Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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Weil mein Bruder mich dann umbringen wollte oder so ein Professor mich grillen würde? Es muss mir etwas Besseres einfallen.

      „Ich hatte Angst. Ich war nur einmal da unten und wollte schnell vergessen, was ich dort gefunden habe.“

      Haben Sie etwas aus dem Labor entwendet? Wussten Sie, wer der Tote ist? Woher wussten Sie überhaupt von dem Labor? Fragen über Fragen türmen sich vor mir auf. Ich hatte mir nie im Traum ausmalen können, wie schlimm so ein Verhör werden kann, wenn man eine Menge zu verbergen hat. Ich schliddere, wie auf einer Bobbahn, durch das Frage und Antwort Spiel und bin froh, als es endlich vorbei ist. Ich weiß gar nicht mehr genau, was ich alles gesagt habe und wie sich das alles für solche Polizeibeamte anhören muss. Ich kann nur hoffen, dass ich es soweit zusammenhängend hervorbrachte, dass es auch glaubwürdig klang. Das Einzige, was ich genau weiß, ist, dass ich Julian nur als übermäßig eifersüchtigen Bruder hinstellte, der von seinen Experimenten etwas umnebelt Tim dazu bringen wollte, mich nie wiederzusehen. Dass er das alles nur tat, damit ich mit seinem Freund Marcel zusammenkomme, hört sich in meinen Ohren fast lachhaft an. Julian als heroischen Ritter für die Liebe kämpfend.

      Außerdem gab ich unmissverständlich an, dass ich den Schnitt an meinem Hals mir selbst zuzuschreiben habe, weil ich Julian zwischen die Beine trat. Mehr kann ich für meinen Bruder nicht tun.

      Endlich wird mir der halbe Aufsatz vorgelegt und ich setze meine Unterschrift darunter. Meine Eltern unterschreiben, dass sie Anwesend und mit dem Verhör einverstanden waren.

      Ich bin fix und fertig.

      Als die Männer endlich das Zimmer verlassen, sitzt meine Mutter nur da und starrt vor sich hin. Nach einer Weile setzt sie sich auf und sieht mich an. „Hättest du doch nur Julian nicht getreten, dann wäre das alles nicht so weit gekommen. Und dieser Tim, was wolltest du denn mit dem, dass Julian sich so darüber aufregte?“

      Höre ich richtig?

      „Hätte Julian nicht das Messer an meinen Hals gehalten, wäre das nicht passiert. Und Tim und ich wollten gar nichts. Julian ist einfach nur so ausgerastet“, brumme ich wütend.

      „Was ist das denn auch für eine Geschichte mit diesem Tim? Du hast doch Marcel!“, blubbert sie weiter. „Der ist doch so ein guter Junge.“

      Ich bin echt sprachlos. Was will meine Mutter mir jetzt erzählen? Das alles, was passiert ist, nur Tims und meine Schuld ist und Julian als armes Opfer gilt? Sie hat ja keine Ahnung.

      Ich muss etwas sagen, was meiner Mutter den Mund verschließen wird, aus dem schon wieder die nächste Gemeinheit blubbert.

      „Du hast Julian immer schon wütend ge…“, kommt gerade über ihre Lippen, als ich dazwischenfahre: „Tim ist Julians Bruder. Sie haben den gleichen Vater, der dir ja nicht ganz fremd ist.“

      Meine Mutter starrt mich mit großen Augen an. Auch mein Vater dreht sich zu uns um. Er hatte die ganze Zeit mit zusammengeballten Fäusten am Fenster gestanden. Nun sieht er mich an. „Julian hat seinen eigenen Bruder zusammengeschlagen? Warum?“

      „Er wollte nicht, dass wir uns treffen. Tim ist extra hierhergezogen, um Julian kennenzulernen“, flunkere ich. „Aber Julian mochte ihn nicht und ich habe mich dann um ihn gekümmert. Er ist hier ganz allein. Erst später fand er seinen Vater, der irgendwo hinter Osnabrück lebt.“

      Was für eine rührende Geschichte. Zumindest denke ich, kommt meine Mutter etwas von ihrem „Mein lieber Julian macht doch nichts“ Trip runter.

      „Aber was hat dieser Tim denn gemacht, dass Julian ihn nicht mag?“, versucht sie es dennoch erneut und regt mich dermaßen damit auf, dass meine Wunde am Hals zu pochen beginnt. „Mama, Tim hat nichts gemacht. Julian sitzt im Gefängnis, weil er etwas gemacht hat, verdammt. Wir anderen nicht. Schnall das doch endlich mal!“

      Meine Mutter sieht mich irritiert an und bekommt schon wieder feuchte Augen. Dann wird sie plötzlich rot im Gesicht und brüllt: „Aber als wir in den Urlaub gefahren sind war alles in Ordnung. Ihr müsst etwas gemacht haben!“

      Mein Vater greift nach meiner Mutter und schüttelt sie durch. „Hör auf! Es ist nicht die Schuld von Carolin oder diesem Tim. Keiner kann etwas dafür. Julian ist ausgeflippt und muss nun für seinen Jähzorn geradestehen. Er war schon immer etwas unberechenbar. Denk doch mal nach!“

      Meine Mutter sackt zusammen. Ich will lieber nicht nachfragen, an was sie da im besonderen Denken soll. Mir fällt der Embryo in dem Glas ein und der Finger. Julian wird noch viele unangenehme Fragen zu beantworten haben.

      „Oh, Entschuldige“, fiept meine Mutter plötzlich und lässt sich auf das Bett sinken. Sie zieht mich in ihre Arme und stammelt weinend immer wieder, dass ich ihr verzeihen soll und sie es nicht so gemeint hat. Sie ist vollkommen durch.

      Mein Ärger verfliegt allmählich. Aber ein beißender Nachgeschmack hängt in meinem Hals und in meinem Herzen und in meiner Seele. Was gesagt ist, ist gesagt. Und meine Mutter ist einfach die unfähigste Person der Welt, wenn es um Problembewältigung geht.

      Mein Vater kommt auch zu uns und umarmt uns beide. „Wenn du erst wieder zu Hause bist, wird alles besser.“

      Ich habe eigentlich genug und bin fast entschlossen doch noch hier im Krankenhaus zu bleiben. Langsam drücke ich meine Eltern beiseite, um sie anzusehen. Ich schaue erst in das verheulte Gesicht meiner Mutter und dann in das unglückliche meines Vaters. Immer noch aufgebracht murre ich: „Ich werde morgen Vormittag wahrscheinlich entlassen werden. Marcel holt mich ab.“ Am liebsten hätte ich noch gesagt, dass Tim mich besuchen wird, wann immer er will und ich eine Taschengelderhöhung brauche und einen neuen Fernseher, und das Geld für meinen Führerschein und ein Auto zum achtzehnten Geburtstag. Ich möchte diese miese Stimmung am liebsten richtig ausschlachten, so wütend bin ich.

      „Oh, Marcel. Gut!“, antwortet mein Vater. „Ich werde ihm auch das Spritgeld geben.“

      Was soll das denn jetzt?

      „Das brauchst du nicht. Das macht er auch so.“

      „Er ist so ein lieber Junge“, heult meine Mutter auf wie ein getretener Hund.

      „Und ich möchte, dass ihr jetzt geht. Wir sehen uns morgen dann zu Hause. Ich möchte mich noch ausruhen, damit ich bei der Visite heute Abend fit bin.“

      Das klingt sogar in meinen Ohren etwas zu böse. Aber ich habe mich noch immer nicht von den Anschuldigungen meiner Mutter erholt.

      „Ist gut“, sagt mein Vater nur und steht auf. Meine Mutter zieht er von meiner Bettkante hoch und nimmt sie schon mal einen Schritt beiseite.

      Sie sieht mich traurig an und nickt dann. „Was ich gesagt habe tut mir leid“, jammert sie erneut.

      „Schon gut! Ich will nichts mehr davon hören. Wir reden morgen wieder, wenn ich zu Hause bin“, brumme ich gnadenlos.

      Zwar liegt mir nichts an Gesprächen mit meinen Eltern, aber es soll auch mehr eine Drohung sein. Würde sie je wieder Tim oder mich beschuldigen, an Julians Problemen schuld zu sein, dann werde ich zum Tier. Es gibt nur einen Schuldigen: Kurt Gräbler! Und nach ihm meine Mutter und ihr damaliger Lover … der Vater von Tim und Julian. Schließlich hatten sie ihre Finger nicht voneinander lassen können wie … Tim und ich!

      Der Gedanke sticht mir wie ein Messer in die Eingeweide. Erschrocken denke ich, was dabei herauskommen kann, wenn Tim und ich auch nachgeben.

      Sie gehen und in meinem Inneren wütet immer noch die Erinnerung an die gesagten Worte meiner Mutter, der schlechte Nachgeschmack des Verhöres und die erschreckende Erkenntnis, was Tim und mich betrifft. Ich kann nur hoffen, dass Marcel bald kommt und mich auf andere Gedanken bringt. Er erscheint mir als einziger heller Punkt an meinem persönlichen tiefdunklen Himmel.

      Aber es dauerte noch einen endlosen Nachmittag, an dem mich meine Gedanken fast um den Verstand bringen.

      Als endlich die Tür aufgeht und Marcel hereinkommt, hat er kaum Zeit, es bis auf meine Bettkante zu schaffen. Ich erzähle ihm aufgebracht von dem Verhör und von den Aussprüchen meiner Mutter. Von Tim