Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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kläre ich schon“, raunzt er, keine Widerworte duldend. „Mach dir da mal keine Sorgen. Ich rede noch mit ihnen.“

      Ich habe das Gefühl, mein weiteres Leben bestimmt jetzt ausschließlich er … und Tim.

      Erst am Samstag werde ich entlassen.

      Schon am Vormittag scheint die Sonne aus einem strahlend blauen Himmel auf uns herab, als wir in Marcels Golf Richtung Heimat fahren. Ich genieße die warme Luft, die mir durch das offene Fenster entgegenflutet. Im Auto läuft schöne Musik und als ich Marcel einen Seitenblick zuwerfe, sieht er mich lächelnd an.

      Leider ist mir nicht ganz so fröhlich zumute. Ich habe etwas Angst vor meinem Zuhause, in dem nicht nur meine Eltern warten, sondern auch die vielen Erinnerungen, das Labor von Kurt Gräbler, und das leere Zimmer von Julian.

      Irgendwie fürchte ich auch einen erneuten Ausbruch meiner Mutter, die wohl nie verkraften wird, dass Julian nicht ganz so lieb ist, wie sie meint. Sie hatte sich zwar in den letzten Tagen zusammengerissen, aber dennoch versuchte sie immer wieder herauszufinden, was Julian so verändert hat. In ihren Augen muss irgendetwas Julian dazu gebracht haben, mich und Tim anzugreifen.

      „Du machst dir Sorgen wegen deiner Eltern?“, fragt Marcel mit plötzlich ernstem Gesicht, als könne er meine Gedanken lesen.

      Ich nicke und sehe weiter aus dem Seitenfenster. Es ärgert mich, dass ich dem Ganzen nicht völlig locker und vorbehaltlos entgegentreten kann. Aber ihm war in den vergangenen Tagen nicht entgangen, dass ich mir Sorgen mache, weil meine Mutter mich irgendwie für mitschuldig hält. Zumindest glaubt Marcel, dass dies der einzige Grund ist, warum ich mich so schlecht erholte. Auch das meine Entlassung immer wieder verschoben wurde, ließ ihn denken, dass es damit zusammenhängen muss. Doch es ist weit mehr als das. Tim hat sich nicht einmal mehr bei mir gemeldet.

      Da wir immer dachten, dass ich nur noch einige Stunden im Krankenhaus bleiben muss, hatten wir nie das Telefon angemeldet, damit ich jemanden anrufen konnte. Das hielt auch keiner für nötig, weil alle mich anriefen. Christiane mehrmals täglich, wenn ihr langweilig war. Marcel, wenn er meine Stimme hören wollte, was oft vorkam. Und meine Eltern, wenn sie fragen wollten, was der Oberarzt gesagt hat.

      Nur Tim meldete sich nicht ein einziges Mal, was mich mehr mitnahm, als ich mir eingestehen wollte.

      So hatte ich noch einige Tage Verlängerung aufgebrummt bekommen.

      Trotz dem beklemmenden Gefühl wollte ich nun aber unbedingt nach Hause. Ich konnte einfach dieses Krankenhauszimmer, die nächtliche und frühmorgendliche Unruhe auf der Station und das Essen nicht mehr ertragen. Außerdem will ich mehr Zeit mit Marcel verbringen. Er hatte sich weit in mein Herz gespielt und Tim daraus verdrängt.

      Nach einer längeren Zeit der Stille bricht Marcel das Schweigen. „Ich war gestern Abend noch bei ihnen“, höre ich ihn mit belegter Stimme sagen. Mein Blick richtet sich wieder auf das ebenmäßige Profil meines Fahrers und ich hoffe mich verhört zu haben. Was wollte er bei meinen Eltern?

      Er sieht so aus, als wäre er sich nicht sicher, was nun folgt und sieht nur mit ernstem Blick vor sich auf die Straße. Schnell ziehen die Baumreihen an uns vorbei.

      „Warum?“, frage ich verdutzt.

      Marcels Finger umspannen das Lenkrad fester und er antwortet leise: „Ich war wütend, weil sie so unfair zu dir sind und wollte einiges mit ihnen klären.“

      „Einiges mit ihnen klären?“, frage ich entsetzt.

      „Ja, ich habe ihnen gesagt, dass ich dich mit zu mir nehme, wenn sie Schwierigkeiten machen.“

      Mein Kopf will nicht erfassen, was ich da höre. Das ist so verwirrend für mich, dass ich nicht mal weiß, was ich darauf antworten soll.

      „Und sie sind froh, dass ich mich um dich kümmere und aufpasse, dass es dir gut geht. Es hat schließlich auch lange genug gedauert.“ Er wirft mir einen schnellen Blick zu.

      „Was? Wie jetzt?“, frage ich verwirrt.

      Wie aus der Pistole geschossen brummt er: „Okay, ich habe ihnen halt gesagt, dass du nach der Geschichte mit Julian nicht mehr richtig schlafen kannst und schlimme Träume hast, und alles für dich zu viel ist und du deshalb so schlecht gesund wirst. Naja, und dann halt, dass ich die nächste Zeit bei dir bleiben werde, um auf dich achtzugeben oder dich mit zu mir nach Hause nehme, wenn sie mir das nicht erlauben.“

      Er hätte damit einen Preis für schnelles Reden gewinnen können.

      Ich sehe ihn nur verständnislos an. „Wie, die nächste Zeit?“, frage ich irritiert.

      „Naja, halt die nächste Zeit. Solange du es mir erlaubst“, raunt er bei meinem Blick verunsichert.

      Erst langsam geht mir ein Licht auf, und was mir da so beleuchtet wird ist nichts, was ich wirklich gut finde. Ich brauche keinen Babysitter!

      Tim fällt mir ein und dass ich ihn nicht treffen kann, wenn Marcel ständig da ist.

      Aber ich kann Marcel unmöglich sagen, dass ich nicht will, dass er an mir hängt wie eine Klette.

      „Ich brauche doch keinen Schutz oder so. Ich komme schon klar!“, blaffe ich ein wenig zu entrüstet.

      Er sieht weiter auf die Straße und dennoch sehe ich den traurigen Schleier, der sich über seine Augen legt. Aber er nickt, als wäre er darauf gefasst gewesen. Einige Zeit fahren wir schweigend weiter.

      Ich kann nicht anders. Dieser Blick von ihm schmerzt mich. Ich will nicht, dass er unglücklich ist. „Aber wenn du meine Eltern schon um den Finger gewickelt hast … heute lasse ich dich eh nicht mehr weg. Morgen Abend sehen wir dann, was wird“, sage ich und hoffe, er wird wieder lachen können. Ich bin es ihm schließlich irgendwie schuldig und außerdem will ich heute nicht allein in diesem Haus und mit meinen Erinnerungen sein. Er hatte mich schon einmal mit seiner Nähe so beruhigt, dass ich schlafen konnte. Das war in der Nacht bei ihm zu Hause.

      Erst reagiert Marcel gar nicht. Aber dann sehe ich ein verstecktes Lächeln in seinen Mundwinkeln und seine Augen leuchten, während er seinen Blick weiter auf die Straße gerichtet hält. Er lässt sich noch für die Antwort Zeit. Dann raunt er völlig überzeugt und seine Stimme klingt noch eine Nuance tiefer als sonst: „Ich wäre heute sowieso nicht gegangen, egal, was du sagst.“

      „Soso!“ Ich lache darüber, muss aber gestehen, dass mich seine bestimmende Art verwirrt. Mir wird klar, Marcel kann auch sehr dickköpfig sein, wenn er etwas will.

      Wir fahren wenig später auf unseren Hof und mein Blick fällt auf den Fachwerkgiebel, den Anbau, in dem sich mein und Julians Schlafzimmer im obersten Stockwerk befinden und gleitet dann zu dem alten Kornspeicher, hinter dem der Garten mit dem Labor liegt. Wie es dort wohl aussieht? Ich stelle mir das Ganze mit Absperrungen und Nummerntafeln, die im Boden stecken, und zertretenem Rasen vor.

      Marcel steigt aus und holt meine Tasche aus dem Kofferraum. Dann hält er mir die Tür auf, als ich keinerlei Anstalt mache, aussteigen zu wollen.

      „Komm!“, raunt er und nimmt meine Hand.

      Ich schiebe mich aus dem Sitz und sehe mich um, als wäre ich noch nie hier gewesen.

      „Wir bringen erst deine Tasche in dein Zimmer. Wenn du willst können wir dann etwas in die Sonne gehen“, meint er, als wäre er hier zu Hause und ich nur Gast.

      Er zieht mich zur Tür. Sie ist nicht abgeschlossen und im Gang kommen uns meine Eltern entgegen.

      „Hallo Carolin. Schön, dass du wieder da bist!“, ruft meine Mutter überschwänglich und nimmt mich in den Arm.

      Ich muss sie daran erinnern, dass sie mich nicht zu sehr drücken darf.

      Mein Vater begrüßt mich nicht weniger überschwänglich. Aber während meine Mutter auch Marcel freundlich entgegentritt, ist mein Vater ihm gegenüber weniger offenherzig. Ich frage mich, was wirklich am Abend zuvor hier los gewesen ist.

      Scheinbar ist mein Vater nicht mehr begeistert von dem jungen Mann, der ihm nun