zu schnell bin, sag es mir. Hau mir eins drüber. Sag mir, ich soll die Schnauze halten oder sonst was“, braust er plötzlich auf. „Ich bin nur so froh, dass wir endlich zusammen sind und du mir auch etwas Zuneigung entgegenbringst, dass ich am liebsten alles auf einmal tun möchte, um dich auch ein wenig glücklich zu machen. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann.“

      Den letzten Satz presst er leise und resigniert zwischen den Lippen hervor.

      Mir war natürlich nicht klar, wie es in ihm aussieht. Ich bin immer viel zu beschäftigt mit meinem Gefühlsleben und Tim.

      Verdammt! Ich verabscheue mich dafür und mein Blick in Marcels Augen verstärkt das Gefühl noch.

      „Hör mal“, beginne ich mit einem schlechten Gewissen zu erklären. „Du weißt ja, was ich alles hinter mir habe und ich denke, das zerrt noch an mir. Tief in meinem Inneren. Aber wenn ich einen Streif am Horizont sehe, dann bist du der. Wenn ich wieder Hoffnung auf ein normales Leben habe, dann mit dir. Und wenn ich wieder innerlich zur Ruhe komme und mich nicht mehr so abgewrackt fühle, dann durch dich. Ich habe mich wirklich in dich verliebt und wenn ich manchmal auch etwas komisch bin, dann ignorier das bitte“, sage ich leise.

      Manometer! Mittlerweile bin ich doch überrascht, was ich so hervorbringen kann. Da könnte man ja meinen, ich hätte eine romantische Ader. Christiane würde sich vor Lache nicht mehr einkriegen und sich fragen, wo die alte Carolin geblieben ist.

      Marcels Augen fangen zu leuchten an und sein Gesicht verliert alle Traurigkeit und Wut, die es in seinem Leben jemals gespeichert hatte. Ich erschrecke fast vor diesem Wandel. Er zieht mich in seine Arme und haucht ein: „Ich liebe dich auch. Mehr als alles auf der Welt“, und küsst mich mit einer Leidenschaft, die mir die Beine wegschmilzt und mein Herz bleischwer werden lässt. Denn durch meine Gedanken schiebt sich das Gesicht von Tim wie ein Mahnmal.

      Ich schlinge meine Arme um Marcel und erwidere seinen Kuss mit einer Heftigkeit, die Tim hoffentlich ein für alle Male aus meinem Kopf verbannt. Um noch eins draufzusetzen, flüstere ich: „Und wir werden heute Nacht nicht nur nebeneinander schlafen, …“ und in mir bebt alles vor Aufregung, „sondern auch miteinander.“

      Zu meiner Überraschung verschwindet Tim wirklich. Er löst sich in Nebel auf, als wäre ein Fluch gebrochen. Marcel hingegen drückt mich an sich und stammelt nur „Ja?!“

      Ich kann nur hoffen, dass ich das auch wirklich bringe und nicke nur.

      Als wir nach Hause kommen, setzen wir uns auf die Bank vor dem Speicher und besehen uns den Sonnenuntergang über dem Feld, das sich zwischen zwei Waldstücken erstreckt.

      Marcel zieht mich an sich und ich schmiege mich an ihn.

      Mir ist doch etwas mulmig wegen dem, was ich angekündigt habe und ich bereue es, meine Klappe so weit aufgerissen zu haben. Aber Marcel hat eine Art mir über den Arm zu streicheln, dass es mir ein Kribbeln im Bauch verursacht und mir eine Gänsehaut über die Haut jagt. Dazu die letzten rötlichen Sonnenstrahlen am Horizont und man kann sich nicht mehr wünschen.

      Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, dass ich heute Nacht meine Jungfräulichkeit opfern werde. Aber ich will Tim verletzen, wie er mich verletzt. Dass er sich nicht bei mir meldet, sitzt wie ein Stachel in meinem Herzen.

      So hocken Marcel und ich dichtgedrängt nebeneinander und ich gebe mich weiter Marcels Streicheleinheiten hin, den Blick fest auf die sinkende Sonne gerichtet. Eigentlich geht es mir gut und ich bin am Leben und werde noch viele solche Sonnenuntergänge genießen können. Meine Zukunft kann jetzt richtig beginnen und ich habe einen unglaublich netten, jungen Mann an meiner Seite, der mir ehrliche Gefühle entgegenbringt. Was will ich mehr?

      Plötzlich rückt Marcel von mir ab, steht auf, nimmt mich an die Hand und raunt mit seiner tiefen Stimme: „Komm!“

      Ahhhh! Ich würde lieber noch ein wenig auf der Bank bleiben. Aber Marcel zieht mich mit und ich bin froh, dass er mich nicht ansieht. Er hätte unweigerlich die Panik in meinen Augen sehen müssen.

      Er zieht mich ins Haus und zur Treppe, als ich mit einem letzten Blick durch die Eingangstür in die Freiheit registriere, dass die Sonne ganz untergeht.

      Mir wird etwas übel und ich schimpfe mich in Gedanken eine dumme Kuh und reiße mich zusammen. Vor mir geht Marcel, mich immer noch an der Hand haltend und ich habe keinen Grund, panisch zu sein. Er wird nichts wollen, was ich nicht auch will. Egal, was ich vorher großspurig verkündet hatte.

      An meiner Zimmertür dreht er sich zu mir um und sieht mich an. Mein ängstlicher Dackelblick entgeht ihm natürlich nicht. Er grinst mich an, schüttelte den Kopf fast unmerklich und zieht mich ins Zimmer. Hinter mir lässt er die Tür laut ins Schloss fallen.

      Ich zucke zusammen.

      „Poor, Schatz! Ich werde dich bestimmt hier jetzt nicht vergewaltigen“, sagt er und lacht auf. „Und wir werden nicht miteinander schlafen.“

      Statt Erleichterung macht sich Enttäuschung breit. „Warum nicht?“, raune ich, meine Stimme noch nicht ganz wiederfindend. Ich dachte, er liebt mich und jetzt will er mich nicht mal.

      Er wird ernst. „Weil du noch nicht so weit bist. Ich weiß nicht genau, was los ist, aber ich spüre deinen Widerstand. Und das geht nicht.“

      Ich starre ihn an wie den Weihnachtsmann. Womit habe ich den überhaupt verdient?

      „Vielleicht liegt es an mir oder an den Umständen oder an deinem Alter. Ich kann warten“, sagt er und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht.

      Kein Mädchen lässt sich gerne sagen, dass sie noch zu jung für etwas ist. Und die drei oder vier Jahre, die er älter ist …

      „Soso! Und du erfahrener und alter Mann weißt also, wozu ich bereit bin?“, antworte ich ihm übertrieben belustigt.

      Er sieht mich nur mit diesem ernsten Blick an. Dann winkt er ab. „Okay! Lassen wir das. Ich werde uns noch was zu trinken holen“, beendet er das Thema gnadenlos und gibt mir einen Schmatzer auf die Wange.

      Ich nicke nur, etwas irritiert.

      Als Marcel die Treppe hinunterläuft, gehe ich zu meinem Schreibtisch. Wie von einem Magnet angezogen nehme ich das Handy. Ich mache es an und gebe die Pinnummer ein. Es tut sich nichts.

      Ich stecke es in die Hosentasche und greife nach meinem Bademantel und meinem Rüschenshirt mit Rüschenhöschen, das ich diese Nacht als mein Schlafutensil erdacht habe. Es ist süß und ich habe doch noch genug an. Damit begebe ich mich zum Badezimmer. Ich muss duschen. Unbedingt!

      Marcel kommt mir auf dem Weg zum Bad entgegen. „Wo willst du hin?“, fragt er.

      Ich zeige auf meinen Bademantel: „Ich gehe eben duschen.“

      Er sieht mich seltsam an. Meint er, ich werde jetzt aus dem Fenster klettern und weglaufen?

      „Okay!“ Er lässt mich vorbei und ich gehe schnell weiter. Im Badezimmer